42. Nichts ist, wie es scheint
Wütend bäumt sich mein Körper unter Serafinos Gewicht auf. Ich versuche, mich gegen ihn zu wehren, doch ich bin zu schwach. Meine Arme und Beine zittern bei der leichtesten Anstrengung. Fast so als hätte ich eben ein zehrendes Krafttraining absolviert. „Lass mich los!", zische ich. Total idiotisch. Als würde Serafino das tun, was ich sage.
Dafür, dass er vor ein paar Minuten noch durch die Luft gewirbelt wurde, ist er nun wieder im vollen Besitz seiner Kräfte. Mit Gewalt drückt er mich zu Boden.
Da wird er auf einmal von mir fortgerissen. Im ersten Augenblick begreife ich nicht, was gerade passiert, doch dann stemme ich mich ächzend auf die Beine.
Was ich sehe, erstaunt mich. Vor mir stehen Serafino und Lucca. Lucca hat Serafino am Kragen gepackt und hält ihn augenscheinlich davon ab, sich erneut auf mich zu stürzen.
„Was soll das, Serafino?", fragt er. Sein Bruder holt mit den Armen aus, um Lucca von sich zu stoßen, doch er erreicht ihn nicht. „Brionny hat mich zuerst angegriffen", ruft er verärgert aus. Er verzieht das Gesicht zu einem wütenden Ausdruck und funkelt mich hasserfüllt an.
Nun wendet sich auch Lucca mir zu. Dabei wirkt er erstaunt, als hätte er überhaupt nicht damit gerechnet, mich hier anzutreffen. Tatsächlich sieht er nun gar nicht mehr so kalt und gefühllos aus wie noch bei unserem letzten Zusammentreffen auf dem Parkplatz.
„Wie kommst du hierher?", fragt er. Seine Stimme klingt leise, fast sanft. Unsere Blicke kreuzen sich, wodurch die Wut in meiner Brust sofort wieder entfacht wird. Seine Nähe löst noch immer eine unbestimmte Übelkeit in mir aus.
Doch bevor ich antworten kann, tritt Serafino seinem Bruder gegen das Schienbein. „Alter, lass mich los!", flucht er.
„Nur wenn du Brionny in Ruhe lässt", erwidert Lucca, der keine Anstalten macht, Serafino den Griff um Serafinos Shirt zu lockern.
„Wegen mir", grummelt dieser und seht dabei zu Boden. Lucca hält ihn noch für ein paar Herzschläge am Kragen gepackt, doch dann öffnet er seine Hand und stößt ihn von sich.
„Brionny... was ist hier los? Klärt mich vielleicht mal jemand auf?", höre ich eine zarte Stimme hinter mir fragen. Augenblicklich wirbele ich herum. Meine kleine Schwester hat sich von dem Schreibtischstuhl erhoben, auf dem sie saß, als ich ins Zimmer gestolpert kam. Sofort stürze ich zu ihr hinüber.
Auf den ersten Blick scheint sie unversehrt zu sein. Sie hat frische, saubere Kleidung an und abgesehen von Striemen an den Handgelenken ist sie unverletzt. Lediglich um die Nase ist sie ein bisschen blass. Besorgt legt sie die Stirn in Falten.
„Kate, geht es dir gut?", frage ich und schließe sie in die Arme. Ihre Haare riechen nach frischem Shampoo. Schwach erwidert sie meine Umarmung.
„Ja, warum sollte es mir nicht gut gehen?", fragt sie und klingt dabei verwirrt und besorgt.
Ich schiebe sie von mir fort und schaue in ihre großen, fragenden Augen. Ich bin verwirrt. Ist wirklich alles in Ordnung mit ihr? Warum hat sie nicht mehr Angst? Oder versucht, sich mit ihrem Element gegen die Cinquenti zu wehren? Mittlerweile müsste ihr doch klar sein, welches Ziel sie verfolgen. Erpresst Lucca sie? Setzt er sie unter Druck? Oder noch schlimmer, leidet sie unter etwas Ähnlichem wie dem Stockholm Syndrom?
