F Ü N F

Kaelan stand im Herzstück der Festung Nardûn, die kühle Luft roch nach Stein und Staub, und ein schwaches, grünliches Licht tanzte um die Wände. Sie versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen, doch die Szenen auf den Tapisserien an den Wänden faszinierten und beunruhigten sie gleichzeitig. Sie sah darauf Krieger und Geister, die Seite an Seite gegen schwarze Bestien kämpften, und in ihren Händen leuchteten Waffen, wie sie noch nie zuvor gesehen hatte – Schwerter, deren Klingen in einem blauen Feuer brannten, und Bögen, die wie aus lebendigem Licht bestanden.

„Das sind die alten Rufer," murmelte Eron, als er Kaelans Blick folgte. „Jene, die vor dir das Gleichgewicht hielten. Der letzte ihrer Linie verschwand vor Jahrhunderten – niemand weiß, wohin."

„Und jetzt bin ich ... die Letzte?" fragte Kaelan und spürte das Gewicht des Amuletts an ihrem Hals. Es war plötzlich warm geworden, als ob es auf ihre Gedanken reagieren würde.

„Das scheint so," antwortete Eron und sah sie ernst an. „Doch wir sind noch nicht fertig hier. Es gibt einen Ort tief unter der Festung, das alte Verlies, das die Rufer als ihren Rückzugsort nutzten. Wenn es noch irgendetwas gibt, das dir hilft, deine Kräfte zu verstehen, dann dort."

Kaelan nickte und folgte Eron, während er sie in ein schmaleres Treppenhaus führte. Die Stufen waren feucht und glitschig, und das einzige Licht kam von den kleinen Kristallen in den Wänden, die ein sanftes grünes Leuchten verbreiteten. Die Kälte kroch ihr unter die Haut, und das Echo ihrer Schritte hallte in der Stille.

Nach einigen Minuten standen sie vor einer großen, metallenen Tür, auf der das Symbol des Amuletts eingraviert war. Kaelan legte die Hand darauf, und sofort begann die Tür leise zu knarren und schob sich langsam auf. Dahinter lag eine lange, dunkle Halle, die in eine tiefe Stille gehüllt war.

Im Raum selbst war kaum etwas zu erkennen, doch an den Wänden waren steinerne Altäre mit alten Artefakten aufgereiht. Kaelan trat vorsichtig näher, ihre Augen weiteten sich bei dem Anblick eines schwarzen Schildes, der mit einer Schicht rötlichen Lichts überzogen war.

„Diese Artefakte wurden von den Rufern geschaffen," erklärte Eron, während er eine uralte Schrifttafel auf einem der Altäre betrachtete. „Jeder Gegenstand enthält eine Fähigkeit, die nur von einem Rufer aktiviert werden kann."

„Und wie weiß ich, was ich tun soll?" Kaelan spürte eine Mischung aus Neugier und Unsicherheit.

„Das Amulett wird es dir zeigen," sagte Eron und sah sie eindringlich an. „Leg deine Hand darauf und versuche, es mit deiner Energie zu verbinden."

Kaelan nahm einen tiefen Atemzug, streckte die Hand aus und legte sie vorsichtig auf das Amulett. Sie spürte das vertraute Kribbeln, das durch ihren Körper zog, und konzentrierte sich auf den Schild vor ihr. Plötzlich flackerte das Licht in den Kristallen an den Wänden, und der Raum erfüllte sich mit einem leisen Summen, als das Amulett hell aufleuchtete.

Der Schild begann, sich zu bewegen. Er erhob sich leicht in die Luft und wirbelte langsam, als würde er auf sie warten. Ohne weiter nachzudenken, griff Kaelan nach dem Schild und spürte eine plötzliche Kälte, die von ihren Fingern bis zu ihrem Arm kroch. Das Licht des Schildes wurde intensiver, und auf einmal hatte sie eine Vision – sie sah den Wald, in dem sie aufgewacht war, doch die Bäume waren tot, die Flüsse ausgetrocknet, und der Himmel war ein finsteres Rot.

„Was ... was passiert hier?" Sie stolperte zurück und ließ den Schild los.

„Das ist eine Warnung," erklärte Eron ernst. „Das Gleichgewicht ist gefährdet. Wenn die Dunkelheit erstarkt, wird sie alles Leben auslöschen, so wie du es gesehen hast."

Kaelan fühlte, wie ein Schauer über ihren Rücken lief. Plötzlich ertönte ein tiefes, knurrendes Geräusch aus der Dunkelheit hinter ihnen. Sie fuhr herum, ihr Herz schlug heftig. Ein Paar gelber Augen leuchtete aus dem Schatten auf und kam langsam näher. Ein Wesen mit geschwungenen Hörnern und einem schuppigen Körper trat ins Licht. Es sah aus wie eine Mischung aus Wolf und Reptil, und seine Zähne blitzten in der Dunkelheit.

„Ein Schattenpirscher," flüsterte Eron und zog sein Schwert. „Diese Kreaturen spüren magische Energie und kommen von weit her, um sie zu verschlingen."

Kaelan wich einen Schritt zurück, während Eron sich in Kampfhaltung begab. Der Schattenpirscher ließ ein kehliges Brüllen ertönen und sprang auf Eron zu. Er wich zur Seite aus und schlug mit seinem Schwert zu, doch die Klinge prallte an den harten Schuppen des Wesens ab.

„Kaelan! Das Amulett – es könnte helfen!" rief Eron, während er sich abmühte, das Wesen auf Distanz zu halten.

Kaelan spürte, wie das Amulett an ihrem Hals zu pulsieren begann, als ob es sie aufforderte, es zu benutzen. Sie konzentrierte sich darauf und stellte sich vor, wie das Licht aus ihm herausfloss. Tatsächlich begann das Amulett zu leuchten, und sie streckte die Hand aus.

Ein gleißender Lichtstrahl schoss aus dem Amulett und traf den Schattenpirscher. Das Wesen schrie auf, seine Schuppen schienen im Licht zu schmelzen, und nach einem letzten, gequälten Aufschrei löste es sich in einer schwarzen Rauchwolke auf, die sich langsam verflüchtigte.

Kaelan stand keuchend da, unfähig zu begreifen, was gerade passiert war.

„Sehr gut gemacht," sagte Eron und steckte sein Schwert wieder ein. „Deine Kräfte erwachen schneller, als ich erwartet habe."

„Ich ... ich wusste nicht, dass ich so etwas kann," stammelte Kaelan und betrachtete das Amulett an ihrem Hals, das nun wieder in seinem normalen, matten Goldton schimmerte.

„Deine Verbindung zur alten Magie ist stärker als bei den Rufern vor dir. Aber damit wächst auch die Verantwortung, das Gleichgewicht zu bewahren. Dies war nur ein kleiner Schattenpirscher – es wird mächtigere Wesen geben, die sich dir in den Weg stellen werden."

Kaelan nickte langsam. Die Vision, die sie zuvor gesehen hatte, war ihr noch immer präsent – das verdorrte Land, der rote Himmel. Ein Teil von ihr wollte diese Last ablegen und einfach weglaufen, aber das Amulett ließ sie spüren, dass dies der Weg war, den sie gehen musste.

„Also, was tun wir als Nächstes?" fragte sie entschlossen und richtete den Blick auf den Wald.

„Wir kehren zur Hütte zurück und bereiten uns auf die Schatten vor," antwortete Eron zuversichtlich.

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