5. Ciao Bella Italia

Mit einem lauten Poltern kommt das Flugzeug auf dem Boden auf und mein Kopf wird von einer Schulter auf die andere geworfen. Na, Herzlich Willkommen!

Schon als wir aus dem Flugzeug steigen, weht mir eine warme Brise entgegen. Die Luft ist stickig und fühlt sich schwer in meinen Lungen an. Durch die langen, schwarzen Klamotten, die ich trage, schwitze ich höllisch. Hätte ich doch bloß was Kurzes angezogen, so wie Kate.

Diesmal habe ich nichts gegen die klimatisierte Ankunftshalle. Es dauert nicht lange, da haben wir auch schon unser Gepäck.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen mache ich mich schließlich auf den Weg nach draußen. Vorfreude steht in Mums und Kates Gesichter geschrieben, doch davon spüre ich nichts. Eher so etwas wie Angst. Angst vor Menschen, die ich schon seit meiner Geburt kenne und gleichzeitig irgendwie doch nicht.

Vor dem Flughafengebäude warten zwei ältere, runzlige Leute mit einem riesigen Schild, das Benvenuto Brionna, Caterina e Fiona verlautenlässt. Ihre Gesichter sind braun gebrannt und heben sich deutlich von ihrem schneeweißen Haar ab. So habe ich meine Großeltern nicht in Erinnerung. Immer, wenn ich in den letzten zwölf Jahren an die beiden dachte, hatte ich das Bild von zwei großen, starken Menschen vor mir. Aber die Zeit hinterlässt nun mal Spuren am menschlichen Körper und das nicht nur bei Nonna und Grandpa, sondern auch bei Mum, Kate und mir.

Kaum dass sie uns sieht, beginnt Nonna zu lächeln und breitet schwungvoll die Arme aus.

„Fiona! Brionna! Caterina! Meine Schätze, wie geht es euch?", fragt sie auf Italienisch und drückt jede von uns eng gegen ihre Brust. Ich keuche erschrocken auf. Zu viel Nähe! Sofort trete ich automatisch zwei Schritte zurück.

„Gut, Mama", antwortet meine Mutter ebenfalls lächelnd und auf Italienisch, „wir hatten einen ruhigen Flug."

„Oh, Brionny, Catherine... ihr seid zwei junge Damen geworden, lasst euch anschauen", flüstert nun auch Grandpa. In seinen Augen stehen Tränen. Er umarmt Kate und mich ebenfalls stürmisch, wobei sich mein Magen leicht verkrampft. Ich kenne diesen Mann und diese Frau nicht, selbst wenn sie meine Großeltern sind. Für mich sind die beiden Fremde, die meiner Schwester und mir zwei Mal im Jahr Geld schicken.

Kate scheint jedoch ziemlich erfreut zu sein über dieses Wiedersehen. Sie plappert sofort drauf los und erzählt alles Mögliche aus ihrem Leben in England. Sie berichtet von Freund:innen, von der Schule, von Andrew. Über den Exfreund meiner Mutter schimpfen meine Großeltern höllisch. Wie konnte dieser Schweinehund nur so dreist sein und sie betrügen! Erstaunt lege ich die Stirn in Falten. Davon, dass Andrew meine Mutter betrogen hat, höre ich gerade zum ersten Mal.

Bei den Gesprächen halte ich mich lieber zurück. Wenn ich neue Leute kennenlerne oder wenn ich mich in einer unbekannten Situation befinde, beobachte ich die anderen lieber und mache mir ein Bild von ihnen, bevor ich mit dem Reden anfange.

Doch schließlich hört Kate auf zu erzählen und Grandpa wendet sich an mich. Sein breites Grinsen entblößt eine große Lücke zwischen den Schneidezähnen. „Und, Brionny? Wie läuft's bei dir so? Alles klar in der Schule?"

„Ja... es ist alles... ganz gut... ich bin... war Mitglied im Schwimmteam." Mein Italienisch fühlt sich eingerostet an. Ich habe die Sprache schon ziemlich lange nicht mehr benutzt und beherrsche sie trotzdem noch. Meine Zunge vibriert, als ich mit ihr gegen den Gaumen schlage, um das R rollen zu lassen. Die langgezogenen Vokale der Sprache schweben in meinem Mund und ich komme mir auf einmal völlig fremd vor.

„Aber hallo", fügt Mum hinzu, „letztes Jahr hat sie mit ihrem Team die südenglische Schulmeisterschaft gewonnen und sie ist Jahrgangsbeste."

„Oh, das ist ja großartig, Liebes. Wo willst du später mal studieren? In Florenz? Mailand? Rom?" Nonna strahlt noch immer vor Freude, doch ich bin mir nicht sicher, ob meine Antwort nicht das Lächeln von ihrem Gesicht wischen wird. Deshalb lasse ich mir ein bisschen Zeit. Schließlich sage ich jedoch: „Nein, ich dachte eher an London."

Meiner Großmutter entweicht mit einem Schlag alle Luft und sie sieht mich tatsächlich ein bisschen enttäuscht an.

„London ist eine schöne Stadt", wirft mein Großvater ein, während er sich Mums Koffer schnappt und ihn mit sich zieht. Ich greife währenddessen nach den Koffern von Kate und mir. „Ich habe dort auch studiert."

