S E C H S

Kaelan und Eron marschierten durch das Dickicht des Waldes zurück in Richtung Festung. Die Luft war erfüllt vom Rascheln der Blätter und dem leisen Zirpen seltsamer Insekten, deren leuchtend orange Augenpaare im Schatten aufblitzten. Jeder Schritt führte sie tiefer in das Herz des Waldes, der sich zunehmend veränderte: Die Bäume wurden größer, ihre Stämme breiter und von einer schimmernden Moosschicht überzogen, die im schwachen Licht fast wie flüssiges Silber aussah.

Plötzlich blieb Kaelan stehen und spähte aufmerksam in die Dunkelheit zwischen den Bäumen. Ein merkwürdiges Geräusch – halb Knurren, halb Fiepen – hallte aus einem Gebüsch in ihrer Nähe.

„Hast du das gehört?" flüsterte Kaelan, das Amulett an ihrem Hals kribbelte, als ob es sie warnen wollte.

Eron legte eine Hand auf sein Schwert und nickte langsam. „Ja. Sei bereit."

Das Knurren kam näher, und Kaelan spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Dann brach plötzlich ein Wesen aus dem Gebüsch hervor und blieb keuchend vor ihnen stehen.

Kaelan blinzelte und betrachtete die Kreatur genauer. Sie war etwa kniehoch und hatte ein fellartiges, dunkelblaues Fell, das in einigen Lichtwinkeln grünlich schimmerte. Der Kopf war unverkennbar wolfartig, doch die Augen waren riesig und von einem intensiven Violett, und seine Pfoten waren mit geschuppten Klauen bedeckt. Als das Wesen Kaelan erblickte, setzte es sich hin und beobachtete sie – fast, als würde es sie einschätzen.

„Was ist das?" flüsterte sie.

„Das ist ein Fenryx," murmelte Eron und ließ die Hand von seinem Schwert sinken. „Ein mystisches Wesen. Sie sind selten und sehr intelligent. Man sagt, sie wählen ihre Begleiter selbst aus."

Kaelan kniete sich vorsichtig hin und streckte eine Hand nach dem Fenryx aus. „Hallo, kleiner Kerl," sagte sie leise, um es nicht zu verschrecken. Zu ihrer Überraschung näherte sich das Wesen, schnüffelte vorsichtig an ihrer Hand und leckte sie schließlich mit seiner rauen, kalten Zunge ab.

„Ich glaube, er hat dich akzeptiert," sagte Eron und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Kaelan spürte eine unerwartete Wärme in sich aufsteigen. „Er scheint tatsächlich keine Angst zu haben. Aber warum hat er uns verfolgt?"

Der Fenryx begann, leise knurrend zu „sprechen" und wedelte mit dem buschigen Schweif, der mit schuppigen Schuppen überzogen war. Die tiefen Augen schienen direkt in ihre Seele zu blicken, als ob das Wesen in ihr etwas erkannt hätte.

„Sieh dir das Amulett an," sagte Eron und deutete darauf.

Kaelan folgte seinem Blick und sah, dass ihr Amulett einen schwachen, violetten Schein ausstrahlte – die gleiche Farbe wie die Augen des Fenryx. Es war, als ob eine unsichtbare Verbindung zwischen ihr und der Kreatur bestand.

„Vielleicht wird er uns weiterführen," überlegte Eron laut. „Oder er hat gespürt, dass du ihn brauchst."

Der Fenryx schnüffelte erneut an ihrem Amulett, und in diesem Moment sah Kaelan ein Bild vor ihrem inneren Auge: einen steilen Berghang, auf dessen Spitze eine mächtige Burg thront, die von dunklen Wolken umgeben war. Kaelan zuckte zurück, als das Bild verschwand, doch der Fenryx beobachtete sie weiterhin aufmerksam.

„Hast du etwas gesehen?" fragte Eron ernst.

Kaelan nickte. „Ja. Es war, als hätte er mir etwas gezeigt – einen Berg, auf dessen Gipfel eine Burg steht. Sie war von dunklen Wolken umgeben ... als ob dort etwas Böses lauert."

Der Fenryx erhob sich und bewegte sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann drehte er sich um und blickte sie auffordernd an, als wollte er sagen: „Folgt mir."

„Ich glaube, er möchte, dass wir ihm folgen," sagte Kaelan und stand entschlossen auf.