„Weil wir es so aussehen lassen haben, als hätten wir dich entführt, um dir etwas anzutun. Damit unsere Farce vor Falcini funktioniert, musste der Geheimbund ebenfalls daran glauben", antwortet Lucca für mich. Erstaunt wirbele ich zu ihm herum. Ich öffne den Mund, doch ich weiß nicht, was ich sagen soll, deshalb schließe ich ihn wieder. Für einen Moment bleibt mir die Spucke weg. Was bedeutet das? Die Cinquenti haben es nur so aussehen lassen, als hätten sie Kate entführt?
„Brionny, was ist denn los?", fragt Kate erschrocken, „ich verstehe das alles nicht. Warum bist du hier?"
„Ich... ich will dich befreien", stammele ich langsam. Plötzlich komme ich mir dumm vor. Da ist etwas, von dem ich nichts weiß. Wie ein fehlendes Puzzleteil, ohne das alles hier keinen Sinn ergibt.
Ich schlucke. Ich muss schleunigst wieder Herrin der Lage werden. Deshalb atme ich zweimal tief ein. Dann wende ich mich Lucca zu. „Was ist hier los?", frage ich mit schneidendem Ton. Schnell mache ich ein paar Schritte auf Lucca zu. Dabei steige ich über die Tür, die in diesen Raum führte und die ich mit der Macht der Artefakte aus den Angeln gerissen habe. Wütend funkele ich ihn an. Lucca erwidert meinen Blick und verzieht dabei das Gesicht, als würde ich ihn zerreißen.
Noch bevor ich ihn erreiche, höre ich hastige, schlurfende Schritte und ein schmerzerfülltes Stöhnen. Abermals wirbele ich herum. Im Türrahmen stehen Emma, Hector, und Ludo. Sie halten Davide, Pietro, Vittoria und Maddie als Gefangene vor sich. Ihre Hände sind mit Kabelbinder gefesselt und über Davides Gesicht zieht sich ein unschöner Kratzer. Sonst sind die vier jedoch wohlauf. Trotzdem setzt mein Herz ein paar Schläge aus. Auch Kate scheint erschrocken zu sein, denn sie fragt mit hoher, zittriger Stimme: „Was geht hier vor sich? Was macht ihr hier? Und warum werden meine Freunde gefangen gehalten?"
„Das kann ich dir sagen", meint Lucca. Doch bevor er zu einer Erklärung ansetzen kann, wird er auch schon von Davide unterbrochen. „Du ekelhafter Bastard. Gar nichts kannst du!", spuckt er ihm entgegen.
„Würdest du dir bitte anhören, was ich zu sagen habe?", wendet sich Lucca an Davide.
„Nur über meine Leiche, du Drecksack!"
„Hör mir zu. Es ist wichtig, dass ihr davon erfahrt. Nichts ist, wie es scheint."
„Ach, verreck' doch an deinem eigenen Speichel, du Hurensohn!"
„Wie hast du mich genannt?" Während die ganzen vorherigen Beleidigungen beinahe wirkungslos an ihm abgeprallt sind, schlägt dieses Wort ein wie eine Bombe. Wütend ballt Lucca die Hände zu Fäusten. Seine Fingergelenke zeichnen sich weiß unter seiner Haut ab. Er macht einen Schritt nach vorne, so als wollte er Davide jeden Augenblick zusammeschlagen.
„Moment!", rufe ich und schiebe mich zwischen Davide und Lucca. „Ich will wissen, worum es geht."
„Das kann ich dir erzählen. Die Cinquenti sind miese Drecksäcke und Lügner", meint Davide, doch nun stellt sich auch Kate mit schüttelndem Kopf zwischen die beiden. „Ich will es auch wissen", sagt sie leise und deutlich, „aber von Lucca."
