9. Buon compleanno!
Ohne das Tagebuch gibt es nicht mehr viel, womit ich mich beschäftigen kann und die Langeweile der italienischen Kleinstadt holt mich ein. Die restlichen Tage des Sommers gleiten unscharf an mir vorbei und sind unerträglich heiß.
Oft sitze ich in unserem Wohnzimmer und lese. Nicht das Tagebuch, sondern Romane. Zur Mittagszeit schaue ich dann bei meinen Großeltern vorbei, esse etwas, helfe ein bisschen im Restaurant aus oder telefoniere danach mit Maddie. Eigentlich wollte ich mir einen Nebenjob besorgen, aber wo auch immer ich nachfrage, in Eisdielen, Souvenirshops, in Lebensmittelmärkten, bei der Hafenreinigung, alle sind schon ausnahmslos für den Sommer voll besetzt. Also gibt es wohl keine Arbeit und kein Geld für mich. Abends, wenn die Temperaturen unter dreißig Grad sinken und es langsam dunkel wird, gehe ich manchmal ein bisschen joggen.
Der Sport lenkt mich ab und tut nicht nur meinem Körper, sondern auch meinem Wohlbefinden extrem gut. Am liebsten würde ich schwimmen, aber ich bin dabei gerne allein, was sich bei dem überfüllten Badestrand als schwierig herausstellt.
Kate macht das bunte Treiben gar nichts aus. Über den Sommer hinweg schließt sie dutzende internationale Freundschaften und auch mit den italienischen Jugendlichen, die im Herbst dieselbe Schule besuchen werden wie wir, versteht sie sich prächtig.
Wer mich in diesem Sommer jedoch besonders überrascht, ist Mum. Im Laufe der Wochen blüht sie regelrecht auf und unternimmt sogar etwas mit Kate und mir. Sie lässt sich zum Beispiel auf ein Volleyballspiel mit Kates neuen Freund:innen, eine Bootstour, eine kleine Wanderung an der Küste und einen Kurzausflug nach Sienna und Volterra ein. So viel haben wir in den letzten Jahren nicht zusammen unternommen.
Eines Nachmittags helfe ich meinen Großeltern, das Restaurant zu putzen. Danach setze ich mich noch schnell an den Computer im Büro meiner Großeltern und berichte Maddie im Chat gerade von unserem letzten Ausflug. Internet haben wir zu Hause leider immer noch nicht, aber laut Grandpa dauert es nicht mehr lang, bis wir einen Wlan-Router bekommen werden. Plötzlich nehme ich aus den Augenwinkeln ein Blinken in meinem Email-Postfach wahr, das mir eine neue Nachricht im Posteingang signalisiert.
Schnell tippe ich die letzten Sätze meiner Nachricht an Maddie in den Computer und drücke auf senden. Danach schaue ich sofort, wer mir soeben geschrieben hat. Die neue Mail in meinem Posteingang ist von Jeremy. Das ist typisch Jeremy. Er schreibt meistens Emails. Andere Kommunikationskanäle nutzt er eigentlich kaum.
Mit zitternden Fingern und pochendem Herzen drücke ich auf Öffnen. Ich bin so gespannt auf das, was er schreibt, dass ich beinahe völlig vergesse zu atmen.
Liebste Brionny. Dieses altmodische Englisch ist typisch für ihn. Trotzdem werde ich aus der Anrede nicht schlau. Vermisst er mich oder macht er sich lustig über mich? Mein Herz hofft: ersteres, mein Verstand sagt: zweites.
Wir alle vermissen dich schrecklich und wünschten uns, dass uns nicht der Ärmelkanal und die Alpen voneinander trennten. Besonders im Schwimmteam hast du eine große Lücke hinterlassen.
Hallo? Geht's noch? Als ob es allein auf meine Leistungen im Schwimmen ankommt? Und wer ist „wir"? Etwa er und die anderen aus dem Schwimmteam? Ich muss mich regelrecht zum Weiterlesen zwingen. Am liebsten hätte ich auf das kleine, rote X in der Ecke geklickt.
Wir möchten, dass du weißt, dass das Training ohne dich nur halb so viel Spaß macht und hoffen, dass du nach diesem Jahr wieder nach Großbritannien ziehst, um in London zu studieren, so wie es immer dein sehnlichster Herzenswunsch war.
So wie es immer dein sehnlichster Herzenswunsch war? Macht er sich etwa lustig über mich?
Ich schreibe dir nun, um dich zu informieren, dass ich ein Abnehmer für die Linkin-Park-Konzertkarten im September gefunden habe. Ich werde dir das Geld dafür schnellstmöglich überweisen.
