V I E R
Am nächsten Morgen brachen Kaelan und Eron im ersten Dämmerlicht auf. Der Wald lag still um sie, nur das sanfte Rauschen der Bäume und das gelegentliche Zwitschern kleiner Vögel durchbrachen die Stille. Kaelan fühlte eine nervöse Erwartung in sich aufsteigen, und immer wieder wanderte ihre Hand unbewusst zum Amulett.
„Halte die Augen offen," sagte Eron, während sie einen schmalen, steinigen Pfad betraten, der in die Höhe führte. „Die Gegend um die Festung wird von alten Kreaturen bewacht. Manche von ihnen sind seit Jahrhunderten hier und reagieren nicht gut auf Fremde."
Kaelan nickte und versuchte, ihre Umgebung genau zu beobachten. Die Bäume wurden allmählich kleiner und wichen dichten Sträuchern, die mit dornigen Ranken überzogen waren. Zwischen den Felsen wuchsen kleine, blutrote Blüten, die im Licht fast glühten. Der Boden war bedeckt von Moos, das bei jedem ihrer Schritte leicht aufleuchtete und bald wieder erlosch.
„Was sind das für Blumen?" fragte Kaelan und deutete auf eine besonders große Blüte, die sich von den anderen abhob.
„Das sind Klagdornen," erklärte Eron. „Wenn jemand die Blüten berührt, geben sie ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich. Das hilft ihnen, Fressfeinde fernzuhalten."
Kaelan warf einen vorsichtigen Blick auf die Blüte und hielt sich von den Klagdornen fern. Der Gedanke, von einer Pflanze angeschrien zu werden, war merkwürdig, aber hier in diesem Wald schien alles anders zu sein.
Sie gingen weiter, bis sie zu einem Hügel kamen, an dessen Spitze sich ein Ausblick bot. Von hier aus konnte Kaelan weit ins Land schauen: Ein endloser Teppich aus Bäumen, durchzogen von glitzernden Flüssen, die wie silberne Fäden zwischen den Wäldern verliefen. In der Ferne ragte eine düstere, zerklüftete Bergkette auf – und dort, hoch oben auf einem Felsplateau, konnte Kaelan die Umrisse einer massiven, dunklen Festung erkennen.
„Das ist Nardûn," sagte Eron, der ihrem Blick folgte. „Der Ort, an dem die alten Königreiche ihre Schätze versteckten."
Kaelan schluckte. Die Festung wirkte bedrückend und düster, selbst aus dieser Entfernung. Es war schwer zu glauben, dass sie schon bald dort sein würde.
„Wir sollten uns beeilen," meinte Eron, als er den Blick von der Festung abwandte. „Das Licht wird bald schwächer, und wir müssen noch das Tal der Wachtfelsen durchqueren, bevor die Nacht einbricht."
Sie folgten dem Pfad weiter, der sich steiler und enger um die Berghänge wand, bis sie schließlich eine felsige Senke erreichten. Der Weg führte durch eine Schlucht, die von massiven, steinernen Säulen gesäumt war – die Wachtfelsen, wie Eron sie genannt hatte. Jede dieser Säulen war mit fremdartigen Symbolen und geschnitzten Gesichtern versehen, die Kaelan mit unheimlicher Präzision anzustarren schienen.
„Was sind das für Gesichter?" fragte Kaelan und spürte ein Frösteln. Die ausdruckslosen Augen der steinernen Gesichter hatten eine seltsam bedrohliche Wirkung.
„Man sagt, dass dies die alten Wächter der Festung sind," erklärte Eron. „Diese Säulen sollen verhindern, dass Unbefugte die Festung betreten."
„Und wir ... sind befugt?" Kaelan war sich dessen nicht so sicher.
„Solange du das Amulett trägst, haben wir eine Chance," antwortete Eron, ohne auf ihre Zweifel einzugehen.
Kaelan nickte und ging vorsichtig weiter, während die Wachtfelsen wie stumme Wachen an ihr vorbeizogen. Plötzlich hörte sie ein leises Knirschen hinter sich. Sie fuhr herum, konnte aber niemanden sehen.
„Was war das?" flüsterte sie zu Eron, der sofort stehenblieb und die Umgebung genau musterte.
„Wir sind nicht allein," sagte er ruhig und zeigte in eine Richtung. „Schau dort."
