7. Holpriger Neuanfang

Als ich am nächsten Morgen aufwache, werde ich von stehender Hitze umgeben. Mein Gesicht glüht und meine Muskeln sind zu träge, um sich zu bewegen. Immer wieder drifte ich in eine Halbschlafphase ab, in der ich die Silhouette einer jungen Frau vor mir sehe, die vor den Toren einer Universität steht oder am Schreibtisch sitzt und in ihrem Tagebuch schreibt. Es ist, als wären wir auf irgendeine Weise miteinander verbunden und trotzdem ist sie mir so fremd wie meine Großeltern.

Nur langsam quäle ich mich nach einer dieser Halbschlafphasen von der Matratze hoch. Heftig schüttele ich mit dem Kopf. So ein Unsinn! Mein erster Gang führt ins Bad, wo ich mich noch im Nachthemd unter die kalte Dusche stelle, bis ich mich wieder lebendig fühle und die Hitze und seltsamen Gefühle aus meinen Gliedern vertrieben habe.

Danach statte ich meinem Zimmer einen kurzen Besuch ab, aber nur, um die Klapprolläden und das Fenster zu schließen. Dabei fällt mein Blick auf das Buch, das ich gestern gefunden habe. Bei Tageslicht wirkt es ganz anders als nachts. Erst jetzt entdecke ich die brüchigen Risse im Leder des Einbands und lose Seiten.

Die Neugier packt mich. Ich würde gerne weiterlesen, aber in dem Moment ertönt eine schrille Klingel. Erschrocken zucke ich zusammen. Was ist zur Hölle ist das denn? Welch ein schreckliches Geräusch!

Als das Klingeln kurz darauf noch mal erschallt, wird mir klar, dass jemand an der Haustür steht und läutet. Hoffentlich lässt sich dieser Klingelton ändern. Oder wir dürfen einfach nicht zu viel Besuch bekommen.

Mit schnellen Schritten stolpere ich die schmalen Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Grandpa hat gestern Abend gesagt, er würde heute vorbeikommen und uns beim Zusammenbauen der Möbel und dem Auspacken der Umzugskartons helfen. Ohne ihn wären wir, was das angeht, ziemlich verloren. Mum macht sich nicht viel aus Möbeln und Kate und ich können das Haus niemals ganz alleine einrichten. Außerdem stehen in Kates Zimmer im ersten Stock noch jede Menge alte Möbel der Vorbesitzer:innen dieses Hauses, die dringend aussortiert und entsorgt werden müssen.

Im Erdgeschoss angekommen, stelle ich fest, dass Mum scheinbar nicht zu Hause ist und dass Kate, die Langschläferin, noch im Bett liegt, denn bis jetzt hat niemand die Tür geöffnet.

Ein drittes ohrenbetäubendes Klingeln lässt mich zusammenzucken. „Ich komme doch!", brülle ich, stürze zur Tür und reiße sie ruckartig auf.

Vor mir steht jedoch nicht mein Großvater, sondern Lucca. Er trägt Jeans und T-Shirt, so wie gestern. „Hi." Er lächelt verlegen. Seine Augen fahren automatisch meinen Körper von oben nach unten ab, als würde er mich kritisch mustern.

Langsam wandert nun auch mein Blick an meinem Körper herunter. Ich stecke noch in dem weißen Nachthemd. Von meiner kalten Morgendusche ist der Stoff so nass, dass er wie eine zweite Haut an meinem Körper klebt. Dadurch ist das, was das Nachthemd sonst vollkommen versteckt, auf einmal perfekt sichtbar.

Erschrocken klappt meine Kinnlade hinunter. Scheiße, daran hab ich gar nicht gedacht.

Sofort schlage ich die Tür vor Luccas Nase zu. Nein, nein, nein. Bitte lass das nicht wahr sein! Ich spüre seine Blicke immer noch auf meiner Haut. Am liebsten hätte ich mich verkrochen.

Pfeilschnell schieße ich die Treppen zu meinem Zimmer hoch und reiße auf der Suche nach etwas zum Anziehen meinen Koffer auf. Da klingelt es schon wieder. Steht Lucca etwa immer noch vor der Tür? Hoffentlich nicht. Er soll einfach verschwinden.

