40. Die Gruft

Irgendwann muss ich eingenickt sein, denn als ich die Augen wieder aufschlage, ist der Fernseher aus. Die schwarze Mattscheibe schaut mir gähnend leer entgegen. Im ersten Augenblick weiß ich gar nicht, wo ich bin. Als hätte mir jemand auf den Kopf geschlagen. Alles um mich dreht sich und mein Körper fühlt sich seltsam taub an. Im Wohnzimmer ist es dunkel, bis auf den gelblichen, fahlen Schein der Straßenlaterne, der durch das Fenster in den Raum fällt.

Vorsichtig richte ich mich auf. Dabei gleitet eine dünne Decke zu Boden, die scheinbar jemand über mich gelegt hat. Für einen Moment wird das Drehen in meinem Kopf schlimmer. Es braucht eine Weile, bis sich mein Blick fokussiert. Meine Armbanduhr verrät mir, dass es sieben ist. Also habe ich fast den ganzen Tag verschlafen.

Stöhnend fahre ich mir über die Augen. Wenigstens hatte ich keine Albträume. Mein Schlaf war so leer wie mein Herz. In meinem Magen rumort es. Mir ist seltsam übel und ich beschließe, dass ich erst einmal etwas essen muss, bevor ich mich anderen Sachen widmen kann.

Wie in Trance taumele ich in Richtung Küche. Ich komme mir gar nicht vor wie in der Realität. Alles ist seltsam abgeschnitten und abgeschottet von mir. Ich öffne die Tür zur Küche und werde erneut in eine andere Welt gestoßen. Hier wirkt alles viel echter und ich merke, wie auch ich langsam wieder in der Wirklichkeit ankomme.

Von der Lampe an der Decke strömt helles Licht. Aus dem Radio tönt Musik und der kleine Raum ist voll mit lauten Menschen. Maddies Tante Carol steht am Herd und kocht. Dabei singt sie die Lieder im Radio aus voller Kehle mit. Maddies Halbbrüder Brad und Matthew sitzen sich gegenüber am Tisch und sehen so aus, als würden sie einander mit Besteck abwerfen wollen, wovon Vittoria und Davide sie lautstark abzuhalten versuchen.

Lediglich Maddie und Pietro sitzen in der Ecke und tuscheln miteinander. Deshalb sind es auch die beiden, die mein leises Erscheinen als Erste bemerken.

„Guten Abend, Carol", nuschele ich, woraufhin Maddies Tante herumwirbelt und die Nudeln auf dem Herd für einen Moment ihrem Schicksal überlässt. „Oh, Brionny. Herzlich Willkommen", sagt sie und umarmt mich flüchtig.

„Nini", meint nun auch Maddie und lächelt mich herzlich, aber gleichzeitig auch ein wenig besorgt an, „du hast geschlafen. Da wollten wir dich nicht wecken. Es gibt gleich Abendessen, bevor wir dann bowlen gehen." Dabei zieht sie die rechte Augenbraue nach oben. Das ist unser geheimes Zeichen. Immer wenn sie lediglich ihre rechte Augenbraue hochzieht, während sie etwas sagt, lügt sie und ich soll mitspielen, obwohl ich womöglich nicht weiß, worum es geht.

„Ahja... bowlen", stammele ich. Meine Stimme ist rau und trieft vor Müdigkeit. Aber so erkennt Carol zumindest nicht, dass ich lüge. „Ich freue mich schon darauf", setze ich hinzu, um glaubhafter zu wirken.

„Und ich freue mich, dass ihr uns so spontan besucht, liebe Brionny", meint Carol und schüttet das Nudelwasser ab, „ich finde es richtig toll von dir, dass du deinen Freunden in den Herbstferien Großbritannien zeigst."

Beinahe hätte ich gefragt: „Herbstferien?", aber da zieht Maddie wieder ihre rechte Augenbraue hoch. Scheinbar ist das noch eine andere Lüge, die sie Carol aufgetischt hat, um ihr unseren Überraschungsbesuch zu erklären.

