Malte

Mutlos. Mutlos und kraftlos.

So fühlte ich mich, als unten die Türe ins Schloss gezogen wurde. Das Tablett stand unberührt auf meinem Nachttisch. Mir war der Hunger vergangen.

Ich überlegte, was ich jetzt am besten tun sollte, als ich ein Schreien aus dem Zimmer neben mir vernahm. Ich stöhnte auf. Malte. Als mir Mum vorhin zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, hatte sie mich darum gebeten ein Auge auf meinen kleinen Bruder zu haben.

Ich lief schnell in das Schlafzimmer meiner Eltern zu der kleinen Wiege auf Rollen, in der er sich wie ein Regenwurm, der ungewollt an die Erdoberfläche geraten ist, wand. Ich nahm ihn behutsam auf den Arm und strich ihm über den blonden Haarflaum auf seinem Kopf. Er sah typisch schwedisch aus mit seinen meeresblauen Augen, die jedes Mal anfingen zu strahlen, wenn man ihn hochnahm und sich mit ihm um die eigene Achse drehte. Ich gab ihm einen Kuss auf seine freche Nasenspitze und wiegte ihn in meinem Arm, bis er sich beruhigt hatte.

Plötzlich schrak ich hoch, denn ich glaubte unten etwas gehört zu haben. Ich lief mit dem Baby auf dem Arm zur Treppe und horchte. Stille. Dann fiel eine Tür ins Schloss. Ich merkte wie sich mein Puls beschleunigte und sich meine Finger automatisch fester um Maltes winzigen Körper schlossen.

„Wer ist da?", fragte ich mit zittriger Stimme und kam mir im nächsten Moment total dämlich vor. Wen erwartete ich denn? Dachte ich etwa ein Einbrecher verschaffte sich gerade am helllichten Tag Zutritt zu unserem Haus? Nein, wirklich, das war doch völlig absurd.

Aber ich merkte, dass sich irgendetwas in mir seit Freitagmorgen geändert hatte. Mein Gehirn schien immer noch nicht die erhofften Ufer erreicht zu haben, warum ich auch ständig mit diesem Gefühl von Schwindel zu kämpfen hatte. Und es ließ sich auch nicht abstreiten, dass ich die ganze Zeit so ein flaues Gefühl im Magen verspürte als rechnete ich stets mit dem Schlimmsten.

„Leah, ich bin's doch nur, Linny!", drang jetzt die Stimme meiner Schwester zu mir herauf. Ich atmete erleichtert auf.

„Du bist schon da? Ich hab gedacht du und Tessa, ihr wolltet nach eurer Pyjamaparty noch zusammen ins Kino?", fragte ich, während sich meine Finger langsam wieder entspannten.

Linny kam jetzt, die Übernachtungstasche über der Schulter, die Treppe lässig nach oben geschlendert und streichelte Malte über seinen blonden Haarschopf. Und sowieso schien Linny stets cool zu bleiben, während ich das reinste Nervenbündel war. Davon sollte ich mir unbedingt mal eine Scheibe abschneiden, um in Zukunft solche hysterischen Anfällen zu vermeiden.

„Hatten wir ja auch eigentlich vor, aber Tessa musste dann unverhofft bei ihrer Oma vorbei und ihr im Haushalt helfen, weil die sich den Knöchel verstaucht hat.", erklärte Linny jetzt, wobei sie sich mit den Fingern durch ihre Locken kämmte.

„Wo ist eigentlich Mum?", fragte sie dann.

„Musste heute wegen irgendeinem wichtigen Kunden nochmal ins Büro.", sagte ich und fügte hinzu: „Geht anscheinend um viel Geld."

Meine Schwester verdrehte genervt die Augen und ging dann an mir vorbei in ihr Zimmer, das am Ende des Flurs lag. Ich lief ihr mit Malte auf dem Arm hinterher.

„Warte mal!", rief ich ihr nach und folgte ihr in ihr Zimmer. Dort angekommen ließ ich mit meinem kleinen Bruder auf das lila Sitzkissen plumpsen, das sich rechts neben dem Bücherregal befand. Linny war eigentlich kein großer Bücherfan im Gegensatz zu mir, der so ziemlich jedes Buch verschlang, das mir in die Quere kam. Dafür war sie der absolute Krimifreak und Thrillertyp, was ihr Bücherregal unmissverständlich zur Schau stellte.

„Also...", begann ich zögerlich. „Ich glaub, dass da irgendetwas im Busch ist.", stieß ich dann hervor.

„Ja, ich glaub ja auch, dass da so einiges im Busch ist.", gab mir Linny Recht und hatte schon wieder dieses verschmitzte Grinsen im Gesicht.

„Linny! Ich meine es ernst. Gestern Nachmittag muss ich irgendwie eingeschlafen sein und da habe ich schwach ein Klingeln wahrgenommen, konnte aber nicht zuordnen woher es kam und dann bin ich heute Nacht aufgewacht mit dem Gefühl, dass irgendetwas passiert ist, aber ich kann mich nicht mehr erinnern."

Sie legte die Stirn in Falten und schien nachzudenken.

„Und du glaubst jetzt, dass Mum deswegen ins Büro geflüchtet ist?", schlussfolgerte sie. Ich zog überrascht die Brauen nach oben.

„Ja genau, und dann bringt sie mir heute auch noch Frühstück ans Bett. Auch total untypisch. Findest du nicht auch?", fragte ich sie aufgeregt.

„Stimmt", fand auch Linny. Sie hatte sich auf ihr Himmelbett gesetzt und rutschte jetzt nervös hin und her. Dann klatschte sie entschlossen in die Hände und sprang auf.

„Leah, du und ich, wir zwei sind immer noch Detektive! Schon vergessen? Wir kommen hinter jedes Geheimnis und das werden wir auch diesmal. Versprochen." Dann streckte sie entschlossen Zeige-und Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe.

„Ich schwöre."

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Habt ihr auch kleine Brüder, die euch das Gefühl geben in Sicherheit zu sein, obwohl sie viel schwächer wirken als ihr selbst?

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