Der seufzt nur und nickt. „Wie wäre es, wenn ihr die anderen erst mal losbindet?", frage ich, noch ehe Lucca zu einer Erzählung ansetzen kann. „Dabei würde ich mich deutlich wohler fühlen." Wenn die Cinquenti wirklich auf unserer Seite stehen, sollten sie unsere Freunde nicht länger gefangen halten.
Emma, Serafino, Ludo und Hector werfen Lucca einen fragenden Blick zu, woraufhin er nur mit dem Kopf nickt. Unter lautem Seufzen lassen die Cinquenti unsere Freunde los und nehmen Abstand von ihnen, soweit das in dem kleinen Raum möglich ist. Lucca zieht ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche und durchtrennt damit die Kabelbinder. Als er Davides Fesseln löst, zuckt dieser zusammen und ich erwarte fast, dass er auf Lucca losgeht. Doch dann schreckt er lediglich zurück und reibt sich über die Handgelenke.
Maddie und Pietro wechseln einen erstaunten Blick, aber keiner von ihnen sagt etwas oder macht Anstalten, davon zu laufen. Stattdessen wenden sie sich, genau wie alle anderen Anwesenden, Lucca zu. Der atmet daraufhin tief ein, lässt den Blick durch die Runde schweifen und beginnt zu erzählen.
„Ich denke, alle von uns wissen, worum es in den Legenden von Pergula geht. Und jeder von euch kennt auch die Geschichte von Maria Vecca, Bernardo Falcini und seinem Verrat an ihr und dem gemeinsamen Sohn Giacomo", beginnt er. Dann macht er eine kurze Pause und wartet darauf, dass wir alle wissend nicken. Schließlich fährt er mit seiner Erzählung fort.
„Nachdem es Falcini nicht gelungen ist, seinen Sohn zu töten oder ihn und seine Exfrau ausfindig zu machen, hat er mit seiner Macht über das fünfte Element einige seiner Unterstützer in Elementträger verwandelt. Allerdings ging sein Versuch schief und die Körper der Menschen, mit denen er experimentierte, hielten der Magie nicht stand. Sie wurden krank und schließlich starben sie. Nur einige überlebten.
Das sind unsere Eltern, die Cinquenti. Durch die Macht, die Falcini über das fünfte Element hat, konnte er den Willen unserer Eltern kontrollieren und sie dorthin lenken, wo er sie haben wollte. Sie wurden zu willenlosen Marionetten. In ihren privaten Momenten duften sie sie selbst sein, aber sonst waren die der Macht Falcinis ausgeliefert.
Unsere Eltern waren trotzdem nicht stark genug in Falcinis Augen, nur ein billiger Abklatsch der Macht des fünften Elements. Als sich zeigte, dass sein Sohn Giacomo mächtiger war als die Cinquenti, bekam Falcini es mit der Angst zu tun."
„Alter, das wissen wir doch alles schon", unterbricht Davide ihn, „erzähl uns was Neues!"
Hector verdreht genervt die Augen und pflaumt Davide unwirsch an. „Wie soll er denn bitte erzählen, worums geht, wenn du ihn die ganze Zeit unterbrichst?"
„Hey, Leute", schreitet Kate ein, „reißt euch zusammen." Dann wendet sie ich mit aufforderndem Blick Lucca zu. Ein klares Zeichen dafür, dass er weiter erzählen soll. Also holt Lucca noch einmal tief Luft.
„Falcini muss vor Wut getobt haben. Ich habe ihn nur selten gesehen und wenn, dann wirkte er immer ruhig und kontrolliert, aber meine Mutter hat heute noch Angst vor ihm. Er arbeitete jahrelang an einem Konzept für neue Spione und als es schließlich stand, wählte er uns als die neuen Cinquenti aus. Es war kurz nach dem Tod meines Vaters. Wir waren alle nicht älter als sechszehn, als er die Fähigkeit, über das fünfte Element zu herrschen, auf uns übertrug."
