E L F
Der Fenryx lief dicht an Kaelans Seite, während sie tiefer in den verwobenen Wald eindrang. Die Luft war kühl, und die seltsamen Geräusche der magischen Welt um sie herum wurden leiser, gedämpft wie ein Flüstern, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Die Bäume, die sie umgaben, waren anders als alles, was sie bisher gesehen hatte: Ihre Stämme waren silbrig-transparent, fast wie aus Glas, und in ihnen bewegten sich schwach leuchtende Adern, die an das pulsierende Licht ihres Amuletts erinnerten.
„Das muss der Flüsterhain sein," murmelte Kaelan, während sie stehen blieb, um die Umgebung auf sich wirken zu lassen.
Der Fenryx spitzte die Ohren, seine violetten Augen suchten wachsam die Gegend ab. Kaelan spürte seine Anspannung, als wüsste er, dass dieser Ort mehr war als ein einfacher Wald.
Kaelan setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als plötzlich die Flüstergeräusche intensiver wurden. Es war kein gewöhnliches Flüstern – es waren klare Stimmen, die sie mit einer Mischung aus Dringlichkeit und Sanftmut riefen.
„Kaelan ... Ruferin ... das Gleichgewicht ..."
Die Stimmen schienen aus den Bäumen selbst zu kommen, und das Amulett an ihrem Hals begann stärker zu pulsieren. Kaelan fühlte sich, als ob sie Teil eines lebenden, atmenden Netzwerks wurde, das sie durchdrang und zu verstehen versuchte.
„Wer seid ihr?" fragte sie laut, ihre Stimme hallte in dem stillen Hain wider. „Was wollt ihr von mir?"
Die Stimmen schienen sich zu vereinen, zu einer einzigen tiefen, sanften Stimme, die sprach: „Wir sind die Flüsterer der Wälder, die Bewahrer der alten Magie. Wir haben auf dich gewartet, Kaelan, Ruferin des Sturms."
Kaelan spürte, wie sich ein Schauer über ihren Rücken zog. Diese Wesen – was auch immer sie waren – kannten sie und ihre Rolle. „Was soll ich tun?" fragte sie leise, das Amulett fest in ihrer Hand umklammert.
„Du trägst das Amulett und die Klinge," antwortete die Stimme. „Doch die Dunkelheit wird nicht durch Stärke allein besiegt. Du musst den Kern des Gleichgewichts erreichen – den Weltenbaum."
Kaelan runzelte die Stirn. „Der Weltenbaum? Wo ist er?"
Die leuchtenden Adern in den Bäumen schienen heller zu werden, als die Stimme antwortete: „Er liegt jenseits des Flüsterhains, geschützt von Prüfungen, die nur die wahre Ruferin bestehen kann. Folge den Pfaden, die wir dir zeigen."
Plötzlich veränderte sich der Boden unter Kaelans Füßen. Die weiche, mit Moos bedeckte Erde wurde klarer, und ein schmaler Pfad aus leuchtenden Steinen formte sich vor ihr. Der Fenryx gab ein leises Geräusch von sich, als ob er sie drängen wollte, diesem Weg zu folgen.
Kaelan nahm einen tiefen Atemzug und ging los. Die Stimmen wurden leiser, doch sie spürte ihre Präsenz weiterhin, als ob der gesamte Hain sie beobachtete. Die Bäume neigten sich leicht in ihre Richtung, ihre durchscheinenden Stämme reflektierten das schwache Licht der Umgebung und gaben dem Ort ein fast surreales Gefühl.
Nach einiger Zeit erreichte Kaelan eine große Lichtung, in deren Mitte ein steinerner Kreis lag. Der Boden innerhalb des Kreises war mit Runen bedeckt, die in einem sanften Blau leuchteten. Am Rand der Lichtung stand eine massive Gestalt – ein Wesen aus Holz und Stein, das aussah, als wäre es aus dem Hain selbst gewachsen. Seine Augen glühten in einem tiefen Grün, und seine massigen Arme ruhten an seiner Seite.
„Was ist das?" flüsterte Kaelan und blieb stehen. Der Fenryx stellte sich neben sie, seine Haltung angespannt.
Die Stimme der Flüsterer erklang erneut: „Dies ist der Hüter des Hains. Nur wer würdig ist, darf weitergehen."
Kaelan trat zögernd in den steinernen Kreis, und sofort erwachte die Gestalt zum Leben. Der Hüter erhob sich und blickte sie eindringlich an. Seine tiefe Stimme hallte durch die Lichtung: „Kaelan, Ruferin des Sturms. Zeige mir, dass du das Gleichgewicht verstehst, das du zu bewahren suchst."
Kaelan spürte, wie das Amulett sich erhitzte, als der Hüter einen Arm hob. Aus dem Boden erhoben sich plötzlich zwei weitere Gestalten, geformt aus Licht und Schatten. Sie sahen aus wie Spiegelbilder von Kaelan – eine aus blendendem Licht, die andere aus tiefster Dunkelheit.
„Das Gleichgewicht liegt zwischen Licht und Schatten," sagte der Hüter. „Beweise, dass du beide Kräfte vereinen kannst."
Die beiden Gestalten bewegten sich auf Kaelan zu, jede von ihnen eine Bedrohung für sich. Die Lichtgestalt schleuderte strahlende Energie in ihre Richtung, während die Schattenfigur mit wirbelnder Dunkelheit auf sie zustürmte.
Kaelan wich zurück, die Klinge in ihrer Hand bereit. Sie wusste, dass dies nicht allein durch Kampf gelöst werden konnte. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Amulett. Die Wärme breitete sich aus, und sie spürte, wie ihre eigene Energie die Kräfte von Licht und Schatten zu gleichen Teilen durchströmte.
„Ich bin weder nur Licht noch nur Schatten," sagte Kaelan laut. „Ich bin das Gleichgewicht, und ich werde beide vereinen."
Das Amulett begann in einem intensiven Goldton zu leuchten, und die Klinge vibrierte in ihrer Hand. Mit einer einzigen Bewegung stieß sie die Spitze der Klinge in den Boden des Kreises, und ein heller Lichtstrahl schoss nach oben. Die Licht- und Schattenfiguren wurden von dem Strahl erfasst und verschmolzen, bis sie sich in einem sanften, goldenen Leuchten auflösten.
Der Hüter trat vor, seine massiven Arme senkten sich, und er verbeugte sich leicht vor Kaelan. „Du hast die Prüfung bestanden. Du bist wahrhaft die Ruferin des Sturms."
Die Stimme der Flüsterer erklang erneut: „Gehe nun weiter, Kaelan. Der Weg zum Weltenbaum liegt vor dir."
Kaelan spürte eine Mischung aus Erleichterung und Erschöpfung, doch sie wusste, dass ihr Ziel noch weit entfernt war. Der Fenryx sprang leichtfüßig an ihre Seite und stieß ein sanftes Geräusch aus, das sie antrieb, weiterzugehen.
„Der Weltenbaum," murmelte Kaelan und blickte auf den Pfad, der sich vor ihr öffnete. „Ich werde ihn finden – und das Gleichgewicht bewahren."
Mit jedem Schritt durch den Flüsterhain spürte sie, wie die Welt um sie herum lebendiger wurde, als ob sie selbst Teil des großen Gefüges war, das sie zu schützen geschworen hatte.
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