12 - Die Heldin aus Marmor
Ziellos ging sie durch die Menge. Es hatte sie nach Lutejan gezogen. Zur Vergewisserung, aus Neugierde oder aus welchem Grund auch immer. Doch nun da sie dort war, kam sie sich vor wie ein winzig kleines Schiff, das über hoch schwappende Wellen schaukelte ohne zu wissen wohin die Strömung es zwingen würde. Ein Zuhause hatte sie nie wirklich gehabt. Und selbst wenn, wäre es nach einhundert Jahren wohl kaum noch dasselbe gewesen. Sollte sie sich an den Hexenrat wenden? Doch um was zu sagen? Und wo wäre er zu finden? Sollte sie sich eine Arbeit suchen und bemühen zu vergessen? Ioanne hatte nie etwas anderes getan als die auf gebürgte Pflicht einer Sklavin zu verrichten oder Krieg zu führen. Zumal vergessen ihr erschien wie eine Unmöglichkeit.
Ihr neues Leben. Ihr falsches Leben... Es war ein Fluch.
Ioanne bewegte sich mit einer kleinen Gruppe quasselnder Frauen, die sie auf einen Platz mit fein säuberlich in Kreisformen ausgerichteten Pflastersteinen trieben. Sie hatten aufgeregt durcheinandergesprochen und von der Begeisterung über die anstehenden Feierlichkeiten gezwitschert. Die Frau des Schäfers, hatte ebenfalls etwas angesprochen. Ein Jubiläum der Zerstörung, die sie als Befreiung bezeichneten.
Auf dem Boden, neben einer Laterne, lag ein ineinander gestapelter Haufen Papier. Alles beschrieben mit dicht an dicht gesetzten Buchstaben. Druckmaschinen und Flugblätter hatte es damals schon gegeben. Aber das hier erinnerte mehr an ein schmales gefaltetes Buch ohne Bindung oder Umschlag. Nur war es achtlos zur Seite geworfen worden. Schuhabdrücke befleckten die oberen Seiten. Es war Dreck. Unbeachtet, weggeworfen, vergessen. Ihre Aufmerksamkeit zog es dennoch auch sich, denn sie erkannte einen Namen darauf. Ihren Namen.
Vorsichtig hob sie die beschriebenen Papiere vom Boden auf und schüttelte sie, um einen Teil des Straßendrecks davon herunter fallen zu lassen. Ohne große Scheu, strich sie zusätzlich mit der freien Hand darüber. Sie runzelte die Stirn. Zu Lesen hatte sie spät und nie allzu ausführlich gelernt. Sie war in der Lage dazu, aber langsam. Diese Buchstaben hatten einen ungewohnten Schwung und machten es ihr nicht wirklich einfacher. Konzentriert versuchte sie mehr zu erkennen. Ihr Name stand tatsächlich dort. Größer als die anderen Worte.
Eine Erinnerung an Ioanne, die Heldin unseres Reiches.
Ihr wurde schwindelig. Sie blinzelte, senkte das Papier und hob es dann wieder an, um weiterzulesen. Eine an ihr vorbeiziehende Gruppe, unterbrach sie allerdings. Fast wurde sie angerempelt. Jemand entschuldigte sich im Vorbeigehen. Der intensive Duft verschiedener Blumen strich um ihre Nase und schien um ihr Kinn zu streifen wie verführerische Finger. Ihr Kopf drehte sich wie von selbst um den Menschen hinter her zu sehen.
Sie alle trugen kleine oder auch größere bunte Sträuße auf den Armen. In fast zeremonieller Achtsamkeit legten sie die Blumen zu vielen anderen unter den Sockel einer großen Statue aus Marmor, die im Zentrum des Platzes stand. Erwachsene und Kinder. Erst blickten sie ernst, dann sahen sie hinauf und ein Strahlen trat in ihre Gesichter.
Ioanne hob den Kopf wie sie, um zu sehen, was diese Menschen so sehr begeisterte. Weißer Marmor präsentierte eine mindestens zwei Personen große aufrecht stehende Frau. Sie richtete einen stolzen, entschlossenen Blick in unbekannte Ferne und stand in einer Haltung als würde sie jeden Moment von ihrem Sockel herab steigen, um voran zu marschieren. In einer Hand hielt sie einen Strauß Rosen mit fein herausgearbeiteten spitzen Stacheln. In der anderen umschlossen ihre Finger den Griff eines schmalen Schwertes, dessen Spitze neben ihr in den Boden gerammt war und um das sich stilisierte Flammen wanden. Sie schien eine Kriegerin darzustellen, allerdings trug sie ein langes, wie vom Wind bewegtes und dann erstarrtes Kleid. Nur über dem Brustkorb lag etwas, dass an eine Panzerung erinnerte. Wieder prangte dort das Zeichen, dass auch die Uniformierten in der Stadt auf ihrer Brust präsentierten.
Auf irgendeine Weise, meinte sie, würde die Gestalt sie an jemanden erinnern. Oder hatte sie nur bereits eine ähnliche gesehen? War sie bereits dort gewesen, als das alte Lutejan noch stand? Hatten sie das Symbol der Rebellen erst nachträglich aufgetragen?