Ganz langsam greift er zu seinem Ohrring mit dem Stein des fünften Elements. „Mit Hilfe des Artefakts hoffte Falcini uns mächtiger zu machen als die Elementträger und scheinbar ist es ihm auch gelungen. Zuerst sollten wir allerdings ausgebildet werden und deshalb erhielten wir einmal die Woche von unseren Eltern Unterricht, in dem wir lernten, das fünfte Element zu kontrollieren. Vor etwa zwei Jahren begann Falcini, Hector, Ludo und mir, den drei Ältesten, kleinere Aufgaben zu übertragen. Wir mussten nicht besonders viel machen und haben niemandem ernsthaft Schaden zugefügt. Meistens haben wir nur etwas für ihn geklaut oder so. Nichts Großes. Und falls wir uns ihm dann doch einmal widersetzen wollten, hat er nun... eine ziemliche Überzeugungskraft. Ich glaube, manchmal kann er uns mit dem fünften Element auch seinen Willen aufzwingen."
Als er das sagt, schaudert es mich und Serafino schüttelt sich sogar leicht, so als könnte er damit unangenehme Erinnerungen an Bernardo Falcini loswerden. Gleichzeitig frage ich mich, weshalb Lucca uns seine Geschichte erzählt. Hofft er, dass wir Verständnis für ihn aufbringen und die Cinquenti dadurch gewähren lassen? Hat er dasselbe mit Kate getan? Ihr seine Geschichte erzählt? Ich kann mir nur allzu gut vorstellen, dass meine Schwester dann Mitleid mit ihm bekommt und sich nicht weiter zur Wehr setzt.
„Das entschuldigt aber trotzdem nicht, was ihr getan habt", platzt es aus mir heraus. Lucca seufzt, nickt und zieht die Augenbrauen zusammen. Wieder wirkt er so, als würde ihm das alles unendlich leidtun.
„Letztes Jahr im Sommer sind Ludo, Hector und ich auf Falcinis Befehl bei Maria Vecca eingebrochen. Er wusste, dass sie etwas zu verbergen hatte. Ein Geheimnis, das womöglich sein Ende bedeuten konnte und er wollte wissen, was es war."
An dieser Stelle nickt Davide begeistert. „Wir wussten auch, dass sie ein Geheimnis hatte, aber nicht, worum es sich dabei handelt", flüstert er und seine Augen weiten sich. Als wir alle uns ihm mit genervten Blicken zuwenden, murmelt er jedoch nur: „Entschuldigung." und sieht beschämt zu Boden.
„Es war nicht sonderlich schwer, ins Haus zu gelangen und sie zu finden", fährt Lucca fort, „seltsamerweise schien Falcini in ihrer Nähe gar keine Macht über uns zu haben, denn einen so klaren Verstand wie damals hatte ich noch nie auf einer seiner Missionen.
Wir erwischten Maria in ihrem Bett. Als sie uns sah, wirkte, sie nicht erschrocken, sondern fast so, als hätte sie uns erwartet und als wüsste sie schon längst, wie dieser Tag enden würde. Sie lächelte sogar und sah uns nur mit einem offenen Blick an. Ich habe noch nie so wenig Angst im Gesicht eines Menschen gesehen.
Ihre Ausstrahlung war unglaublich, obwohl sie so zerbrechlich und krank aussah. Ihre Haut war ganz gelb und sie hatte keine Haare mehr. Falcini hat sie uns ganz anders beschrieben als die Frau, die wir letztendlich vorfanden. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, das war offensichtlich und ehe wir etwas tun oder sagen konnten, wies sie uns auch schon an, uns zu setzen. Sie meinte, nichts sei so, wie es schiene. Sie erklärte uns, dass Falcini kein guter Mensch sei, dass er unsere Eltern manipuliert hatte und dass er dunklen, egoistischen Zielen folgte. Maria hatte Beweise dafür, dass Falcini an einigen unserer Familientragödien beteiligt war. So trug er zum Beispiel Schuld am Unfalltod meines Vaters. Wir haben damals hier in Schottland gelebt und Falcini wollte, dass wir nach Italien zurückkehren. Doch statt mit meinen Eltern zu reden, hat er seine Macht demonstriert und die Bremsen des Autos meines Vaters manipuliert. Er hat ihn umgebracht, einfach weil er es konnte und weil er scheinbar gerade Lust dazu hatte. Etwas Ähnliches ist mit Emmas großem Bruder und Hectors Tante passiert."