Zwischen den Schatten der Felsen bewegte sich eine Gestalt. Kaelan erkannte etwas Großes und Behaartes, das sich lautlos durch die Dunkelheit schob. Es schien auf allen Vieren zu gehen, doch es hatte eine unnatürlich lange Schnauze und große, leuchtende Augen, die sie beide fixierten.
„Ein Felswächter," flüsterte Eron und griff instinktiv nach seinem Dolch. „Bleib ruhig. Sie sind auf unsere Anwesenheit aufmerksam geworden, aber sie greifen nur an, wenn wir eine Bedrohung für die Festung darstellen."
Das Wesen blieb stehen, schnupperte in der Luft und ließ ein leises Knurren hören. Kaelan hielt die Luft an und versuchte, jede Bewegung zu vermeiden, während die Kreatur sie weiter beobachtete. Schließlich schien es das Interesse zu verlieren und verschwand wieder zwischen den Felsen.
„Das war knapp," murmelte Kaelan erleichtert und sah Eron an.
„Wir sind noch nicht durch," sagte er und schob sie weiter. „Es gibt noch mehr Felswächter, und sie werden nicht alle so gnädig sein."
Die beiden setzten ihren Weg fort, bis sie die letzte der steinernen Säulen passierten und sich das Tal der Wachtfelsen hinter ihnen erstreckte. Die Festung Nardûn war nun greifbar nah, und Kaelan spürte eine zunehmende Anspannung.
„Wir müssen wachsam bleiben," sagte Eron. „Hinter diesen Mauern liegen Geheimnisse, die das alte Königshaus seit Jahrhunderten beschützt hat. Die Wesen hier spüren das und verteidigen es."
Sie erreichten schließlich die steilen, verwitterten Treppen, die hinauf zur Festung führten. Die Stufen waren rutschig und von Moos überzogen, und Kaelan musste sich an den Felsen festhalten, um nicht auszurutschen. Das alte Gemäuer ragte über ihnen auf, als wäre es eins mit dem Felsen, und es wirkte, als hätte es den Elementen seit Jahrtausenden getrotzt.
Oben angekommen, blickte Kaelan auf das große Tor der Festung. Es war aus schwarzem Stein und von unzähligen Schnitzereien überzogen – seltsame, fremdartige Muster, die sie nicht zu deuten wusste.
„Bereit?" fragte Eron leise, seine Hand auf dem Tor ruhend.
Kaelan nickte, auch wenn sie ihre Unsicherheit spürte. Dann schob Eron das Tor auf, und ein kalter Hauch wehte ihnen entgegen. Das Innere der Festung war dunkel, doch an den Wänden leuchteten vereinzelt Kristalle, die ein schwaches, grünliches Licht verbreiteten. Die Luft war kühl und roch nach Stein und Staub.
„Was genau suchen wir hier?" fragte Kaelan und sah sich um. Das Amulett kribbelte leicht an ihrem Hals, als ob es sie in eine bestimmte Richtung ziehen wollte.
„Das Amulett wird uns leiten," antwortete Eron. „Es gibt einen Raum tief in der Festung, der als das Herz des Königshauses bekannt ist. Man sagt, dass dort die Erinnerungen und die Kräfte der alten Könige versiegelt wurden."
Kaelan fühlte, wie das Amulett an ihrem Hals immer wärmer wurde, als wollte es sie tatsächlich führen. Sie folgte dem Ziehen des Amuletts und trat tiefer in das dunkle Gemäuer, Eron dicht hinter ihr.
Als sie schließlich einen großen Saal erreichten, blieb Kaelan stehen. Der Raum war von massiven Steinsäulen umgeben, und auf einem Podest in der Mitte lag ein alter, abgenutzter Thron. An den Wänden hingen Tapisserien, die längst von der Zeit verblasst waren, und doch konnte Kaelan die Szenen darauf erkennen: Schlachten, Rituale und ein König mit einem leuchtenden Amulett um den Hals – dem gleichen, das nun Kaelan trug.
„Das ist ... das Amulett," flüsterte sie, und ihre Stimme hallte im Raum wider.
„Ja," sagte Eron und trat neben sie, während er die Bilder betrachtete. „Das Amulett des Sturms, das Relikt des alten Königshauses."
Kaelan stand dort und spürte, wie sich ein Schauer über ihren Rücken zog.
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