Das überrascht mich. Erstaunt sehe ich meinen Großvater von der Seite an. Er hat in London studiert? Das wusste ich nicht. So ungern ich es auch zugebe, das ist ein riesiger Pluspunkt für ihn.

Nonna grummelt etwas Unverständliches, doch Kate umarmt sie stürmisch und meint, es sei doch toll, dass wir uns endlich wiedersehen. Daraufhin nickt Nonna und sagt, sie habe uns schrecklich vermisst.

„Ich weiß noch, wie ihr zwei jeden Abend in unserem Restaurant gespielt habt", erzählt sie, „damals wart ihr natürlich noch klein. Und ihr habt jede Menge Freunde mitgebracht. Besonders oft kam Pietro Belluco zu Besuch." Verschmitzt sieht sie zu mir hinüber. „Brionna, Liebes, erinnerst du dich noch an Pietro?"

Ich nicke. Natürlich erinnere ich mich an Pietro Belluco. Damals, als wir in Italien lebten, war er mein allerbester Freund. Wir haben beinahe jeden Tag etwas zusammen unternommen. Vom Muschelsammeln am Strand bis hin zum Versteckspielen in den verwinkelten Gassen der Kleinstadt, in der wir wohnten. Nach unserem Umzug nach England habe ich gemeint, die Welt müsse stehen bleiben. Pietro und ich getrennt, das konnte ich mir nicht vorstellen. Aber die Welt ist natürlich nicht stehen geblieben und ich lernte Maddie kennen, die beste Freundin überhaupt.

Trotzdem haben Pietro und ich noch ein paar Jahre lang den Kontakt aufrecht erhalten, indem wir einander regelmäßig Briefe schickten. Inhalt dieser Briefe waren meist irgendwelche hässlichen, selbstgemalten Bilder oder Seiten, die mit Pietros krakeliger Schrift gefüllt waren und auf denen er von seinen neuesten Abenteuern berichtete. Mit der Zeit ist der Kontakt zu ihm jedoch weniger geworden, bis er letztendlich ganz abbrach.

Langsam folgen wir Grandpa, der uns zu seinem Auto führt. Meine Mutter lächelt glücklich vor sich hin, läuft aber etwas abseits. Wieder kommt sie mir so unglaublich weit weg vor. Eingesperrt in ihrer eigenen Welt. Ich will die Hand nach ihr ausstrecken und sie berühren, aber ich tue es nicht, aus Angst, sie dann aus einem Tagtraum zu reißen.

Schließlich stoppen wir vor einem kleinen, kanariengelben Fiat. Erschrocken bleibe ich stehen und starre die Blechkiste an. Da sollen wir alle reinpassen? Und unser Gepäck noch dazu? Nie im Leben!

Ich staune nicht schlecht, als es Grandpa tatsächlich gelingt, unsere Reisetaschen auf einem winzigen Dachgepäckträger zu verstauen. „Wir nennen ihn den knatternden Kanarienvogel. Wegen der Farbe", kichert Nonna und zeigt auf das Auto.

Haha, wie lustig. Knatternder Kanarienvogel. Dieser Wagen braucht einen neuen Anstrich und keinen idiotischen Namen! Wie alt die Kiste wohl ist? Jede Wette, dass sie die auch schon hatten, als wir noch in Italien lebten.

Im Auto ist es noch stickiger als draußen, vor allem als Mum, Kate und ich uns zu dritt auf die Rückbank quetschen. In der trockenen Luft fällt es mir schwer zu atmen, weshalb ich erst mal das Fenster herunter kurbele, doch die Böe, die von draußen hereinweht, ist nicht erfrischend, sondern ebenfalls warm.

Während Nonna und Grandpa einsteigen, fällt mir auf, dass das Lenkrad im Auto auf der falschen Seite ist. Klar, hier fährt man rechts auf der Straße und nicht links.

„Fiona, Schatz, wir haben ein Auto für dich gekauft", trällert Nonna lächelnd und dreht sich zu Mum um, „wir müssen es nächste Woche abholen. Und Brionna." Ihr Blick wandert zu mir hinüber. „Ich habe mit den Behörden gesprochen. Dein Führerschein wird hier anerkannt. Du darfst allerdings erst ab deinem achtzehnten Geburtstag selbst fahren. Ist das ein Problem?"

Ich schüttele mit dem Kopf. Gut, also in einem Monat. So lange kann ich auch noch warten. Um ehrlich zu sein, bin ich auch nicht besonders scharf drauf, auf der falschen Straßenseite zu fahren.

Schon als Grandpa ausparkt, wird mir mulmig zumute. Das kann allerdings auch an der stehenden Hitze liegen. Gemächlich tuckert das Auto vom Parkplatz und dann weiter durch die belebten Straßen Pisas. An manchen Häusern hängt die italienische Nationalflagge in den leuchtenden Farben grün, weiß und rot. Vesparoller donnern auf der Fahrbahn herum und immer wieder ist lautes Hupen zu hören.

Grandpa fährt wie ein Henker. Gleich drei Mal nimmt er anderen Verkehrsteilnehmern die Vorfahrt und er ist ausnahmslos schneller als erlaubt. Die Geschwindigkeitsbegrenzung sieht er wohl eher als Richtlinie.