Hastig angele ich mir einen Slip, ein schwarzes Top und cremefarbene Shorts, die ich sofort überziehe, nachdem ich mich aus dem Nachthemd geschält habe. Weiter unten in der Wohnung höre ich ein verärgertes Grummeln. Kate! Sie ist wach. Kein Wunder. Bestimmt wurde sie von der lauten Klingel geweckt. Dass sie bei dem Lärm überhaupt so lange weiterschlafen konnte, ist ein Rätsel.

Mit schweren Schritten stapft sie zur Haustür und öffnet sie. Luccas tiefe Stimme dringt bis in mein Zimmer hoch, als er meine Schwester begrüßt. Begleitet wird sie von Kates herzlichem Lachen. Schon wenige Minuten nach dem Aufstehen ist sie der reinste Sonnenschein.

„Nini!", ruft sie nach oben, „wir haben Besuch!"

Das weiß ich doch längst! Das Problem ist nur, ich kann Lucca nicht mehr unter die Augen treten, jetzt, da er praktisch weiß, wie ich nackt aussehe. Oder naja, halbnackt.

Zögernd, aber angezogen, nehme ich die Treppenstufen nach unten. Bei jedem Schritt, den ich mache, wird mein Schutzpanzer ein bisschen stärker. Egal was dieser Widerling Lucca gleich zu mir sagen wird, ich bin mit den besten Kontern gewappnet.

Kate und Lucca stehen im Flur und unterhalten sich, als ich komme. Meine Schwester trägt ebenfalls noch ihren Pyjama, aber im Gegensatz zu meinem Nachthemd ist ihrer nicht durchsichtig und sitzt passend.

„Guten Morgen", sagt Lucca, als er mich sieht. „Wie geht es dir?"

Mit dieser Frage nimmt er mir allen Wind aus den Segeln. Eigentlich hatte ich einen dummen Spruch wie „Schön, dass du wieder angezogen bist" erwartet, aber nichts dergleichen. Er lässt auch nicht fallen, dass wir uns an diesem Tag bereits gesehen hatten. So wie er mit mir redet, klingt es, als würden wir uns heute zum ersten Mal gegenüberstehen.

„Ähm...ich... ähm... miserabel." Mehr bringe ich nicht hervor, so erstaunt bin ich über Luccas Reaktion.

„Oh. Okay", antwortet Lucca perplex. Auch das ist eine Antwort, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe. Die meisten Menschen würden mit einem neugierigen „Warum?"ankommen. „Miserabel bedeutet bei Brionny ganz gut", klärt Kate ihn auf, „wenn es ihr beschissen geht, ist es schlimmer oder wenn sie gar nicht erst antwortet. Das toppt echt alles."

„Halt die Klappe, Kate!", fahre ich meine Schwester an, „ich kann für mich selbst sprechen." Daraufhin zuckt sie nur mit den Schultern. Von meiner miesen Laune lässt sich Kate nie den Tag verderben. Vielleicht verstehen wir uns gerade deshalb so gut.

„Was willst du hier?", wende ich mich an Lucca. Freundlichkeit hin oder her, irgendwie kann ich ihn nicht leiden und der Zwischenfall von eben wird daran wohl auch nichts ändern. Eher im Gegenteil.

„Ich will euch beim Einrichten des Hauses helfen. Dein Großvater zeigt deiner Mutter gerade alles, was sie übers Restaurant wissen muss. Deshalb hat er mich geschickt."

Kate nickt begeistert und ist wie immer ganz der Sonnenschein. Völlig euphorisch bittet sie Lucca in die Küche, wo ein Korb Brötchen auf einem etwas morsch aussehenden Tisch steht. Heute Morgen ist Mum scheinbar ziemlich früh aufgestanden, um etwas zum Essen für uns zu holen. Völlig perplex setze ich mich mit Kate und Lucca zum Frühstücken hin. Ich weiß nicht, ob meine Mutter jemals etwas zum Frühstücken für uns besorgt hat. Da offenbart sich eine ganz neue Seite an ihr.

Nachdem wir uns gestärkt haben, beginnen wir damit, alle Räume zu säubern. Zuerst wischen und saugen wir den Boden in jedem einzelnen Zimmer. Die Dielenbretter sind alt und verbeult, sitzen hier jedoch alle fest an ihrem Platz. Nicht wie die in meinem Zimmer, unter der das Tagebuch verborgen lag. Trotzdem ziehen sie den Staub geradezu an, der in den Säulen des Sonnenlichts, das durch die Fenster ins Haus fällt, tanzt. Vielleicht rührt dieser Eindruck aber auch bloß daher, dass hier seit Monaten niemand mehr richtig sauber gemacht hat.

