S I E B E N
Kaelan spürte die Präsenz des Fenryx dicht an ihrer Seite, als sie durch den zunehmend finsteren Wald schritt. Die dichten Bäume warfen lange, gespenstische Schatten, und das Licht der untergehenden Sonne verlor sich in den Nebelschwaden, die vom Boden aufstiegen. Der Fenryx schien sich sicher zu bewegen, schnupperte an der Luft und führte Kaelan mit festen, zielgerichteten Schritten.
Die Erinnerung an Eron, der sie zurückgelassen hatte, um die letzte Etappe allein zu bewältigen, lag schwer auf ihr. Sie war dankbar für die Begleitung des Fenryx, doch die Verantwortung, das Gleichgewicht zu bewahren, lastete auf ihr wie ein unsichtbares Gewicht. Sie legte eine Hand auf das Amulett, dessen warmes Pulsieren ihr ein leises Gefühl der Sicherheit gab.
„Wir schaffen das, oder?" flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu dem Fenryx.
Das Wesen warf ihr einen kurzen Blick zu, seine violetten Augen glühten in der Dunkelheit, als ob es ihre Unsicherheit spürte. Es stieß ein leises Fiepen aus, fast tröstend, und setzte seinen Weg fort.
Nach Stunden des Marschierens lichtete sich der Wald endlich, und vor ihnen erhob sich der Berghang, den Kaelan in ihrer Vision gesehen hatte. Der Pfad hinauf war schmal und steinig, flankiert von Klippen, die in die Tiefe abfielen. Kaelan hielt inne und betrachtete die Burg, die auf dem Gipfel thronte – ihre dunklen Türme ragten bedrohlich in den Himmel, umgeben von pechschwarzen Wolken, die sich träge bewegten, als ob sie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt würden.
„Da ist sie," murmelte Kaelan. „Die Burg aus meiner Vision."
Der Fenryx schnüffelte in der Luft und legte die Ohren an. Kaelan verstand sofort, dass er etwas gespürt hatte, auch wenn sie selbst nichts hören konnte. Sie zog die Schultern hoch und stieg langsam den steilen Pfad hinauf. Jeder Schritt fühlte sich schwerer an, als ob die Luft selbst sie daran hindern wollte, voranzukommen.
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre – die Luft wurde kälter, und ein unheilvolles Flüstern erhob sich aus den Schatten. Kaelan blieb stehen, das Amulett an ihrem Hals begann heftig zu pulsieren, als wollte es sie warnen. Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen.
„Wer ist da?" rief sie mit fester Stimme, auch wenn ihr Herz schneller schlug.
Das Flüstern verstummte, nur um von einem tiefen, knurrenden Geräusch abgelöst zu werden. Aus der Dunkelheit tauchten drei Gestalten auf – lang, hager und mit leuchtend roten Augen, die sie fixierten. Ihre Haut war aschgrau, und sie bewegten sich in unnatürlichen, ruckartigen Bewegungen. Kaelan spürte, wie der Fenryx sich vor sie stellte, das Fell auf seinem Rücken aufgestellt, während ein drohendes Knurren aus seiner Kehle drang.
„Schattenwächter," flüsterte sie, als die Wesen näher kamen. Sie erinnerte sich an die Geschichten, die Eron ihr erzählt hatte – Kreaturen, die geschaffen wurden, um die dunklen Mächte zu schützen und Eindringlinge zu vertreiben.
Eines der Wesen machte einen Satz nach vorn, doch der Fenryx sprang ihm entgegen, seine Klauen blitzten im schwachen Licht auf. Das Wesen wich aus, während die anderen beiden Kaelan ins Visier nahmen. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen, doch das Amulett pulsierte so stark, dass sie es fast schmerzte. Sie spürte, dass es sie aufforderte, etwas zu tun.
Kaelan hob die Hand und konzentrierte sich. „Licht ... ich brauche Licht," flüsterte sie, ohne genau zu wissen, warum.
Plötzlich brach ein gleißender Lichtstrahl aus dem Amulett hervor und durchbrach die Dunkelheit. Die Schattenwächter kreischten schrill und zogen sich zurück, als das Licht ihre Körper traf. Einer von ihnen löste sich in schwarzen Rauch auf, die anderen beiden flohen in die Finsternis.
Kaelan atmete schwer und ließ ihre Hand sinken. Das Licht des Amuletts verblasste, und die Nacht schien noch dunkler zu werden. Der Fenryx kehrte an ihre Seite zurück, unversehrt, doch seine Augen suchten die Umgebung wachsam ab.
„Danke," flüsterte sie zu ihm, und das Wesen stieß ein kurzes, zufriedenes Brummen aus.
Sie setzte ihren Weg fort, bis sie schließlich das Tor der Burg erreichte. Die schweren Flügel waren mit dichten Ranken überwuchert, die sich wie Schlangen bewegten, als Kaelan näherkam. Sie zögerte, doch das Amulett pulsierte erneut, und sie spürte, dass sie weitermachen musste.
Mit zitternden Händen berührte sie die Ranken. Sie zogen sich zurück, als ob sie das Amulett spürten, und das Tor öffnete sich mit einem tiefen, knarrenden Geräusch. Dahinter lag ein langer Gang, dessen Wände von leuchtenden Kristallen gesäumt waren, ähnlich denen in der Festung Nardûn, doch ihr Licht war blass und kühl.
Kaelan trat ein, der Fenryx dicht an ihrer Seite. Die Stille war überwältigend, und jeder ihrer Schritte hallte durch die leeren Hallen. Das Amulett führte sie weiter, bis sie einen großen Saal erreichte. In der Mitte des Raumes stand ein Podest, und darauf ruhte eine seltsam geformte Klinge, deren Klinge in einem tiefen Schwarz schimmerte, durchzogen von pulsierenden violetten Adern.
Kaelan spürte, dass dies der nächste Schlüssel war – ein weiteres Relikt der Rufer, das auf sie wartete. Doch als sie sich dem Podest näherte, wurde die Luft plötzlich schwer, und eine dunkle Gestalt materialisierte sich vor ihr.
„Du wagst es, hier einzudringen," sagte die Gestalt mit einer Stimme, die wie Eis durch den Raum schnitt. „Das Erbe der Rufer ist nicht für dich bestimmt."
Kaelan erstarrte, doch der Fenryx stellte sich schützend vor sie, seine Klauen bereit. Das Amulett pulsierte heftiger denn je, und Kaelan wusste, dass dies der Moment war, in dem sie beweisen musste, dass sie das Gleichgewicht wahren konnte.
Sie ballte die Hände zu Fäusten, stellte sich aufrecht hin und sagte: „Ich bin die Ruferin des Sturms. Ich werde das Gleichgewicht schützen – mit oder ohne deine Erlaubnis."
Die Gestalt lachte, ein kaltes, hämisches Geräusch. „Dann zeige, dass du es wert bist."
Kaelan spürte, wie die Energie des Amuletts sich in ihr sammelte, bereit, sich der Dunkelheit zu stellen.
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