Ängstlich klammere ich mich an Kates Arm fest, bis wir endlich die Autobahn erreichen und die Fahrt etwas ruhiger verläuft. Grün gefärbte Schilder mit Ortsnamen, die ich noch nie gelesen habe, rauschen an uns vorbei, was dazu führt, dass ich mich ziemlich fremd fühle.

Nonna plaudert die ganze Zeit und auch Mum und Kate erzählen viel. Ich halte mich dabei lieber im Hintergrund und sage nur etwas, wenn ich direkt angesprochen werde. Fast schon automatisch greife ich in der Tasche nach meinem Handy. Erst als ich auf das Display tippe, stelle ich enttäuscht fest, dass der Akku immer noch leer ist.

Müde lasse ich dem Blick aus dem Fenster schweifen. Wir huschen an leuchtendgrünen Hügeln vorbei. Sie werden ab und zu von dunkelgelben Sonnenblumenfeldern gesäumt. Einmal fahren wir sogar am Meer entlang und ich sehe den glitzernden Wogen zu, die leicht auf dem Wasser tanzen. Sie wirken so unbeschwert und voller Wärme. Ganz anders als der tiefe, geheimnisvolle Ozean, den ich kenne.

Je weiter wir gen Süden fahren, desto öfter grenzen leer stehende, zum Teil verfallene Landgüter an unseren Weg. Manchmal thronen sie einsam und verlassen umgeben von Zypressen auf den Hügeln. Sie kommen mir vor wie Skelette. Gruselig, aber auf eine ganz besondere Weise auch interessant und anziehend.

Schließlich verlassen wir die Autobahn und die Landschaft wird wilder. Goldene Kornfelder stechen mir ins Auge und farbenfrohe Wiesen, auf denen Blumen wachsen, die ich noch nie gesehen habe. Alles ist neu für mich, doch immer mehr habe ich das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein.

Von Zeit zu Zeit lugen die Dächer eines Dorfes zwischen den Hügeln hervor, doch sonst trifft man hier kaum auf ein Anzeichen von menschlichem Leben. Nur manchmal kommen uns andere Autos entgegen.

Grandpa jagt den kleinen Fiat enge Serpentinenstraßen rauf und runter. Am Anfang halte ich das noch aus, aber nach einer Weile wird mir richtig schlecht. Verzweifelt bemühe ich mich, an etwas anderes zu denken, nur nicht daran, wie ich mich in der nächsten Kurve übergebe.

Schau mal Brionny, da ist eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Eigentlich darf man hier nur 30 km/h fahren, aber Grandpa fährt 50", sage ich zu mir in Gedanken, „und da, am Himmel ist tatsächlich eine Wolke? Hier regnet es bestimmt nicht allzu oft."

Doch all meine Ablenkungsversuche scheitern. Selbst als die Landschaft ebener wird und die Straße geradeaus führt, geht es mir nicht besser. Deshalb bin ich froh, als ein Ortsschild endlich die Kleinstadt Castiglione della Pescaia ankündigt, in der wir das nächste Jahr verbringen werden. Doch in der Stadt selbst wird es nicht besser. Alte Steinhäuser strecken sich zu beiden Straßenseiten gegen den Himmel, sodass es dunkel und schattig ist. Manchmal taucht urplötzlich eine Seitenstraße mit Verkehr auf und Grandpa muss heftig bremsen. Noch dazu ist der Boden gepflastert, weshalb das Auto höllisch wackelt.

In meinem Magen rumort es und ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Körper aus. Ich spüre, wie mir die Galle hochkommt.

Gerade als ich denke, ich kann es nicht länger aushalten, erreichen wir eine kleine, sonnige Piazza, auf der Grandpa den Fiat abstellt. Kaum dass der Wagen steht und Nonna den Beifahrersitz nach vorne geklappt hat, steige ich aus. Naja, das Wort aussteigen trifft es nicht so ganz. Fallen wäre hier passender gewesen.

Keuchend knie ich auf dem Kopfsteinpflaster, würge und spucke ein paar Mal. Stöhnend fahre ich mir mit der Hand durchs Haar, das vor Schweiß bestimmt schon in der Sonne glänzt. So fühlt es sich zumindest an. Strähnig und fettig.

Plötzlich erscheint ein Paar abgetragene, weiße Turnschuhe in meinem Blickfeld und eine tiefe, brummende Stimme fragt: „Ist alles in Ordnung?"

Ist alles in Ordnung?  Wer auch immer da steht, muss doch erkennen, dass eben nicht alles in Ordnung ist. Blinzelnd sehe ich auf und blicke direkt in das schmale, ernste Gesicht eines jungen Mannes. Seine Lippen sind dünn und seine Ohren stehen ein wenig ab. Das einzige Freundliche an ihm sind die haselnussbraunen Augen, mit denen er mich besorgt anblickt. Über diesen Augen ziehen sich schwarze, buschige Brauen entlang. Sein Haar ist ebenfalls schwarz und millimeterkurz.

Obwohl er nicht gerade eine Schönheit ist, hat er etwas an sich. Wenn ich ihn anschaue, muss ich an längst vergangene Augenblicke denken, die einen Hauch von Melancholie in mir hinterlassen.