Stimmt. Als wir noch zusammen waren, hat Jeremy für uns beide Konzertkarten für Linkin Park besorgt. Das Konzert sollte dieses Jahr im September stattfinden. Das habe ich fast schon vergessen. Hingegangen wäre ich wahrscheinlich sowieso nicht. Ich bin ja jetzt hier, in Italien.
Diese grässliche Mail wird jedoch von der Briefunterschrift noch übertrumpft.
Mit freundlichen Grüßen, Jeremy Vane.
Als würde er eine Bewerbung unterzeichnen. Als ginge es ums Geschäft, um eine unangenehme Pflicht, die eben erledigt werden muss. Ich kenne nur einen Jeremy. Was also soll der Nachname?
Wäre das ein Brief gewesen, hätte ich ihn zerknüllt, ins Feuer geworfen und zugesehen, wie die Flammen die Wörter auffressen, die Jeremy so miserabel und ohne jedes Gefühl aneinander gereiht hat.
„Dein Freund ist ein ziemlicher Idiot. Wie alt ist er? Mindestens 40, so wie er schreibt", höre ich eine Stimme hinter mir sagen. Erschrocken wirbele ich herum und sehe Lucca mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Büro stehen. Er ist mir so nah, dass er die Mail des Grauens vermutlich über meine Schultern mitgelesen hat. Auch jetzt heftet er den Blick gierig auf den Bildschirm, während seine Augen von Zeile zu Zeile huschen.
Schnell schließe ich die Nachricht. „Das ist privat. Was willst du hier?", fauche ich ihn an.
„Ich warte auf meine Gehaltsabrechnung", erklärt er mit spöttischem Grinsen, „aber da deine Großeltern scheinbar gerade nicht hier sind, werde ich wohl später noch einmal kommen müssen."
„Tu das." Mehr bringe ich nicht heraus. Mir ist übel. Das ertrage ich nicht. Wenn Lucca jetzt einen seiner dummen Kommentare loslässt, kann ich mich nicht mal verteidigen. Zum Glück dreht er sich jedoch um und stolziert in Richtung Tür. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er gerade einen Sieg über mich errungen hat. Langsam, fast schon in Zeitlupe greift er nach der Klinke und dreht sich dann aber noch mal zu mir um.
„Ganz ehrlich, du tust mir leid. Wenn ich mit einem Typen zusammen wäre, der mir solche Mails schreibt, wäre ich auch so verbittert wie du."
Wamm! Diese Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. Die Sätze klingen in meinen Ohren, selbst nachdem Lucca schon lange verschwunden ist.
In dem Moment weiß ich nicht, auf wen ich wütender sein soll. Auf Jeremy oder auf Lucca. Letztendlich entscheide ich mich für Jeremy, da ich in einer Antwort auf seine Mail meinen ganzen Ärger rauslassen kann.
Nein, mein allerliebster Jeremy, tippe ich in den Computer. Dabei hacken meine Finger regelrecht aufden Tasten herum. Ich werde nicht in London studieren. Also stehen die Chancen ziemlich gut, dass ich das Glück habe, dich nie wieder zu sehen. Überweis mir einfach das Geld. Dann sind wir quitt. Du Idiot.
Die letzten zwei Worte lösche ich wieder, da sie mich zu sehr an Lucca erinnern. Dann setze ich noch ein knappes Brionny unter die Mail und schicke sie ab.
Ganz ehrlich, von Jeremy will ich nie, nie, nie wieder irgendwas wissen. Und von Lucca auch nicht, der mich triumphierend auf dem Flur vor dem Büro erwartet. Hastig stürme ich an ihm vorbei und sehe ihn nicht an, damit meine Laune nicht noch tiefer sinkt.
~
Am letzten Freitag in den Ferien, dem neunundzwanzigsten August, habe ich Geburtstag. Für den Abend haben meine Großeltern ihre Bekannten und ein paar entfernte Verwandte eingeladen, mit denen sie im Garten hinter ihrem Restaurant gemütlich beisammen sitzen wollen. Bei dem Gedanke daran, meinen Geburtstag mit so vielen Fremden zu feiern, wird mir unwohl zumute. Doch als ich das bei meiner Großmutter anspreche, wirkt sie so enttäuscht, dass ich wie bei der weiteren Partyplanung einfach gewähren lasse. Wer weiß, vielleicht bringt mich eine Geburtstagsfeier ja meinen Großeltern etwas näher.