In den Ecken, wo die Wände in Fußboden oder Decke übergehen, hocken fette Spinnen in ihren Netzen. Als Kate die sieht, flüchtet sie in ihr Zimmer. Sie kann Spinnen und Insekten auf den Tod nicht ausstehen. In den letzten Jahren hat sie eine regelrechte Phobie entwickelt.

Auch Lucca hält es nicht länger als eine Stunde am Stück im Haus aus. In regelmäßigen Abständen beginnt er zu zittern und Schweiß läuft seine Wangen herab. Mit belegter Stimme und bleichem Gesicht murmelt er dann immer irgendeine belanglose Entschuldigung und stürzt mit einer Zigarette im Mundwinkel auf die Straße.

Nur einmal versucht er, mich in ein Gespräch zu verwickeln, während wir uns durch das Wohnzimmer kämpfen. „Was sind eigentlich deine Hobbys?", will er interessiert wissen.

„Wie bitte?!" Zuerst bin ich zu erschrocken, um normal zu antworten. Das Schweigen zwischen uns habe ich nämlich als recht angenehm wahrgenommen. Angenehmer zumindest als ein Gespräch.

„Was machst du gerne in deiner Freizeit?"

„Ich weiß, was Hobbys sind", schnauze ich ihn an, woraufhin ein Moment der Stille folgt, in dem ich mich entschließe, ihm zu antworten. „Ich schwimme gerne", beginne ich, „und ich lerne Sprachen."

Sprachenlernen? Das ist doch kein Hobby!" Oft habe ich erlebt, dass die Menschen genau so darauf reagieren. Auch Lucca wirkt überrascht, aber dann fragt er: „Und? Wie viele Sprachen sprichst du?"

„Sechs."

„Welche?"

„Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Niederländisch und Deutsch."

„Ach cool. Ja, Spanisch wollte ich auch immer mal lernen. Ein guter Kumpel von mir ist Spanier, er lebt aber schon lange hier. Ich habe sogar mal einen Kurs belegt, aber das nicht lange durchgezogen", gesteht er. Dann verfällt er wieder in ein abgrenzendes Schweigen und als ich ihn frage, was er denn gern in seiner Freizeit macht, zuckter nur mit den Schultern. „Sport", sagt er. Mehr nicht. Es wirkt fast so, als wollte er gar nicht mit mir reden. Warum hat er dann ein Gespräch angefangen?

Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber Lucca ist mir unsympathisch. Irgendwie scheint er ziemlich seltsam zu sein. Immer wieder schleicht er mit langsamen, behutsamen Schritten über den Holzboden oder fährt mit den Händen an den Wänden entlang. Als würde er erwarten, eine versteckte Nische zu finden. So wie die lose Diele in meinem Zimmer. Ich finde Luccas Verhalten äußerst auffällig und beschließe, das Tagebuch vor ihm zu verstecken, sollten wir in Verlegenheit kommen, mein Zimmer gemeinsam einzurichten.

Einmal, als er mit den Fingern vorsichtig über die Wände streicht, frage ich ihn, was er da macht. Daraufhin zuckt er jedoch nur zusammen und setzt einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf. „Ich mache gar nichts, was meinst du?", leugnet er, woraufhin ich beschließe, dass es zwecklos ist, weiter nachzufragen und mich schulterzuckend von ihm abwende.

Um vier Uhr kündigen sich Hunger und Erschöpfung an, obwohl es im Erdgeschoss schön kühl ist und man nichts von der Hitze spürt, die die Straßen beherrscht. Trotzdem beschließen wir, unsere Arbeit für den Tag zu beenden. Schließlich haben wir schon ziemlich viel geschafft. Das ganze untere Stockwerk ist jetzt bewohnbar. Fehlt nur noch die Deko. Aber das kommt morgen dran und darum kann Kate sich kümmern. Im Gegensatz zu mir hat sie ein Auge für so etwas.