„Wenn du's wissen willst", knurre ich, „mir geht's echt beschissen." Meine Ehrlichkeit überrascht mich.

Dem jungen Mann scheint meine Unfreundlichkeit jedoch nichts auszumachen. Er lächelt sogar. Der ernste Gesichtsausdruck bleibt trotzdem. „Das wird bestimmt bald besser", meint er und streckt mir auffordernd seine Hand entgegen.

„Nein danke", bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die Situation ist schon peinlich genug. Da brauche ich nicht auch noch einen Mann, der versucht mir wieder auf die Beine zu helfen.

Ächzend stemme ich mich hoch. Dabei taumele ich ein bisschen. Um ein Haar hätten meine wackeligen Beine nachgegeben, doch der Mann hält mich am Handgelenk fest. Auch das noch! Schnell stütze ich mich am Auto ab und reiße meine Hand los. Entschuldigend schaue ich zu dem Mann hinüber, ohne ihm dabei direkt in die Augen zu sehen. Hoffentlich verschwindet er bald wieder und vergisst diesen peinlichen Vorfall.

„Ah, Brionna, Liebes, wundervoll." Nonna hat mit Grandpas Hilfe die Koffer vom Autodach gehoben und geht nun zügig auf mich zu. „Wie ich sehe, hast du Lucca bereits kennen gelernt. Kannst du dich an ihn erinnern?"

Lucca? Der Name sagt mir rein gar nichts. Ist dieser Lucca etwa auch ein Freund aus Kindertagen? Wie viele von diesen Freunden gibt es denn?

Erneut sehe ich den jungen Mann an und stelle fest, dass er ziemlich groß ist. In seinem linken Ohrläppchen steckt ein Diamant, in dem sich das Licht der Sonne bricht.

„Sein voller Name ist Lucca-Orvieto Telloni", versucht Nonna mir auf die Sprünge zu helfen. Daraufhin lächelt der junge Mann gequält. „Nur Lucca, bitte." Ganz ehrlich, bei dem Namen Lucca-Orvieto hätte ich auch auf einer Abkürzung beharrt. Ein bisschen tut er mir wegen des Namens leid. Wer kommt denn auf die Idee, sein Kind so zu nennen?

„Wie dem auch sei, Brionna, das ist Lucca", wiederholt Nonna, „er kellnert für uns und hat unseren Garten angelegt. Er macht eine Ausbildung zum Gärtner in Grosseto, Liebes. Aber der Lohn in der Ausbildung ist so gering, da brauchte er noch einen Nebenjob. Aber der Junge versteht etwas von dem, was er tut. Der Garten ist wirklich wunderhübsch geworden, den solltest du mal sehen." Nonna strahlt Lucca an, als wäre er ein Engel. Ich trete einen Schritt zurück und betrachte die beiden aus der Distanz. Obwohl sie meine Großmutter ist, hat sie zu Lucca eine engere Bindung als zu mir. „Und Lucca, das ist meine Enkelin, Brionna", fügt sie hastig hinzu.

Erneut streckt mir Lucca seine Hand entgegen. Nach kurzem Zögern schüttele ich sie.

„Freut mich, dich kennenzulernen", sagt er. Daraufhin nicke ich nur, da ich nicht so recht weiß, was ich erwidern soll.

„Und das ist meine zweite Enkelin, Caterina." Stolz zeigt Nonna auf Kate, die gerade aus dem Auto steigt. Im Gegensatz zu mir bewegt sie sich elegant und ihr scheint kein bisschen übel zu sein. Sie flötet Lucca ein bezauberndes „Hi" entgegen und wispert mir dann zu: „Ist der nicht mega hinreißend?" Naja, meiner Meinung nach nicht unbedingt. Aber Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden.

„Caterina, Liebes, du kannst dich aber noch an Lucca erinnern, oder?", will Nonna wissen.

„Um ehrlich zu sein, nicht wirklich", gesteht Kate, woraufhin Nonna ein bisschen enttäuscht aussieht.

„Nonna, können wir das Restaurant sehen, von dem Mum seit Wochen schwärmt?", wirft Kate gleich darauf ein und gibt Nonna nicht besonders viel Zeit, um enttäuscht zu sein. Kates Interesse scheint meine Großmutter tatsächlich ein bisschen aufzuheitern, denn sie legt einen Arm um meine Schwester und führt sie zu einem kleinen Steinhäuschen in einer Straße, die an die Piazza grenzt.

An der Tür des Steinhauses hängt ein von der Sonne verblichenes, rotes Schild. Le tre conchiglie – English & Italian cooking steht in goldener Schrift auf dem Schild.

Im Restaurant selbst ist es dunkel, aber kühl. Die Tische stehen ordentlich gedeckt in einer Reihe. Hinter dem Tresen hängt ein Flachbildschirm, auf dem gerade die Abendnachrichten laufen. Sieht so aus, als hätten meine Großeltern heute geschlossen.

Alles hier drinnen wirkt altmodisch und aufeinander abgestimmt. Vom Sitzpolster der Stühle und Bänke bis hin zu den Landschaftsbildern an den Wänden. Das Einzige, was nicht zum Rest der Einrichtung passt, ist eine glatte, schmucklose Holztür, die scheinbar zur Küche führt.