„Ja... das hat sich so... ergeben." Besser ich sage so wenig wie möglich. Nicht, dass sich meine Lügen und die der anderen am Ende noch widersprechen. „Danke, dass wir herkommen durften."

„Ach, für eine Nacht ist das doch kein Problem", winkt Carol ab, „und morgen geht es dann weiter in die Highlands?"

„Ja... Highlands..." Fragend sehe ich meine Freundin an. Woher nimmt sie nur die Ideen für die ganzen Geschichten?

„Die Berge sind wunderschön", meint Carol und verdreht schwärmerisch die Augen, „Schottland ist sehenswert. Vor allem im Herbst, finde ich."

„Oh ja. Aber Brionny muss jetzt erst mal was essen", meint Maddie und nimmt mich bei der Hand. Ich lasse mich von ihr zu einem Stuhl an dem kleinen Küchentisch führen. Ihre Brüder spielen noch immer mit dem Besteck. Nun halten sie einander drohend die Messer unter die Nasen.

„Brad! Matthew! Das reicht jetzt aber!", flucht Carol und nimmt den beiden das Besteck kurzerhand ab. Besonders effektiv ist das allerdings nicht. Nun trommeln die beiden nämlich wütend mit den Fäusten auf dem Tisch.

„Hey", schreit einer der beiden (ich kann die Zwillinge wirklich nicht auseinander halten) und bricht kurzerhand in Tränen aus. Dabei verzieht er ganz hässlich das Gesicht und brüllt, als würde ihm etwas wehtun.

„Entschuldige bitte", ruft Carol über das Geschrei hinweg, während sie die Nudeln auf unsere Teller verteilt. Brad und Matthew bekommen erst mal nichts zum Essen. Vermutlich befürchtet Carol, dass sie sich sonst damit bewerfen oder irgendetwas anderes Kreatives anstellen könnten. Was auch immer Kindern so einfällt.

Die Soße, die sie zu den Nudeln serviert, ist wässrig und stammt vermutlich aus einem Regal für Fertigprodukte bei Tesco. Ich würge nur eine Anstandsportion hinunter. Pietro dahingegen überhäuft Carol mit einer Menge Komplimente für ihr schlechtes Essen, woraufhin diese rot wie eine Tomate wird. Beinahe hätte ich mit dem Kopf geschüttelt. So ein Schleimer! Nachdem Pietro einen Nachschlag verlangt hat, wendet er sich an mich.

„Ich denke, dir ist ja schon klar, dass wir heute Abend nicht wirklich bowlen gehen, oder?", raunt er mir auf Italienisch zu. Mit gerunzelter Stirn sehe ich ihn an. Natürlich ist mir das schon längst klar. Denkt er etwa, ich bin schwer von Begriff? Beinahe hätte ich einen gemeinen Kommentar abgegeben, doch wieder halte ich mich zurück.

„Was habt ihr vor?", antworte ich, ebenfalls auf Italienisch.

„Wir fahren zum schwarzen Schloss. Und dort nehmen wir den Geheimgang von der Familiengruft ins Hauptgebäude des Schlosses. Da wird uns niemand bemerken und so können wir Kate befreien. Das war doch dein Plan. Und es ist die beste Idee, die wir haben."

„Weißt du, wo sie sie gefangen halten?"

„Nein... also ich konnte das den Unterlagen leider nicht entnehmen, aber das Risiko müssen wir eingehen, wenn wir sie befreien wollen."

Damit hat Pietro Recht. Ich bin erstaunt, dass diese Worte aus seinem Mund kommen. An seinem Gesichtsausdruck kann ich jedoch erkennen, dass er nicht wirklich überzeugt ist. Vermutlich haben ihn Davide, Vittoria und Maddie zu dieser Vorgehensweise überredet. Vorsichtig lege ich meine Hand über seine und drücke sacht zu. Daraufhin schenkt Pietro mir ein schwaches Lächeln.