Nach diesen Worten spricht Lucca nicht weiter. Das Schweigen hängt wie eine bedrückende Decke über uns in der Luft. Ich erkenne, dass sich in Emmas Augen Tränen bilden und dass sie die Zähne fest aufeinander beißt, um nicht weinen zu müssen. Auf einmal erscheint mir Falcinis Handeln noch grausamer als ohnehin schon. Am liebsten hätte ich die Hand nach Lucca ausgestreckt und ihn sachte am Arm berührt, doch ich traue mich nicht.
„Was habt ihr dann getan?", fragt Kate. Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, doch sie kommt mir trotzdem unglaublich laut vor.
„Sie verriet uns, das sie ein Geheimnis hatte und dass niemand, nicht mal der Geheimbund, Bescheid wüsste, worum es sich dabei handelte. Uns hat sie übrigens auch nicht verraten, worum es in ihrem Geheimnis geht, was - glaube ich - auch besser so ist. Bevor sie starb, wollte sie das Geheimnis weitergeben an jemanden, der ihre Aufgabe zu Ende führen und das fünfte Element schließlich besiegen würde."
Ich schlucke. An jemanden, der ihre Aufgabe zu Ende führen würde. An mich. Ist es das, was Maria von Kate und mir will? Dass wir ihr Geheimnis lüften und den Krieg gegen das fünfte Element beenden? Hat sie deshalb das Tagebuch unter den Dielen versteckt?
„Das erklärt aber nicht, warum wir hier sind", wirft Davide mit herausforderndem Blick ein, „was hat meine Großmutter noch zu euch gesagt?"
„Sie meinte, dass es außer der Familie Falcini noch andere lebende Elementträger gäbe, die bald in Erscheinung treten würden und dass wir sie vor der Macht des fünften Elements beschützen sollten", antwortet Lucca.
„Und da habt ihr einfach so eingewilligt?", frage ich erstaunt.
„Nachdem wir genügend Beweise hatten für das, was Maria sagt, ja", antwortet Lucca, „aber es war nicht einfach, als wir auf einmal feststellen mussten, dass alles, woran wir bisher geglaubt haben, nicht stimmt. Und dann mussten wir unsere Erkenntnis ja außerdem vor Falcini verbergen. Das war nicht einfach. In seiner Nähe durften wir nicht mal an Marias Enthüllungen denken, weil er unsere Gedanken lesen kann."
Allein die Vorstellung, dass Falcini in die Köpfe der Cinquenti hineinschauen und in ihnen lesen kann wie in einem Buch, ist unheimlich.
„Irgendwann wurde uns klar, dass wenn Falcini besiegt ist, wir auch frei sein würden. Deshalb waren wir schließlich bereit, uns an Marias Plan zu halten", wirft Ludo ein.
„Der da wäre?", will Davide wissen.
„Maria hat uns genaue Anweisungen hinterlassen, wie wir vorgehen sollten, wenn wir auf die noch lebenden Elementträger treffen", sagt Lucca, „wir wussten nicht, wie viele es sein würden oder ob es sich dabei um Männer oder Frauen handelt. Aber das war nicht wichtig. Maria hat uns einen Plan hinterlassen, mit 41 Punkten, die wir abarbeiten sollten, sobald wir die neuen Elementträger gefunden hatten und Falcini von ihnen erfahren sollte. Maria wollte nicht, dass der Geheimbund von den Elementträgern erfährt. Warum wissen wir nicht, aber ich wette, es hat etwas mit ihrem Geheimnis zu tun. Wir sollten die Elementträger wenn möglich entführen und ihren Tod vortäuschen. Dann sollten wir mit einem Bekannten von ihr in Verbindung treten, der den Elementträgern helfen würde, sich eine neue Identität zu verschaffen und mit ihm gemeinsam würden die Elementträger dann Marias Geheimnis lüften."