Nonna stellt sich sofort hinter den Tresen und schenkt Kate ein Glas Pfirsichsaft ein. „Eine Spezialität dieser Gegend", wie sie meiner Schwester verrät. Ich sehe mich währenddessen aufmerksam um. Erst beim zweiten Blick fallen mir die kleinen Muscheln und Steine auf, die jemand als Dekoration auf den Tischen verteilt hat. In den Ecken steht eine Monstera mit großen, grünen Blättern. Hinter dem Tresen reiht sich eine Sammlung von Saftflaschen und Spirituosen auf einem Regal aneinander.

Wenn man das Restaurant als Ganzes betrachtet, sticht es vielleicht nicht unbedingt aus der Menge von Gaststätten hervor, doch die Details machen es zu etwas Besonderem. Der Raum kommt mir bekannt vor. Erinnerungen steigen in mir auf. Ich hätte sie jedoch kaum als Erinnerungen, sondern eher als Gefühle bezeichnet. Gefühle aus einem besseren, schöneren Leben.

Langsam gehe ich auf den Tresen zu, der mit unzähligen Fotos beklebt ist. Die meisten zeigen meine Großeltern. Mit Stammgäst:innen und Freund:innen vermutlich. Eines dieser Fotos wirkt besonders alt und es ist an den Rändern schon ausgeblichen. Darauf sind zwei kleine Mädchen mit dunklen Locken zu sehen. Zwischen diesen Mädchen stehen zwei Jungs. Der eine von ihnen ist hellblond, dick und strahlt nur so in die Kamera. Mein ehemaliger bester Freund. Pietro Belluco. Der andere Junge blickt ernst und nachdenklich drein.

Mit den Fingern fahre ich über die Gesichter der Mädchen. Das müssen Kate und ich sein. Nur selten haben wir uns mit Mum Kinderfotos angesehen. Sie ist nämlich fest davon überzeugt, dass Fotoalben nostalgischer Schwachsinn sind. Deshalb weiß ich nicht so richtig, wie ich als Kind ausgesehen habe.

„Gefällt's dir?", höre ich Grandpa neben mir fragen. Verwirrt blicke ich auf. Ich habe gar nicht gemerkt, wie er, Mum und Lucca das Restaurant betreten haben. Lucca huscht auch schon wieder in Richtung Küche davon.

„Ja", antworte ich und betrachte wieder das Foto. Ich wusste gar nicht, dass meine Großeltern Kinderbilder von uns besitzen. Noch mehr wundere ich mich darüber, dass sie eins ausgerechnet in ihrem Restaurant aufhängen.

„Willst du es haben?", fragt Grandpa.

„Im Ernst?"

„Ja. Willst du es? Ich kann's abmachen."

„Gerne."

Vorsichtig löst Grandpa den Kleber, der das Foto am Tresen festhält. Dann überreicht er mir das Bild. Das Papier fühlt sich dünn und alt an. Es kann genauso schnell zerreißen wie meine Vergangenheit. Die ersten sechs Jahre meines Lebens, die ich hier in Italien verbracht habe, kommen mir auf einmal so zerbrechlich und unglaublich weit weg vor.

„D...danke", stammele ich.

„Kein Problem." Grandpa lächelt. „Du und Catherine, ihr habt abends oft hier gespielt. Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern, an dem wir das Foto aufgenommen haben. Ihr seid mit Freunden dagewesen, Pietro und Lucca. Ihr wart oft hier, wisst ihr. Nur ein paar Wochen, bevor wir das Foto aufgenommen haben, wart ihr auch da und habt Fangen gespielt. Dabei ist die Scheibe unserer Glastür zu Bruch gegangen und Catherine hat sich den Arm an einer Scherbe aufgeschnitten. Lucca und seine Familie waren dabei. Er hat als Einziger gehandelt und deiner Schwester das Leben gerettet."

Für einen Moment herrscht bedrückende Stille. Niemand bewegt sich. Ich halte sogar die Luft an. So unklar und verschwommen meine Erinnerungen an Italien auch sein mögen, ein paar bruchstückhafte Ausschnitte dieses Abends sehe ich scharf geschnitten, klar und deutlich vor meinen Augen. Die Angst, die damals durch meine Adern pulsierte, kann ich beinahe greifen. Ich höre Kates Schreie, sehe Blut und bin erleichtert, als irgendwann spätabends aus dem Krankenhaus schließlich die Nachricht kommt, dass alles in Ordnung ist. In dieser Nacht hat Pietro bei mir geschlafen. Das weiß ich noch ganz genau.

„Ja, aber dabei hat Lucca sich selbst auch verletzt", gibt Nonna zu bedenken, „am Ende war er auch ziemlich schlimm dran."

Kates Hand zuckt wie von selbst zu der feinen Narbe, die sich an ihrem Unterarm entlang zieht. Seit ich denken kann, hat sie diese Narbe und sie ist ziemlich stolz darauf. Das mache sie zu etwas Besonderem, sagt sie immer wieder. Nun jedoch blickt sie betrübt drein.

Auch Lucca sieht nicht gerade glücklich aus und ich suche seinen Arm nach einem ähnlichen Narbengewebe ab. Doch so sehr meine Augen seine Hautauch abscannen, ich kann keine Narbe entdecken. Dabei müsste da irgendetwas sein. Aber seine Arme und Hände sind makellos. Nicht mal ein winziger Kratzer ist zu sehen. Seltsam.