Zusammen mit Kate gehen wir zum Restaurant, um etwas zu essen. Nach den Meeresfrüchten gestern ist mir der Appetit auf das Essen dort vergangen, aber auf der Speisekarte meiner Großeltern lassen sich zum Glück noch andere Gerichte finden. Eigentlich ist es ein bunter Mix aus Englischer und Italienischer Küche.

Im Restaurant herrscht heute ganz normaler Betrieb, aber da meine Großeltern nach der Mittagspause gerade wieder öffnen, ist noch nicht besonders viel los. Lediglich zwei ältere Herren sitzen an der Bar und schlürfen Espresso.

Natürlich sind meine Großeltern begeistert, als sie uns sehen und Mum watschelt ganz stolz an unseren Tisch, um unsere Bestellung aufzunehmen. Das Lächeln und die freundliche, zuvorkommende Art, die sie aufsetzt, als sie uns bedient, wirken fremd. So kenne ich meine Mutter gar nicht. Es kommt mir vor, als stünde ein völlig anderer Mensch vor mir. Sie ist selbst nach den fast achtzehn Jahren, die ich sie nun schon kenne, immer noch ein Rätsel für mich. Manchmal wünsche ich mir, ihre Gedanken lesen zu können, um wenigstens zu wissen, was in ihr vorgeht. Von Verstehen ist da noch lange nicht die Rede.

Nachdem sie uns das dampfende Essen auf weißen Porzellantellern serviert hat, bekommen wir den Chefkoch Antonio und seinen Assistenten Massimo vorgestellt. Sie sind beide ungefähr fünfzehn Jahre jünger als Mum, gutaussehend und charmant. Selten habe ich zwei Menschen gesehen, die einen Raum so sehr für sich einnehmen können wie die beiden. Obwohl sie für meinen Geschmack eine Spur zu laut sind, verbreiten sie augenblicklich eine so gute Stimmung, dass selbst ich mir ein Lächeln nicht verkneifen kann. Allerdings verschwinden sie schon bald wieder in die Küche, um weiterzuarbeiten.

Dafür kündigt sich jedoch der nächste Gast an. Ich höre das Bellen schon, bevor ich den buschigen zuckenden Schwanz und das kleine, runde mit Fell bewachsene Gesicht sehe.

„Hallo du da!", säuselt Kate begeistert, als der Hund mit heraushängender Zunge vor unserem Tisch stehen bleibt. Schon gestern war sie fasziniert von ihm und wollte ihn mit in unser neues Haus nehmen, aber zum Glück hatte Mum etwas dagegen.

„Hier... willst du mal probieren?", fragt sie und hält ihm ein Stück von ihrer Pizza entgegen, an dem der Hund zunächst neugierig schnuppert. Dann fährt seine fleischige Zunge über das Pizzastück. Seine Zähne vergraben sich in dem Teig und reisen einen Bissen ab, auf dem er spielerisch herumkaut. Nach einer Weile hat er jedoch keine Lust mehr darauf und spuckt ihn auf den Boden.

Lachend greift Kate nach dem angebissenen, angesabberten Pizzarest und wickelt ihn in eine Servierte. Igitt!

Lucca betrachtet das Ganze schweigend, aber mit einem zufriedenen Lächeln. Schließlich schlägt er vor, wir sollten mit dem Hund Gassi gehen. Dabei könne er uns die Stadt zeigen.

Kate ist sofort begeistert von dem Vorschlag, doch mir wird wieder alles zu viel. Am liebsten würde ich mich auf mein Zimmer verziehen und in Ruhe den Tag Revue passieren lassen oder in dem Tagebuch weiterlesen, das ich gefunden habe.

„Ich komme nicht mit", antworte ich ausweichend.

„Warum denn nicht?", will Kate verständnislos wissen.

„Ich habe Kopfschmerzen", lüge ich. Daraufhin legt Kate ihre Stirn in Falten. So ein Mist! Sie erkennt genau, dass ich nicht die Wahrheit sage. Vor ihr kann ich wirklich so gut wie nie verbergen, wie es mir eigentlich geht.

„Komm mit!", bettelt Kate, „bitte, tu's für mich! Damit wir mal wieder was gemeinsam unternehmen!"

Tu's für mich. Damit trifft sie meine schwache Stelle. Mit voller Absicht, denn ich kann ihr nichts ausschlagen. So eine Gemeinheit!