„Welchem Bekannten?", frage ich. Eine ungute Vorahnung beschleicht mich.
„Wir wissen nichts über ihn", sagt nun Hector, „Maria hat uns lediglich seine Nummer hinterlassen. Auf der haben wir ihn angerufen und ihm unsere Lage geschildert, aber seit dem ist diese Leitung tot."
„Er ist wohl gerade in den USA", fügt Emma hinzu, „er kann erst übermorgen in Edinburgh sein. Lucca will sich dort mit ihm treffen."
„Und ich komme mit. Damit wir dann alles Weitere abklären können", schließt Kate die Erzählungen ab. Sie wusste also von dem Plan. Etwa schon die ganze Zeit?
Nachdem meine Schwester gesprochen hat, herrscht eine erdrückende Stille. Wie vor drei Tagen breitet sich Fassungslosigkeit in einem Magen aus und das Gefühl zu fallen. Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll und was real ist. Standen die Cinquenti also die ganze Zeit über doch gar nicht auf Falcinis Seite? Versuchen sie tatsächlich, Kates Leben zu retten? Ich würde das gerne so hinnehmen, aber ich habe Angst, erneut in eine Falle aus Manipulation und Lügen zu tappen.
„Warum habt ihr uns nicht einfach davon erzählt?", frage ich vollkommen perplex, „wir hätten uns gemeinsam irgendetwas überlegen können oder zumindest Marias Plan zusammen durchziehen können." Angesichts der neuen Informationen scheint mein Kopf zu explodieren. Ich muss erst mal meine Gedanken sortieren. Doch gleichzeitig spüre ich, dass ich hier der Wahrheit direkt ins Gesicht sehe.
„Oh, ich wollte, dass wir euch einweihen", meint Emma und hebt die Hände, als Zeichen, dass sie unschuldig ist, „aber Lucca war strikt dagegen."
„Er findet dich gut, Brionny. Und er hatte Angst, dass du ihn für ein Freak hältst, wenn du vom fünften Element erfährst und dann nichts mehr von ihm wissen willst. Deshalb", grummelt Ludo, während er sich lässig gegen die Kommode lehnt, die im Raum steht. Bei diesen Worten brennen meine Wangen unangenehm und ich traue mich nicht, in Luccas Richtung zu schauen. Niemand sagt etwas dazu, ich höre nur, wie Pietro abfällig schnaubt. Das führt nicht unbedingt dazu, dass ich mich besser fühle.
„Eins verstehe ich noch nicht so ganz....", beginnt Maddie langsam. Ich bin ihr unglaublich dankbar dafür, dass sie etwas sagt und somit ein neues Thema anschneidet. „Wie wolltet ihr Kates Tod denn vortäuschen?"
„Das steht alles in dem Plan", meint Ludo und hält ihr ein Blatt Papier entgegen. Sie greift danach und liest es sich mit hastig hin und herzuckenden Augen durch. Als sie fertig ist mit Lesen, reicht sie das Blatt Papier an mich weiter. Ich erkenne Marias krakelige, zittrige Handschrift. Plan 41 lautet die Überschrift des Blattes. Darunter sind genau 41 Punkte aufgelistet, was zu tun ist, falls ein Elementträger in Erscheinung tritt. Tatsächlich steht dort auch, wie man am besten den Tod eines Menschen vortäuschen kann, ohne dass die sterblichen Überreste identifizierbar sind.
Punkt 41 lautet: Falls alles schief geht und Falcini hinter diesen Plan kommt, die Elementträger zum Geheimbund der Elemente bringen. Also gibt es doch so eine Art Absicherung. Mir bleibt die Spucke weg. Wie verzweifelt müssen die Cinquenti gewesen sein, dass sie Marias Plan einfach so gefolgt sind, ohne ihn zu hinterfragen?