Der Morgen des neunundzwanzigsten August fängt auf jeden Fall schon mal gut an. Geweckt werde ich von einem leise gesungenen „Happy Birthday" und dem Geruch nach Schokolade.
Sofort schlage ich die Augen auf und sehe Kates rundes, strahlendes Gesicht vor mir. „Alles, alles Liebe zum Geburtstag", trällert sie, sobald sie bemerkt, dass ich wach bin und drückt mich so fest, dass mir die Luft wegbliebt. Keuchend streiche ich meiner Schwester über den Rücken. „Danke", antworte ich tonlos, da Kate mich nach wie vor fest umklammert.
„Die ist für dich", sagt sie und hält mir einen Teller entgegen, auf dem eine zweistöckige Schokotorte steht. Sie ist mit jeder Menge Herzen aus Marzipan verziert und Kate hat mit Zuckerguss schwungvoll eine achtzehn auf die Glasur geschrieben.
Das ist absolut fantastisch! Ich liebe Schokotorte über alles! Und dann auch noch Marzipan. Kate hat meinen Geschmack echt auf den Punkt getroffen. Diese Torte wird ein Traum, das weiß ich jetzt schon.
„Sieht nach einem guten Frühstück aus", grinse ich. Zusammen bringen wir die Torte nach unten, wo wir uns erst mal an den Küchentisch setzten. Vorsichtig schneidet Kate die Torte an. Wir essen jede drei Stücke, bevor uns der Appetit schlagartig verlässt und wir uns satt, aber mit aufgeblähten Bäuchen auf den Stühlen zurücklehnen.
Der Geschmack von längst vergangenen Geburtstagsfeiern erfüllt meinen Mund. Kate ist einfach wunderbar. Sie kocht nicht nur, sondern backt jedes Jahr an meinem Geburtstag eine Torte. Als Ausgleich dafür gehe ich an ihrem Geburtstag mit ihr essen.
Nach dem Frühstück führt Kate mich mit verbundenen Augen ins Wohnzimmer. „Wozu ist das denn nötig?", will ich von meiner Schwester wissen.
„Ja", zwitschert Kate, „ich konnte dein Geschenk nicht mehr verpacken und ich will nicht, dass du es sofort siehst."
Ohje. Was hat sie sich diesmal einfallen lassen? Bei Geburtstagsgeschenken übertrifft sie sich immer selbst. „Drei...zwei...eins", zählt sie von oben runter, dann löst sie den Knoten des Tuches, das sie mir um den Kopf gebunden hat.
Völlig verdattert blinzele ich in die Helligkeit und nehme das dunkel eingerichtete Wohnzimmer erst nur verschwommen wahr. Dann jedoch werden die Schemen zu Konturen und schließlich entdecke ich ein Gemälde, das auf dem Sofa steht. Es zeigt den Brighton Pier. Weiß und hell hebt sich das Gebäude von seiner eintönigen, grauen Umgebung ab.
Für einen Moment verliere ich mich in dem Bild. Es ist, als könnte ich das Salz des Meeres auf meiner Zunge schmecken, als hörte ich die Möwen kreischen. Ich sehe deutlich, wie sich die grauen Wolken über dem dunklen Ozean zu einem monströsen Gebilde auftürmen und ich sehe noch mehr. Die wettergegerbte, raue Landschaft, die Wind und Regen trotzt. England. Meine Heimat.
„Oh Kate!", flüstere ich vollkommen begeistert und gerührt, „das ist wundervoll, danke!"
Vorsichtig berühre ich die Leinwand und die weichen Farben, die sich hubbelig gegen meine Finger schmiegen. Dieses Bild muss ich unbedingt in meinem Zimmer aufhängen. Es ist etwas ganz Besonderes. So wie meine Schwester.
Hastig laufe ich auf Kate zu und umarme sie erneut. Es gibt niemanden, der so genau weiß, was ich brauche, wie sie. „Es gefällt dir also wirklich?", will sie wissen. In ihren Augen glitzern Tränen, so sehr freut sie sich darüber, mir ein Geschenk zu machen.
„Das ist das Beste, was ich je bekommen hab", gestehe ich, „du bist eine wundervolle Künstlerin. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Leute gibt, die dafür richtig viel hinblättern würden."
„Ehrlich?"
„Ja." Sie weiß, dass ich das nicht einfach nur sage, um ihr mit einem Kompliment Freude zu bereiten, sondern dass ich das auch wirklich denke.