Das Tablett, das Lucca trägt, schwankt verdächtig. Schnell stellt er es auf dem nächsten Tisch ab.

„Wir sind dir so unglaublich dankbar für deine selbstlose Tat", schluchzt Nonna nun an Lucca gewandt und wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. Daraufhin lächelt er nur schwach, als würde er das nicht zum ersten Mal hören. Wahrscheinlich erzählen ihm meine Großeltern diese Geschichte ungefähr ein Mal pro Woche. Vorstellen kann ich mir das zumindest. Wieder komme ich mir unglaublich fehl am Platz vor.

„Naja", sagt Lucca und sieht zu Boden, „ich hab nur das getan, was jeder an meiner Stelle gemacht hätte." Dieser Satz hört sich so stark nach einem schlechten Film an, dass ich am liebsten gelacht hätte. Wie alt war Kate, als sich dieser Unfall ereignete? Nicht älter als zwei. Lucca muss dann so ungefähr sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Mit Sicherheit wäre nicht jeder Achtjährige in der Lage gewesen, meiner Schwester das Leben zu retten. Doch ich sage nichts, da ich Lucca dankbar bin. Jeder Mensch besitzt die Macht, unser Leben zu ändern. Und Lucca hat mein Leben verändert, in dem er meine Schwester gerettet hat.

„Wie wäre es denn, wenn du heute mit uns isst, um das große Wiedersehen zu feiern?", fragt Nonna und lächelt wieder.

Für einen Moment sieht Lucca ganz so aus, als wolle er ablehnen, doch Nonnas Blick signalisiert ihm, dass er auf keinen Fall mit Nein antworten darf. Deshalb zuckt er nur unschlüssig mit den Schultern, was Nonna als eine Zustimmung deutet. Begeistert klatscht sie in die Hände. „Wunderbar! Was tischen wir als Erstes auf? Bruschetta?"

Sie wuselt zu dem Tisch, auf dem das Tablett steht und verteilt sechs Portionen Bruschetta auf den Tellern. Wir setzen uns, während Nonna dafür sorgt, dass es uns an nichts fehlt.

Die Vorspeise schmeckt unglaublich gut. Doch kaum dass ich Platz genommen habe, überspült mich eine unendliche Erschöpfung. Am liebsten würde ich mich zurückziehen und die neuen Bekanntschaften und Eindrücke in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Meine Großeltern wiederzusehen hat mich vollkommen überfordert und ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich ein Teil ihrer Familie bin. An den Gesprächen der anderen kann ich deshalb kaum teilnehmen. Kate und Lucca, die beide links und rechts von mir Platz genommen haben, scheint das jedoch nicht zu stören. Sie unterhalten sich laut schwatzend über meinen Kopf hinweg, als wäre ich gar nicht anwesend.

Nach den Bruschetta serviert Nonna die erste Hauptspeise. Frutti di Mare. Ich würge fast, als die das Essen auf meinen Teller häuft. Muscheln, Tintenfisch und Thunfisch. Schon bei dem Anblick wird mir schlecht. Ich esse ja für mein Leben gern fish&chips, aber bei solchem Meeresgetier wie dem da hört der Spaß echt auf. Sogar Kate rümpft die Nase und probiert dann zaghaft. Dazu kann ich mich allerdings nicht durchringen.

Während des Essens erzählt uns Nonna von der Schule, auf die wir gehen werden, ein Gymnasium mit klassischem, sprachlichem und naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Von der kleinen Stadt an der Küste aus müssen wir eine halbe Stunde mit dem Zug fahren, bis wir an der Schule sind. Wir können natürlich auch das Auto nehmen, aber das dauert ungefähr genauso lange. Kate ist total begeistert von dem, was Nonna uns da verkündet. „Das Beste ist, hier gibt's keine Schuluniformen", schwärmt meine Schwester, „ich find's mega toll, dass jeder das anziehen darf, was er oder sie will."

„Ja, das ist doch toll", sagt meine Großmutter. Dann fällt ihr Blick auf mich und ihre Augen weiten sich erschrocken. „Brionna, warum isst du denn gar nichts?" Augenblicklich höre ich auf, in den Meeresfrüchten herumzustochern und bemühe mich um einen Gesichtsausdruck, der nicht zeigt, wie sehr mich das Essen anekelt.

„Ich...ähm... weiß nicht, ob das so mein Ding ist", gestehe ich.

„Wie? Nicht dein Ding? Das kannst du doch gar nicht wissen, wenn du es nicht probierst!"

Gequält verziehe ich das Gesicht, da ich einsehe, dass es keinen Ausweg aus dieser Misere gibt. Schnell stopfe ich mir eine Gabel Meeresfrüchte in den Mund, kaue flüchtig und schlucke. Ein bitterer und zugleich salziger Geschmack breitet sich in meinem Mund aus und legt sich auf meine Zunge. Er ist so übermächtig, dass mir schlecht wird. Beinahe hätte ich das Zeug wieder rausgewürgt. Doch Nonnas strenger Blick zwingt mich dazu, gleich noch eine zweite Gabel von diesem Zeug zu nehmen.