Kraftlos lasse ich das Blatt Papier in meiner Hand sinken. Dann laufe ich mit wenigen Schritten zu dem Bett hinüber, das mitten im Raum steht und lasse mich auf die Matratze sinken. Angesichts der Tatsachen, die ich soeben erfahren habe, kann ich nicht länger stehen.
„Brionny, es tut mir so leid, dass ich nicht von Anfang an ehrlich war", meint Lucca und lächelt schwach. Seine Wangen sind leicht gerötet. Er sieht unsicher in meine Richtung und ist auf einmal wieder der junge Mann, mit dem ich bei den Ruinen von Pergula saß und der mir von seinem toten Vater erzählt hat.
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Dass alles in Ordnung ist und dass ich ihm verzeihe etwa?
„Das muss ich alles erst mal verdauen", meint Davide und lässt sich zu Boden gleiten. Dort schlägt er die Beine in einem Schneidersitz übereinander. Als wäre das ein Zeichen, setzen sich alle Anwesenden ebenfalls hin. Kate lässt sich neben mir auf das Bett plumpsen.
„Lucca, ich habe noch ein paar Fragen", beginne ich langsam, „warst du bei den Ruinen von Pergula und hast Kate und mich vor den Cinquenti beschützt?"
Daraufhin lächelt Lucca traurig. „Vor unseren Eltern, ja. Meine Mutter war gemeinsam mit Emmas Eltern bei dem Archiv von den Ruinen. Ich weiß nicht, was sie dort wollten, aber ich habe gespürt, dass sie jemanden angreifen werden. Deshalb bin ich so schnell es ging zu den Ruinen geeilt. Dort habe ich euch dann gesehen."
„Wusstest du damals schon, dass wir Elementträger sind?"
„Mit Sicherheit nicht. Aber ich habe es vermutet. Ludo hat Recht. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben und auch nicht, dass ihr etwas damit zu tun haben könnten, weil das... alles verkompliziert." Der rote Glanz auf seinen Wangen wird dunkler und breitet sich über sein ganzes Gesicht aus.
Ich nicke und beschließe, seinen letzten Satz einfach zu ignorieren. „Du hast gemerkt, dass wir vorgestern bei dir eingebrochen sind, oder?"
„Natürlich. Ich habe dich gesehen. Aber ich habe gehofft, dass du die richtigen Unterlagen klaust, die wir vor Falcini versteckt haben und dass du dann darauf kommst, dass wir Kate nur beschützen wollen."
Total absurd, das einfach dem Zufall zu überlassen. Statt Beweise für seine Unschuld zu suchen, habe ich sein Flugticket und den Schlossplan gestohlen und damit seine Lage nur noch schwerer gemacht.
Ich lache leise, als mir bewusst wird, dass ich aus demselben Grund nicht nach der Verbindung zwischen Lucca und den Legenden gefragt habe, den er hatte, mir nichts von den Cinquenti zu erzählen. „Und was machen wir jetzt?", will ich wissen.
Bevor ich eine Antwort auf meine Frage erhalte oder wir gemeinsam überlegen können, was wir nun tun sollen, ertönt ein lautes Poltern. Erstaunt drehe ich mich um. Serafinos ganzer Körper zuckt heftig und obwohl er bereits sitzt, geht er zu Boden. Ein lang gezogener Schrei entschlüpft seinem Mund. Er legt sich die Hände an die Schläfen. Dann hat er jedoch einen kurzen klaren Moment, in dem er sich zusammen krümmt. „Er ist auf dem Weg. Ihr müsst hier weg", flüstert er, bevor er wieder anfängt wie wild zu zucken. Emma und Lucca tauschen einen erschrockenen Blick. Dann flüstert Emma einen Satz, der die Haare an meinen Armen zu Berge stehen lässt. „Falcini kommt."
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