Jetzt, da ich geschlafen und gegessen habe, fühle ich mich deutlich besser als an diesem Morgen. Ich bin erstaunlich ruhig. Die Aufregung und Bedenken bezüglich unseres Vorhabens berühren mich kaum. Im Gegenteil, ich bin froh, endlich handeln zu können. Lediglich ein leichtes Ziehen windet sich durch meine Magengegend, doch es fällt mir nicht schwer, dieses schwache Unwohlsein zu ignorieren.

Nach dem Abendessen stellen wir brav unser Geschirr in die Spüle, dann gehen wir in Maddies Zimmer, um uns fertig zu machen. In einem Kreis stellen wir uns um Pietros Reisetasche auf. Beinahe wie bei einem Ritual. Der Reihe nach verteilt er die magischen Artefakte an uns.

Vittoria behält den Ring ihrer Großmutter und Pietro trägt die Kette, die er auch schon bei sich hatte, als wir Kate zum ersten Mal aus den Fängen der Cinquenti befreien wollten. Davide nimmt sich eine bronzefarbene Manschette, die wirkt, als stamme sie aus dem vorletzten Jahrtausend. Als er sie um sein Handgelenk legt, sehe ich, dass ein mit der Spitze nach oben zeigendes Dreieck in das Metall eingraviert ist. Das Zeichen für Feuerkraft, wie er mir erklärt.

„Möchtest du Wasser nehmen, Maddie?", fragt Pietro. Daraufhin nickt meine Freundin begeistert. Als Schwimmerin war das Wasser für sie schon immer ein besonderes Element. Ihre Wangen glühen vor Vorfreude, als Pietro ihr ebenfalls einen Ring überreicht.

Schließlich wendet er sich mir zu. „Ich weiß, du bist eigentlich eine Elementträgerin, aber wenn du willst, kannst du dir trotzdem ein Artefakt aussuchen."

Dankbar lächele ich ihm zu. Als Elementträgerin würde ich mich nicht bezeichnen. Bis jetzt hat sich die Fähigkeit zu einem Element schließlich nicht bei mir gezeigt.

In Pietros Tasche liegen noch genau vier Artefakte. Für jedes Element eines. Bedächtig schließe ich die Augen und lasse meine Hand über den Artefakten schweben. Ich horche in mein Inneres und warte darauf, dass ich ein magisches Kribbeln spüre, die Verbundenheit zu einem der Elemente, so wie Kate es immer beschrieben hat. Doch wieder ist da nichts in mir. Eine gähnende Leere in meiner Seele. Fast als würde etwas fehlen.

Aber gerade als ich die Augen wieder öffnen will, spüre ich ein leichtes Pulsieren unter meiner Hand. Beinahe als würde eines der Artefakte leise nach mir rufen und zaghaft nach meiner Aufmerksamkeit verlangen. Instinktiv greife ich zu. Erst dann öffne ich die Augen wieder.

In meiner Hand liegt eine kleine, goldene Armbanduhr. Die Zeiger stehen still, doch auf dem perlmuttfarbenen Ziffernblatt ist ein mit der Spitze nach oben zeigendes Dreieck zu sehen, durch das ein senkrechter Strich führt.

„Luft", sagt Pietro und nickt anerkennend, „ich glaube, das passt ganz gut zu dir."

Luft also. Wenn ich mir eines der vier Elemente aussuchen sollte, das mir am nächsten ist, wäre ich hilflos überfordert. Seltsam, wie Kate so instinktiv wusste, welches der Elemente sie befähigt und mir das alles so fremd vorkommt. Vielleicht hat Giacomo Recht und ich trage eine Blockade in mir herum. Warum auch nicht? Und Luft scheint ganz gut zu mir zu passen.

Sanft streiche ich über die Uhr und lege sie dann um mein rechtes Handgelenk. Sie stößt leicht gegen die andere Uhr, die ich aus Gewohnheit immer trage. Trotzdem passt sie wie angegossen. Als hätte sie jemand extra für mich gemacht. Dabei ist sie bestimmt schon mehrere Jahrzehnte alt. Mit der Uhr fühle ich mich sofort etwas sicherer und wohler. Die Leere in meinem Inneren scheint auf einmal zum Teil gefüllt zu sein.