„Nur, wenn du mir den da vom Hals hältst", verlange ich und starre auf den Hund, der sich im Kreis dreht und seinen Schwanz jagt. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, klopft mein Herz ein bisschen schneller und meine Handflächen werden ganz feucht. Kate nickt verständnisvoll und fragt meine Großeltern nach einer Leine. Nun gibt es keine Ausrede mehr für mich.

Ein paar Minuten später finde ich mich in einer engen Gasse wieder, in der Kate und der Hund herumtollen. Lucca steht neben mir und versucht, mir irgendetwas über die Architektur der italienischen Altstädte zu erklären. Zu jedem Brunnen und jeder Treppe, an der wir vorbeikommen, kann er einen halben Roman erzählen. Scheint so, als würde er sich selbst gern reden hören.

Meist drehen sich seine Geschichten um irgendwelche geheimnisvollen Zaubermythen, für die ich noch nie besonders viel übrig hatte. Vermutlich würde er sich mit Maddie gut verstehen. Wäre sie doch bloß da. Ich wüsste nur zu gerne, was meine beste Freundin zu Lucca und diesem Ort sagen würde.

„Woher weißt du dieses Zeugs?", platzt es plötzlich aus mir heraus und ich unterbreche Lucca mitten im Satz.

„Von meinen Eltern", erklärt er stolz.

„Aha", antworte ich daraufhin nur, während der Hund, den Kate mittlerweile von der Leine genommen hat, mit einem Stöckchen im Mund auf uns zugerannt kommt. Lucca nimmt ihm das Stöckchen ab und läuft mit ihm ein Stück die Straße entlang. Erleichterung durchflutet mich. Die Zeit, die ich nun für mich habe, nutze ich, um auf meinem Handy nach neuen Nachrichten zu sehen.

„Der ist so dumm", flüstere ich dabei vor mir hin, „und die Eltern auch. Die haben doch einen an der Klatsche. Legenden und so. Klingt echt schon sektenmäßig. Wo bin ich hier gelandet?" Da räuspert sich auf einmal jemand neben mir. Erschocken sehe ich von dem Bildschirm auf und lasse das Handy wieder in meine Hosentasche gleiten. Lucca steht neben mir. Dass er meine geflüsterten Worte gehört hat, ist unverkennbar. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Zunge.

„Ich...ähm... hast du...", stammele ich, doch Lucca unterbricht mich. „Ja, ich hab dich gehört", antwortet er direkt und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. Jede Spur der Freundlichkeit ist aus seinen schmalen Zügen gewichen und auf einmal wirkt er eiskalt.

„Also ich...", setze sich zu einer Entschuldigung an, aber Lucca unterbricht mich erneut. „Nein, ist schon okay", behauptet er, „jetzt weiß ich wenigstens, was du wirklich von mir denkst. Sonderlich freundlich warst du immerhin von Anfang an nicht."

Nun ist es an mir „Wie bitte?" zu fragen, doch ich verkneife mir die Worte und beobachte, wie er auf Kate und den Kläffer zugeht, um mit ihnen zu toben. Gut, damit komme ich auch zurecht. Solange ich mich nicht mehr mit ihm unterhalten oder bei seinen langweiligen Erzählungen zuhören muss.

Während der restlichen Stadtführung, trottete ich hinter Kate und Lucca her. Lucca hat beschlossen, mich zu ignorieren und redet nur noch mit meiner Schwester. Er sieht mich nicht mal an, aber damit habe ich kein Problem. So kann ich mich nämlich ein bisschen besser auf meine Umgebung konzentrieren.

Castigione della Pescaia besitzt romantisch angelegte Piazzas und sogar einen Hafen, in dem Segelboote ankern. Die hellen Segel reflektieren die Sonne so sehr, dass ich die Augen zusammenkneife. Doch trotzdem sehe ich noch Minuten später die knallweißen Segelboote vor mir auf dem glitzernden Wasser treiben. Diesen Anblick haben die Sonnenstrahlen wohl auf meine Netzhaut tätowiert. Klar und scharf gestochen.

Der Hafen mündet in einen weißen Sandstrand, auf dem sich die Tourist:innen nur so tummeln. Kreischend rennen die Kinder in die azurblauen Wellen, die leicht gegen das Ufer schlagen, während sich ihre Eltern auf Sonnenliegen oder auf ihren bunten Handtüchern herumwälzen und sich gegenseitig die gebräunten Rücken eincremen.