Sie gingen dem Fenryx hinterher, der sich flink und leise durch das Unterholz bewegte, als hätte er den Wald schon tausendmal durchstreift. Er führte sie sicher an dornigen Büschen und tief hängenden Ästen vorbei, immer tiefer in den dichten Wald hinein. Schließlich kamen sie zu einer versteckten Lichtung, auf der ein alter Baum stand, der sich in seltsame Richtungen bog. Ein kleiner Wasserlauf schlängelte sich um die Wurzeln herum und verschwand in einem dunklen Erdloch.

„Was ist das für ein Ort?" fragte Kaelan.

„Ein heiliger Ort," sagte Eron leise und betrachtete die Wurzeln des Baumes, die von seltsam leuchtenden Pilzen überwuchert waren. „Die alten Rufer kamen hierher, um ihre Kräfte zu stärken. Vielleicht fühlt der Fenryx sich deshalb so verbunden zu dir."

Der Fenryx stellte sich vor den Baum und scharrte mit seinen Krallen im Boden, als würde er auf etwas warten.

Kaelan trat näher an den Baum heran und legte die Hand auf seine raue Rinde. Sie spürte, wie das Amulett erneut warm wurde und ein vertrautes Kribbeln durch ihren Arm zog. Sie schloss die Augen, und sofort wurde ihr Geist von einer Flut an Bildern überrollt: Sie sah dieselbe Burg wie zuvor, doch dieses Mal war die Sicht klarer. Dunkle Gestalten huschten durch die Ruinen der Burg, und ein schwerer Nebel lag über allem. Eine tiefe Stimme in ihrem Kopf flüsterte: „Das Gleichgewicht muss gewahrt bleiben ..."

Als Kaelan die Augen öffnete, war sie wieder auf der Lichtung. Eron beobachtete sie aufmerksam, während der Fenryx sich an ihre Seite schmiegte.

„Die Burg ... sie ist real," flüsterte Kaelan, während das Bild der dunklen Türme vor ihrem inneren Auge immer noch nachhallte. „Etwas Böses wartet dort, ich habe es gespürt."

Eron nickte langsam, sein Blick war ernst. „Ja, das stimmt," sagte er schließlich. „Aber dieses Ziel musst du allein erreichen, Kaelan."

„Was?" Kaelan sah ihn überrascht an. „Du willst, dass ich ... alleine gehe?"

Eron hielt ihrem Blick stand und legte eine Hand beruhigend auf ihre Schulter. „Ich werde nicht weit von dir entfernt sein."

Kaelan fühlte, wie eine Welle des Zweifels in ihr aufstieg. „Aber was, wenn ich scheitere? Was, wenn ich ..."

„Deshalb ist der Fenryx hier." Eron nickte zu dem kleinen, mystischen Wesen an ihrer Seite, das sie aufmerksam beobachtete, als würde es ihre Unsicherheit spüren. „Er wird dich auf deinem Weg begleiten. Fenryxe wählen ihre Begleiter nicht ohne Grund. Er kennt die Geheimnisse des Waldes, kann dich führen und beschützen, wenn die Zeit kommt."

Kaelan blickte auf den Fenryx hinunter, der sich jetzt enger an sie drückte, seine Augen schienen tief und unendlich weise. Die leuchtenden, violetten Augen des Fenryx strahlten etwas Vertrautes aus, fast wie eine stumme Zusicherung.

„Also gut," sagte Kaelan langsam, während sie die Hand sanft auf das weiche Fell des Fenryx legte. „Ich werde gehen. Aber ... wenn ich dich brauche, wirst du da sein, oder?" Sie richtete den Blick auf Eron, die Zweifel in ihren Augen blieben jedoch.

Eron lächelte leicht. „Ich werde immer in deiner Nähe sein, Kaelan, aber du musst lernen, auf deine eigenen Kräfte zu vertrauen. Und auf die Verbindung, die du zur Magie der Rufer hast."

Kaelan nahm einen tiefen Atemzug und nickte schließlich. „Dann werde ich gehen." Sie sah auf das Amulett um ihren Hals, das leicht in ihrer Handfläche pulsierte, als ob es ihre Entschlossenheit bestärken wollte.

„Möge das Licht der alten Rufer mit dir sein, Kaelan," sagte Eron leise und verneigte sich leicht. „Und erinnere dich, der Fenryx ist nicht nur ein Begleiter. Er ist ein Verbündeter, dem du vertrauen kannst."

Kaelan strich dem Fenryx sanft über den Kopf, spürte die sanfte Wärme des kleinen Körpers und nahm ihre Furcht einen Moment beiseite. Dann wandte sie sich entschlossen in Richtung der Burg und schritt los –der Fenryx lief dicht an ihrer Seite, seine Augen wachsam und bereit.

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