Zusätzlich zu den Artefakten verteilt Pietro Waffen. Er und seine Geschwister nehmen Pistolen. Da wir weder zielen, noch schießen können, erhalten Maddie und ich Messer. Außerdem haben wir Taschenlampen, einen Dietrich und ein Brecheisen. Jede:r von uns trägt einen Kapuzenpulli, dunkle Jeanshosen und Stiefel. Mit der Kleidung komme ich mir ein bisschen kriminell vor.

Nur wenig später tragen wir auch schon unsere Taschen zurück ins Auto und verabschieden uns von Carol. Maddies Tante sieht uns nicht mal richtig an, als wir gehen. Sie wünscht uns lediglich viel Spaß und meint: „Um Mitternacht seid ihr zu Hause." Danach ist sie schon wieder in den Fernseher vertieft, vor dem Brad und Matthew ausnahmsweise auch mal still sitzen. Wieder läuft irgendeine Castingshow.

Maddie bejaht brav und kurz darauf sitzen wir im Auto. Trotz aller Umstände bin ich die Ruhigste in unserer Gruppe. Vittoria zappelt die ganze Zeit herum, während Maddie ständig in überschwängliche Redeschwalle ausbricht, nur um dann wieder in Schweigen zu verfallen. So war es auch in der Schule immer, wenn wir eine besonders schwere Prüfung geschrieben haben oder vor Schwimmwettkämpfen.

Pietro und Davide sind zwar nicht so laut wie die Mädels, doch ich kann erkennen, dass ihre Knie schlackern. Deshalb fahre ich das Auto. Maddie hält währenddessen ihr Handy in der Hand, mit dem sie mich navigiert. Zu Beginn unserer Fahrt spielt sie noch wild mit dem Autoradio herum, bis Pietro sie anfährt, das sein zu lassen. Schuldbewusst verschränkt sie ihre Hände auf ihrem Schoß und beschränkt sich von da an auf die Navigation. Wenn ich ehrlich bin, schmerzt die Stille, die nun herrscht, schon fast in meinen Ohren. Zum Glück fahre ich und muss mich somit voll auf die Straße konzentrieren. Keine Zeit, die Gedanken abschweifen zu lassen. 

Die Fahrt erscheint ewig zu dauern, während dicke Regentropfen auf das Autodach prasseln. Die Scheibenwischer bewegen sich mit einem rhythmischen Geräusch wild zuckend hin und her, während die Scheinwerfer kegelförmig in die Dunkelheit leuchten. Irgendwann weißt Maddie mich an, von der Autobahn abzufahren und die Landstraße zu benutzen. Beim Klang ihrer Stimme zucke ich erschrocken zusammen.

Die Landstraße führt durch einen Wald. Still und verlassen liegt sie in der Dunkelheit. Immer wieder holpern wir über Schlaglöcher. Die Autoscheinwerfer tasten sich einsam die leere Straße entlang und um die engen Kurven. In ihrem Licht fällt seichter Regen und die Bäume am Straßenrand sind nicht mehr als dunkle, große Schatten. „Genauso habe ich es mir immer in Gruselgeschichten vorgestellt", flüstert Vittoria. Sonst sagt jedoch niemand ein Wort. Auch Maddie ist still. Manchmal kommen wir an kleinen Wegen vorbei, die tiefer in den Wald hineinführen. Sie wirken so uneinladen, dass ich freiwillig niemals einen von ihnen genommen hätte. Doch ich ahne schon, dass uns das Schicksal auf genau so einen Weg leiten wird..

Plötzlich ruft Maddie: „Da! Das schwarze Schloss!" Tatsächlich. So unauffällig, dass ich es beinahe übersehen hätte, führt ein Waldweg von der Straße ab. Auf einem mit Efeu überwucherten Wegweiser ist gerade noch so Black Castle zu lesen. Das heißt ja tatsächlich das schwarze Schloss. Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass die Cinquenti sich diesen Namen bloß ausgedacht haben. Als ich die alten Buchstaben lese, läuft ein Schauer über meinen Rücken. Wenn ein Ort schon das schwarze Schloss heißt, dann kann man nichts Gutes erwarten.

