E I N S

Kaelan schlug die Augen auf und wurde von einem Gefühl der Kälte und Dunkelheit umhüllt. Nebelschwaden zogen wie lebendige Schlangen über den Boden und schienen sich um ihre Beine zu wickeln. Der Boden unter ihr war feucht und roch nach Moder, ein schwerer, erdiger Geruch, der sie in die Gegenwart zurückzog. Sie konnte sich kaum erinnern, wie sie hierhergekommen war – oder an irgendetwas davor.

Ihr Herz klopfte, als sie aufstand und sich umsah.

Um sie herum erstreckte sich ein endlos wirkender Wald, dessen Bäume hoch und knorrig waren, ihre Äste wie gierige Finger in die Luft gereckt. Die Blätter waren dunkelviolett und schimmerten in einer Art unheimlichem Blau, das sich im Nebel verlor. Kaelan war sich sicher, so etwas noch nie gesehen zu haben – zumindest, wenn sie sich an irgendetwas erinnern könnte.

Sie legte eine Hand an ihren Hals, spürte das Amulett, das an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Es war die einzige Konstante in diesem Moment, ein vertrauter, schwerer Gegenstand, der irgendwie wichtig schien, auch wenn sie nicht wusste, warum. Das Amulett fühlte sich warm an, als würde es lebendig pulsieren.

Kaelan sah sich weiter um. Sie war nicht allein im Wald, zumindest nicht, wenn man die Geräusche zählte. Hinter den dichten Bäumen hörte sie ein Rascheln, gefolgt von tiefem Grollen. Dann, plötzlich, ein kreischender Laut, hoch und schrill, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie wich instinktiv einen Schritt zurück, doch ihre Füße stießen gegen etwas Weiches. Sie blickte nach unten und entdeckte einen runden, pilzartigen Teppich, dessen Ränder schwach grünlich leuchteten.

„Faszinierend ... und auch irgendwie unheimlich," murmelte sie und kniete sich vorsichtig hin, um die Pilze genauer zu betrachten. Sie wirkten, als hätten sie Augen, die sich in ihre Richtung zu wenden schienen, obwohl sie das für unmöglich hielt. Die Luft war dick und schwer zu atmen, als wäre sie mit irgendetwas gefüllt.

Kaelan hörte plötzlich Schritte – oder zumindest etwas, das wie Schritte klang, nur dumpfer und schwerer, als würde sich ein Tier oder eine Kreatur durch das Dickicht bewegen. Sie erstarrte und spähte in die Richtung des Geräuschs. Da! Zwischen den Stämmen konnte sie eine massive Gestalt erkennen, die sich langsam näherte. Ihre Haut kribbelte vor Angst und Vorfreude zugleich, während sie sich langsam aufrichtete und ihr bräunliches Kleid glattstrich, die Silhouette nicht aus den Augen lassend.

Aus dem Nebel tauchte ein Wesen auf, das sie noch nie zuvor gesehen hatte: ein Tier, das einem Wolf ähnelte, aber größer war und schuppige Haut besaß, die im schwachen Licht bläulich glänzte. Statt eines normalen Mauls hatte es etwas, das wie eine verlängerte Schnauze aussah, mit scharfen, gezackten Zähnen. Ein Zischen entkam seiner Kehle, als es Kaelan entdeckte und stehen blieb.

„Ruhig ... ganz ruhig," flüsterte sie und hoffte, das Wesen würde sie nicht als Bedrohung sehen. Doch ihre Worte schienen das Tier nur neugieriger zu machen. Es trat ein paar Schritte näher, beschnupperte die Luft und starrte sie mit großen, gelb glühenden Augen an. Kaelan hielt den Atem an und tastete nach einem Ast oder Stein, falls sie sich verteidigen musste.

„Bitte ... geh einfach weiter," murmelte sie leise, doch das Wesen schien nicht daran zu denken, sich zu entfernen. Stattdessen senkte es den Kopf und ließ ein knurrendes, warnendes Geräusch erklingen, das ihr die Ohren füllte.

Plötzlich rauschte etwas von oben herab. Ein großer Schatten stürzte sich auf das Tier, eine Art Vogel mit Flügeln, die wie riesige, schwarze Blätter aussahen. Die Kreatur stieß ein gequältes Jaulen aus und rannte davon, verfolgt von dem vogelähnlichen Wesen. Kaelan nutzte die Gelegenheit, sich schnell aus der Nähe der großen Bäume zu entfernen und einen sicheren Ort zu finden.

Während sie sich durch das Dickicht bewegte, bemerkte sie immer mehr fremdartige Details in diesem seltsamen Wald. Hier und da wuchsen riesige Blüten in Farben, die fast schmerzhaft intensiv waren: ein leuchtendes Rot, das fast zu brennen schien, ein tiefes Blau, das wie das Meer in einer mondlosen Nacht wirkte. Und überall waren diese unheimlich glühenden Pilze, die sich wie kleine Lichter entlang des Bodens ausbreiteten.

Nach einer Weile entdeckte Kaelan eine kleine Lichtung, die von einem merkwürdig friedlichen Gefühl erfüllt war. Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und ließ die Hände über das Amulett gleiten. Was hatte es mit diesem seltsamen Ding auf sich? Warum trug sie es? Und vor allem: Warum war sie hier?

Sie hörte das Knistern von Zweigen und wandte sich um. Aus dem Schatten trat eine Gestalt hervor – ein Mann, hager und mit einer seltsamen, runenähnlichen Bemalung auf den Armen und im Gesicht. Sein Blick war ernst und durchdringend, und als er sie ansah, hielt er inne und starrte sie an.

„Du trägst das Amulett," sagte er mit einer Stimme, die alt und vertraut zugleich klang. „Das bedeutet, dass du auserwählt bist."

Kaelan starrte ihn verwirrt an. „Auserwählt? Für was?" Ihre Stimme zitterte.

„Für das, was kommen wird," erwiderte er, ohne zu erklären, was das bedeutete. „Es ist Zeit, dass du dich an das erinnerst, was dir genommen wurde."

Er trat näher, und Kaelan fühlte sich seltsam beruhigt, als er die Hand ausstreckte und ihr das Amulett berührte. Ein Schwarm von Bildern rauschte durch ihren Kopf: ein goldenes Licht, die Silhouette eines Turms, eine Frau mit einem seltsam vertrauten Lächeln. Doch genauso schnell wie die Bilder gekommen waren, verschwanden sie wieder.

„Komm mit mir," sagte der Mann leise. „Es gibt vieles, was du lernen musst, und wenig Zeit, es zu verstehen."

Kaelan zögerte nur einen Moment, bevor sie nickte. Was immer auch der Mann von ihr wollte – es war sicher besser, als alleine durch diesen unheimlichen Wald zu irren. Und irgendwo tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dieser Mann Antworten hatte auf all die Fragen, die in ihrem Kopf wucherten.

Mit einem letzten Blick auf die glühenden Pilze und den Nebel, der den Wald verschlang, folgte Kaelan ihrem geheimnisvollen Führer.

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