Den Vormittag verbringen Kate und ich auf dem Sofa vor dem Fernseher. Zwischenzeitlich skype ich mit Maddie und sie versichert mir, dass sie ein Päckchen per Luftpost losgeschickt hat, das in den nächsten Tagen irgendwann ankommen muss. Außerdem sind heute dutzende Nachrichten und Anrufe von meinen Freunden eingetrudelt. Jeremy hat ein ganz förmliches „Happy Birthday" auf meiner Pinnwand in Facebook hinterlassen. Auf Facebook. Als ob das irgendjemanden interessieren würde. Ohne Smileys oder ein Satzzeichen. „Pure Öffentlichkeitsarbeit", meint Kate dazu und schnaubt abfällig. In diesem Punkt stimme ich mit meiner Schwester überein.
Nachdem die Sonne ihren Zenit überschritten hat, machen Kate und ich in der Mittagshitze einen kleinen Spaziergang durch die Stadt, von dem wir nassgeschwitzt zurückkehren. Wieder zu Hause springen wir daher zuerst unter die kalte Dusche und kümmern uns dann ausgiebig um unsere Körperpflege. Ich erlaube Kate sogar, mir die Haare zu glätten. Dann schminken wir uns gemeinsam. Was meine Garderobe für den Abend angeht, bestehe ich jedoch darauf, ein einfaches schwarzes Kleid mit dazu passenden schwarzen Sandalen anzuziehen.
Da die Party um sieben Uhr abends, steigen soll, gehen wir um kurz vor sieben zum Restaurant meiner Großeltern. Im Restaurant selbst herrscht reger Betrieb, um den sich Lucca als Kellner an diesem Abend ganz allein kümmern muss.
Fast hätte er mir deshalb leid getan, doch meine Empathie für ihn hält sich in Grenzen. Vor allem, weil er mir zur Begrüßung einen vernichtenden Blick zuwirft. Er bedient gerade einen Tisch, an dem vier Jugendliche in unserem Alter sitzen. Auch sie starren mich hasserfüllt an. Eine Gänsehaut stellt sich auf meinem Unterarm auf. Gruselig, diese Leute.
Schnell husche ich mit Kate durch den Schankraum und auf den Tresen zu, hinter dem Nonna und Grandpa stehen. „Buon compleanno!", kreischt Nonna, als sie mich sieht und schmatzt einen feuchten Kuss auf meine Wange.
„Grazie, Nonna", nuschele ich, nachdem ich mich aus ihrem festen Griff befreit habe.
Mein Großvater steht lächelnd neben ihr, zeigt sich jedoch nicht so offen wie sie. Er schüttelt nur leicht meine Hand und meint: „Happy Birthday!"
„Danke."
„Wollen wir in den Garten gehen, Liebes?", fragt Nonna und umklammert wieder meinen Arm. Bevor ich die Gelegenheit bekomme, zu antworten, schleift sie mich auch schon hinter sich her durch den schmalen Flur, der in den Garten führt. Bereits hier höre ich die lauten, aufgeregten Stimmen ihrer schwatzenden Freund:innen.
„Wir haben einen besonderen Gast für dich eingeladen", kichert sie, „er wird dir bestimmt gefallen." Ein ungutes Gefühl macht sich in meinem Magen breit, denn was Nonna gefällt, das finde ich meist schrecklich. So viel konnte ich in den letzten paar Wochen schon herausfinden.
„Meine Enkelin, Brionna!", ruft Nonna stolz, kaum dass wir über die Türschwelle zum Garten getreten sind. Augenblicklich werde ich von mindestens zehn lachenden, alten Omis umringt, die mich alle herzlich umarmen wollen.
Mein Atem stockt. Nicht so viele fremde Leute auf einmal! Und bitte auch weniger Nähe! Ich habe mich noch nie in Menschenmengen wohl gefühlt. Allein der Gedanke an eng aneinander gequetschte Leiber löst bei mir Magenschmerzen aus. Bei Konzertbesuchen stehe ich deshalb lieber hinten und am Rand der Menge und selbst die Londoner U-Bahn benutze ich sehr ungern zu Zeiten der Rushhour.
Eine besonders schmächtige Frau umarmt mich liebevoll und flüstert mir ein kehliges: „Buon compleanno!" ins Ohr, als ich ihn plötzlich entdecke.
Einen jungen Mann, der mir den Rücken zudreht. Seine schmale, aber trotzdem muskulöse Gestalt zeichnet sich deutlich unter seinem Hemd ab. Das leuchtend blonde Haar, trägt er vorn etwas länger und hinten kurz. Wie derzeit so viele Schauspieler. Trotzdem erkenne diese Frisur und ich kenne auch diesen muskulösen Rücken. Mehr als mir lieb ist.
„Jeremy!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top