Augenblicklich bremse ich das Auto ab und reiße das Lenkrad herum. Auf der nassen Straße rutschen wir mehr, als ich es erwartet habe. Wasser und Schlamm spritzen an den Autotüren hoch, doch wir schliddern nicht in den Straßengraben. Schweiß bricht auf meiner Stirn aus. Das war knapp!

„Fahr ein bisschen langsamer!", weist Maddie mich an. Sofort nehme ich den Fuß vom Gas. In Schrittgeschwindigkeit tuckern wir den Waldweg entlang. In dem fahlen Licht der Autoscheinwerfer spähe ich am Wegrand nach einer guten Stelle, an der ich das Auto abstellen kann. Immerhin würden die Cinquenti mit Sicherheit misstrauisch, wenn sich in dieser einsamen Nacht ein Auto in der Nähe des Schlosses verirrt.

Äste kratzen am Lack, als ich das Auto vom Weg hinunter lenke. Ich meine, Maddie ganz leise murmeln zu hören: „Meine Tante bringt mich um...", doch sonst ist alles still. Der sanfte Niederschlag draußen hat sich mittlerweile wieder in dicke Tropfen verwandelt, die durch das dichte Blätterdach über unseren Köpfen hinabfallen.

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass man das Auto weder von der Straße, noch vom Waldweg aus sieht, stelle ich den Motor ab und steige aus. Noch einmal sehe ich über die Schulter zurück zur Straße, die von meinem Standpunkt aus von vollkommener Finsternis verdeckt wird. Schnell schlage ich die Kapuze meiner Jacke über den Kopf. Trotzdem ist meine Kleidung binnen weniger Atemzüge vollkommen durchnässt. Obwohl der Regen es nicht unbedingt einfacher macht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, verzichten wir auf unsere Taschenlampen.

Hinter meinem Rücken bemerke ich, wie sich Maddie, Pietro, Vittoria und Davide bei den Händen nehmen. Für einen kurzen Moment komme ich mir einsam vor, aber dann schlucke ich meine Gefühle hinunter. Es ist gut, das ich alleine bin. Ich brauche niemanden, der mich bei der Hand nimmt.

Um die Lage zu checken, laufe ich ein Stück vor der Gruppe. So bin ich auch die Erste, die das schwarze Schloss sieht. Still und majestätisch ragt es auf einer kleinen Waldlichtung zu den dunklen Baumkronen hinauf. Massive Steinmauern mitten im verlassenen Wald. Hinter keinem der Fenster brennt Licht, weshalb das Gebäude düster und bedrohlich wirkt. Die Außenfassade ist schlicht gehalten und wird nur ab und zu von Fenstern oder Schießscharten unterbrochen. Ein Teil des Schlosses ist bereits verfallen, aber der Rest ist noch unbeschädigt. Eigentlich ist mehr als die Hälfte des Gebäudes eine Ruine. Ich kann kaum glauben, dass Lucca und seine Familie an diesem kalten, verlassenen und von der Außenwelt abgeschnittenem Ort gelebt haben sollen. Allein der Gedanke daran erscheint mir trostlos.

Ein hohes, dunkles Holztor führt auf den Innenhof des Schlosses . Es ist schwach beleuchtet. Das einzige Zeichen dafür, dass das Schloss bewohnt ist. Vor diesem Tor steht ein Minibus. Das Kennzeichen kann ich auf die Entfernung nicht erkennen, aber ich wette, das ist der von Hectors Familie.

„Sie sind hier", flüstere ich. Mein Herz schlägt schneller und ich weiß, ich bilde es mir nur ein, aber ich meine, Kate in der Nähe spüren zu können. Ein leichter Windstoß fährt über mein Gesicht und durch meine Kleidung.

„Die Familiengruft befindet sich hinter dem Gebäude", stellt Pietro nach einem kurzen Blick auf den Plan fest, „am besten, wir bleiben im Schutz des Waldes."