Ich versuche, den Tintenfisch mit Pfirsichsaft hinunter zu spülen, aber das führt nur dazu, dass es meinem Magen noch schlechter geht. Er ist wohl von der Autofahrt noch ziemlich mitgenommen. Nach zwei weiteren Gabeln spüre ich, wie die Meeresfrüchte meine Speiseröhre hochklettern. Auf einem sicheren Weg nach draußen. Gerade noch so bringe ich ein: „Ich muss mal ganz dringend aufs Klo. Wo geht's zur Toilette?" heraus.

„Da lang." Grandpa deutet auf die schmucklose Holztür. Sofort stürze ich durch die Tür und einen Gang entlang, an dessen Ende jedoch nicht die Toiletten liegen, sondern ein kleiner, aber hübsch angelegter Garten. Jetzt, wo mich niemand mehr sieht, presse ich die Hand auf meinen Mund, um das Essen in meinem Magen zurückzuhalten.

Ohne nachzudenken, schnappe ich mir einen leeren Blumenkübel und würge ein paar Mal, ohne mich jedoch zu übergeben. Das Herz schlägt schnell und hart in meiner Brust. Ich atme ein paar Mal tief durch. Dann stelle ich den Blumenkübel vorsichtig auf dem Boden ab. Noch immer ist mir schlecht und ich weiß, dass ich unmöglich wieder rein gehen und weiteressen kann. Wenn ich lange genug hier draußen bleibe, gelingt es mir vielleicht, den Hauptgang ausfallen zu lassen. Im Stillen verfluche ich meinen Körper dafür, dass er sich so anstellt. Um ein bisschen runterzukommen schlendere ich durch den Garten, der in einer Terrasse mündet. Von dort aus hat man einen wunderschönen Ausblick über die Stadt.

Ein Wirrwarr aus Hausdächern liegt unter mir. Keines der Gebäude ist jünger als zweihundert Jahre. Das kann man ihnen deutlich ansehen. Alles hier gehört der Vergangenheit an und lediglich meine Vergangenheit ist es, die mich mit diesem Ort verbindet.

Eine ruhige, beinahe magische Atmosphäre liegt wie eine Decke über der Stadt. Der warme Sommerwind bläst mir die salzige Meeresluft in die Lungen und ich kann sogar die Wellen rauschen hören. Selbst wenn das hier nicht der Ozean ist, den ich liebe, hat das Meer doch etwas Besonderes und Beruhigendes an sich. Es wirkt immer noch weit und geheimnisvoll, wenn auch nicht tief und dunkel.

Plötzlich höre ich leise Schritte neben mir und wirbele herum. Können mich meine Großeltern nicht mal für ein paar Minuten allein lassen? Bestimmt sind sie hier draußen, um mich wieder rein zu holen.

Zu meiner Verwunderung blicke ich direkt in Luccas ernstes Gesicht. Was will der denn hier?

„Hier bist du. Die anderen haben sich gefragt, wo du bleibst. Ist alles in Ordnung bei dir?" Statt ihm zu antworten, sehe ich ihn nur böse an. Doch davon lässt er sich nicht beeindrucken. „Schön hier, nicht?", fragt er, stellt sich neben mich an das Geländer der Terrasse und lässt den Blick in die Ferne schweifen.

„Hm", grummele ich, da ich nicht genau weiß, was ich darauf erwidern soll. Klar, es ist richtig schön hier. Trotzdem gehöre ich irgendwie nicht hierher.

Vorsichtig kommt er noch ein Stück auf mich zu. „Du vermisst deine Heimat, stimmt's?" Die Art, wie er mich ansieht, hat nichts Mitleidiges, sondern eher etwas Verständnisvolles an sich. Als wüsste er genau, was ich fühle.

„Und? Was geht dich das an?", blaffe ich, um ein bisschen Abstand zwischen uns zu bringen. Statt zurückzuweichen, kommt er mir jedoch näher. Das Licht der Abendsonne brennt auf meiner Haut. Mein Herz schlägt auf einmal ganz schnell.

„Das ist völlig normal", sagt er und zuckt mit den Schultern, „ich habe mit meiner Familie zwei Jahre lang im Ausland gelebt. Ich weiß wie es ist, den Ort zu vermissen, an den man eigentlich gehört."

Genervt wende ich mich ab, aber er tritt noch einen Schritt auf mich zu. Wenn er nicht gleich leise ist, dann raste ich aus. Es ist nicht so, dass er mich nicht verstehen würde. Ich glaube sogar, dass er ziemlich genau weiß, wie es mir geht. Das Problem ist bloß, ich will nicht, dass jemand meine Situation nachvollziehen kann. Alles was ich will, ist alleine irgendwo zu Ruhe zu kommen.

Luccas fragende Blicke stechen wie Messer in meinen Rücken und jede Faser meines Körpers ist sich der beklemmenden Nähe bewusst. Fast schon automatisch spanne ich mich an. In diesem Moment ertönt plötzlich das Kläffen eines Hundes. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, dass sich dieser Hund im Garten befindet. Da spüre ich auch schon, wie die feuchte Schnauze eines Tieres gegen meinen Knöchel stößt.

Kreischend wirbele ich herum und starre gebannt auf das kleine, schwarze Wollknäuel, das um meine Füße wuselt.