„Fräulein", kam es von der Seite und die Stimme eines Mannes riss sie aus ihren Gedanken. „Er lächelte breit. Unter einem Arm hielt er einen großen Stapel der schmalen Bücher ohne Bindung. Nur waren seine sauber und ohne Schuhabdrücke.
„Ihre Zeitung ist von gestern. Wären Sie an der heutigen Ausgabe interessiert?" Er zog ein Exemplar ganz oben von seinem Stapel herunter und hielt es in ihre Richtung. „Es kam ganz frisch rein. Ein neuer Sieg an einer der Fronten und die Höchste des Rates scheint dieses Jahr wieder persönlich an dem Jubiläum zu erscheinen. Zwei Lirev und Sie können alles darüber lesen!"
Auffordernd sah er sie an.
Lirev... war das die Art, mit der man inzwischen bezahlte? Sie wusste weder ob zwei davon viel waren oder nicht. Noch, wie diese Währung überhaupt aussah. Allerdings sagte er Dinge die sie weiter interessierten. Krieg an mehreren Fronten? Davon hatte auch das Ehepaar gesprochen. Und wer war die Höchste des Rates? Des Hexenrates?
„Das Jubiläum...", begann sie. Es rutschte zögernd und zäh über ihre Zunge als wäre das Wort ihr schrecklich fremd.
Eifrig nickte er bereits.
„Dieses Jahr soll es besonders groß werden!" Sein Blick glitt fort von ihr zu der Statue, dann wieder auf sie. „Auf Seite drei steht ein ausführlicher Bericht der..." Er stockte. Das breite Lachen verschwand nicht aus seinen Zügen, doch etwas zuckte kurz irritiert durch sein Gesicht. Diesmal sah er rasch zwischen ihr und der Statue hin und her.
„Oh bemerkenswert!", stellte er fest und gluckste amüsiert.
Ioanne runzelte die Stirn. „Was ist bemerkenswert?"
„Nun die Ähnlichkeit." Er deutete mit der Zeitung in der Hand hinauf zu der Marmorstatue. „Man könnte fast meinen, Sie hätten Model dafür gestanden."
Verwirrt sah sie selbst noch einmal hinauf zu der kalten, erhabenen Gestalt. Das Haar war zurückgebunden und der Künstler hatte sich Mühe gegeben feine geflochtene Strähnen aus dem harten Material heraus zu arbeiten. Sie erschien festlicher als Ioanne es je gewesen war. Sauberer, ordentlicher und sicherlich auch sehr viel beeindruckender.
Ihr Blick rückte zur Seite. Wenige Schritte neben ihr befand sich ein kleiner Stand, der Kerzen und Gebilde aus gefärbtem Glas zum Kauf anbot. Sie bewegte sich daneben und betrachtete ihr eigenes Gesicht durch die rot schimmernde Spiegelung eines ausgestellten Windspiels. Im sachten Klimpern erkannte sie eine Frau, die nichts von jener auf dem Sockel hatte und doch den selben Schwung in den Augenbrauen trug. Dieselbe schlanke Nase, das selbe spitze Kinn mit der verbissenen Strenge um den Mund herum.
Der eifrige Zeitungsverkäufer war ihr gefolgt. Noch immer schien ihn die Ähnlichkeit prächtig zu amüsieren.
„Wer ist das?", verlangte sie zu wissen und hob die Hand, um auf die Marmorgestalt zu deuten.
Überrascht hob er die Augenbrauen.
„Seid Ihr nicht von hier? Ich dachte jede Stadt hätte mindestens eine ihrer Statuen." Er zuckte mit den Schultern und drehte sich, um so stolz als wäre er selbst der Künstler gewesen hinauf zu blicken. „Nun, diese hier ist aber auch wirklich die Größte. Das ist Ioanne, die Heldin unserer wundervollen Heimat. Wenn Sie die Zeitung kaufen, dann..." Verwundert erkannte er, dass die fleischgewordene Doppelgängerin verschwunden war. Einfach aufgelöst wie eine Illusion. Wie vom Wind verwehter Nebel. Blinzelnd rieb er sich die Augen. Erzählten die Legenden nicht, dass sie einst ganz ähnlich aus der Welt gerutscht sei? Wie ein Geist, ein Racheengel der Freiheit, den die Götter gesandt und wieder zu sich gerufen hatten. Und nun erschien sie einer Vision gleich zu Füßen ihres marmornen Ebenbilds.
Der Zeitungsverkäufer schüttelte noch ein Weilchen verwundert den Kopf. Dass die Frau, die ihm erschienen war mit verstörtem Gesichtsausdruck wieder hineingesunken war in die Menge und orientierungslos in eine der weniger belaufenen Seitengassen glitt, hatte er nicht bemerkt. Dafür war es allerdings einer anderen Gestalt aufgefallen. Ein Schatten folgte Ioanne, noch während sie sich die Schläfen rieb und zwischen hohen Häuserwänden tiefer in die Winkel der fremden Stadt sickerte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top