Meine Aufmerksamkeit wird jedoch von dem Meer gefesselt. Noch nie in meinem Leben habe ich so hellblaues Wasser gesehen. Nicht mal im Fernsehen. Auf manchen Wellen schweben kleine Schaumkrönchen, die in rhythmischen Bewegungen an den Strand gespült werden.

Kate jauchzt übermutig, löst die Schnallen ihrer Sandalen, zieht die Schuhe aus und rennt auf das Wasser zu. Genau wie meine Schwester fühle ich mich angezogen vom Meer. Die Wellen scheinen meinen Namen zu flüstern und der dezente Salzgeruch beruhigt mich. Es kommt mir so vor, als könnte ich erst hier, am Wasser, wieder frei atmen. Ich kneife die Augen zusammen und blicke aufs Meer hinaus, das irgendwo weit hinten am Horizont mit dem Himmel verschmilzt. Zwei Blautöne, die beinahe nahtlos ineinander übergehen.

Mit beträchtlichem Abstand zu Lucca und Kate, die mittlerweile beide knietief im Wasser stehen, schlendere ich den Strand entlang. Hier und da haben sich Bademeister in Shorts, roten T-Shirts und Flipflops positioniert. Sie tragen alle verspiegelte Sonnenbrillen und um ihre Hälse hängen silberne Trillerpfeifen, in die sie pusten, wenn jemand etwas Verbotenes tut.

Jedes Mal, wenn das schrille Geräusch der Pfeifen erklingt, zucke ich erschrocken zusammen und drehe mich um. Doch die Wachgänger beachten mich meist gar nicht, sondern starren nur geradeaus aufs Wasser. Lediglich einer lächelt mir zu und meint angeberisch: „Ciao Bella. Willst du mir ein bisschen Gesellschaft leisten? Meine Schicht ist bald vorbei und wir können ein Eis essen gehen."

Erschrocken starre ich ihn an. Mit so einer Anmache habe ich nicht gerechnet. Im ersten Moment bin ich völlig überfordert und weiß gar nicht, was ich darauf erwidern soll. Hastig schüttele ich mit dem Kopf, drehe mich um und laufe davon. Bloß weil ich eine Frau bin, die am Strand spaziert, muss er mich ja nicht gleich so ekelhaft anmachen.

Schnell schüttele ich das ungute Gefühl, das ich habe, ab. Dann tue ich es Kate und Lucca gleich, schlüpfe aus meinen Schuhen und wate ins Wasser. Die kühlen Wellen umspülen liebevoll meine Beine und ich spüre, wie sich augenblicklich etwas in mir beruhigt. Als wäre ich erst jetzt, da ich im Wasser stehe, so richtig hier in Italien angekommen. Nachdenklich beobachte ich meine Schwester, die nicht weit von mir jauchzend auf und ab hüpft. Die Wellen tanzen regelrecht um ihre Waden und scheinen eins mit ihr werden zu wollen.

Beinahe leichtfüßig dreht sie sich, wobei dutzende, kleine Tropfen aus ihrer Kleidung stieben und sich schließlich mit dem Meer vereinen. Ja, hier ist Kate in ihrem Element. Obwohl sie eine hervorragende Schwimmerin ist, eine viel Bessere als ich, Maddie oder Jeremy, und meine Lehrer:innen sie dazu bringen wollten, an internationalen Schwimmwettkämpfen teilzunehmen, hat sie immer wieder abgelehnt und sich lieber aufs Zeichnen und die Kunst konzentriert. Meine Schwester ist, genau wie meine Mutter, eine begnadete Künstlerin. Die beiden verbringen beinahe all ihre Zeit mit Basteln, Malen und Zeichnen.

Von Sport will Kate deshalb nichts wissen. „Dieses ganze Konkurrenzdenken und so viel Training? Nein Danke!", sagt sie nur dazu. Zur großen Enttäuschung der Talentförderung ist sie auch nie dem Schwimmteam beigetreten.

Obwohl meine Schwester und ich so verschieden sind, wie Geschwister nur sein können, sehne ich mich danach, einen ruhigen Abend mit ihr zu verbringen und ihr das geheimnisvolle Tagebuch zu zeigen.

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