„Hast du Angst vor Hunden?", will Lucca wissen. Dabei legt sich der Anflug eines Lächelns auf seine Züge. Mir bleibt die Spucke weg. Macht er sich etwa über mich lustig?

„Äh...", stammele ich und bringe nicht mehr hervor. Zugegemenermaßen gehe ich ungern in die Nähe von Hunden, seit mich ein Dobermann ins Bein gebissen hat. Damals war ich erst zwölf und die Wunde hat höllisch geblutet. Die Ärzt:innen im Krankenhaus haben einen riesigen Aufstand darum gemacht, dass Bisswunden nicht genäht werden dürfen und so ist eine ziemlich hässliche Narbe an meinem Unterschenkel zurückgeblieben.

„Ist das deiner?", frage ich und versuche dabei so unbefangen wie möglich zu klingen.

„Nein, der gehört deinen Großeltern. Sie haben sich den Kleinen vor drei Wochen zugelegt. Sie dachten, du und Catherine, ihr würdet euch vielleicht über ein Haustier freuen."

Auch das noch! Warum mussten sie sich unbedingt einen Hund kaufen? Hätte es nicht auch eine Katze getan? Wenn sie einmal bei meiner Mutter nachgefragt hätten, hätten sie gewusst, dass ich mit Hunden nun wirklich gar nicht kann.

Immer noch kläfft der Hund und wedelt wie verrückt mit dem Schwanz, der gegen meine Waden schlägt. Vorsichtig trete ich einen Schritt beiseite, doch der Hund umkreist mich. „Hau ab!", zische ich dem Köter zu, aber falls er mich versteht, beschließt er, zu rebellieren, denn er springt sogar an mir hoch. Die kleinen Pfoten legen sich sanft auf meine dunkle Jeans.

Ich weiß, dass diese Tiere niedlich sein können und nicht immer nur zähnefletschende Monster sind, die Kinder anfallen. Trotzdem mag ich sie nicht besonders.

„Ist der überhaupt stubenrein?", frage ich Lucca, um mich abzulenken. Daraufhin zuckt er nur mit den Schultern. „Ich denke, deine Großeltern arbeiten daran."

Ich denke... Na, das hört sich doch echt super an. Ich atme tief ein und versuche, meine Gefühle in den letzten Winkel meines Bewusstseins zu verdrängen. Später werde ich auch noch genug Zeit haben, um ihnen Raum zu verleihen. Jetzt muss ich erstmal das Abendessen mit meinen Großeltern durchstehen.

~

Erst als es schon längst dunkel ist, besichtigen wir unser eigentliches Heim. Es ist ein altes Steinhaus, typisch für eine italienische Altstadt. Außerdem ist es nur zwei Straßen vom Restaurant entfernt, über dem sich meine Großeltern ihre eigene, kleine Wohnung eingerichtet haben.

Laut ihren Aussagen haben sie das Haus, in dem wir leben werden, geerbt und ich kann mir das nur allzu gut vorstellen. Niemand würde so ein heruntergekommenes, baufälliges Haus freiwillig kaufen.

Es ist unglaublich eng überall, aber dafür haben wir drei Stockwerke. Im Hausflur wäre ich beinahe über Umzugskartons gestolpert. Überall stehen unausgepackte Kisten herum. Zum Glück ist das Badezimmer einigermaßen frei von all dem Krempel, sodass ich erst mal in Ruhe duschen kann. Es gibt nichts Angenehmeres, als sich die kühlen Wassertropfen auf den Rücken prasseln zu lassen und zu spüren, wie sie alle Anstrengungen des Tages und der Reise wegspülen.

Das Wasser perlt von meiner Haut ab und zieht in meine Haare ein. Als ich aus der Dusche steige, fühle ich mich ausgeruht und entspannt. Nur ein schwacher Hauch von Traurigkeit bleibt an meinem Herzen kleben. Zu gern hätte ich mein Handy gezückt und mit Maddie telefoniert, aber der Akku muss noch laden.

Resigniert stapfe ich in mein Zimmer, das sich im Dachgeschoss befindet. Die Hitze des Tages staut sich selbst in der Nacht noch unter den Giebeln, sodass ich erst mal das Fenster aufreiße. Draußen zirpen die Grillen. Ich seufze.

Ohne Kate fühle ich mich ziemlich einsam. Zu Hause haben wir uns ein Zimmer geteilt, doch hier schlafen wir in getrennten Räumen.

Erneut seufze ich und wende mich vom Fenster ab. Gerade als ich einen Schritt auf die Matratze zu machen will, die mitten im Zimmer liegt, höre ich ein verräterisches Knarren. Behutsam wippe ich auf den Fußballen auf und ab. Das Knarren ertönt immer wieder. Eine lose Diele. Wie von selbst stoßen meine Finger zum Fußboden hinab und untersuchen die Holzbretter. Falls eines von ihnen wirklich lose ist, muss es schleunigst wieder befestigt werden.

Tatsächlich finde ich den Übeltäter schon nach einer kurzen Suche. Ohne weitere Probleme lässt sich die Diele anheben. Erwartungsvoll schiele ich unter das Holzbrett und hätte um ein Haar geschrien. In dem Fußboden, gut versteckt in einer kleinen Nische, liegt ein dickes, verstaubtes Buch.

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