Hintereinander schleichen wir durch das Dickicht. Das Schloss ist rechteckig aufgebaut. Doch selbst hinter den Fenstern der anderen Schlossflügel brennt kein Licht und auch sonst lässt nichts auf ein Lebenszeichen schließen. Hoffentlich sind die Cinquenti und Kate noch hier. Nicht auszumalen, was es bedeuten würde, wenn wir zu spät wären. Daran möchte ich gar nicht denken. Trotzdem überkommt mich für einen Moment eine essentielle Panik, die ich nur schwer herunterschlucken kann.

Als wir im Schutz des Waldes um das Gebäude herumschleichen, erhasche ich einen besseren Blick über die eingefallenen, von der Zeit zerfressenen Mauern des unbewohnbaren Schlossteils. Selbst in der Dunkelheit erkenne ich, dass die Natur hier einen Großteil des Gebäudes übernommen hat.

Da wir die Cinquenti nicht auf uns aufmerksam machen wollen, verzichten wir noch immer auf unsere Taschenlampen, obwohl es in dem düsteren Dickicht mehr als hilfreich gewesen wäre, sie zu benutzen. Vittoria stolpert gleich zwei Mal über irgendwelche Wurzeln oder Steine. Zum Glück kann sie sich jedes Mal rechtzeitig abfangen, bevor sie hinfällt.

„Hat jemand zufällig ein Taschentuch?", höre ich Davide hinter mir fragen, „meine Nase läuft."

„Benutz einfach deinen Jackenärmel", zischt Pietro ihm ungeduldig zu, woraufhin Davide nur grummelt: „Das ist mega eklig, Mann."

„Seid still", flüstert Maddie, daraufhin nur „es ist nicht mehr weit."

Tatsächlich, vor uns schält sich ein kaltes, pyramidenförmiges, mit Efeu überwachsenes Gebäude aus der Dunkelheit. Die Familiengruft selbst liegt ungefähr fünfzig Meter von dem Schloss entfernt im Wald. Sie wirkt allerdings noch weniger einladend als das Schloss selbst. Obwohl ich nicht viel erkennen kann, hat die Gruft von außen eine so abstoßende Ausstrahlung, dass ich am liebsten auf der Stelle kehrt gemacht hätte. Aber ich werde nicht aufgeben. Nicht solange Kate noch von den Cinquenti gefangen gehalten wird.

Eine schwere Eisentür führt in die Gruft. Natürlich ist sie abgeschlossen, aber gemeinsam mit Davides Feuerkraft, dem Dietrich und dem Brecheisen kriegen wir sie binnen weniger Minuten auf. Dadurch, dass Davide das Artefakt benutzt, stiegt die Umgebunsgtemperatur um ein paar Grad. Allerdings scheint die Magie Davide zu schwächen, denn er keucht, als sei er eben ein paar Kilometer gelaufen und seine Wangen röten sich leicht.

Klatschnass schlüpfen wir in die Gruft. Erst nachdem wir die Tür hinter uns geschlossen haben, trauen wir uns, die Taschenlampen anzuknipsen.

In den tanzenden Lichtkegeln erkenne ich gerade so genug, um zu bemerken, dass hier scheinbar seit Jahren niemand mehr war. Klamme Feuchtigkeit hängt an den Wänden und in der Luft. Schimmelsporen krallen sich in die Wand. Ein aufgeregtes Scharren und Quieken ist zu hören. Ratten vermutlich. Ein eisiger Wind fegt durch den Raum, in dem wir stehen, der nur grob erahnen lässt, dass die Gruft größer ist, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Fröstelnd reibe ich mir über die Arme, auf denen sich unangenehm schmerzhaft eine Gänsehaut aufgestellt hat.

Unruhig tastet das Licht unserer Taschenlampen über Reihen von Grabsteinen. Die meisten von ihnen sind mit Moos bewachsen und ihre Inschriften sind kaum noch lesbar. Das erste Todesdatum, das ich entziffern kann, stammt aus dem zwölften Jahrhundert. Das ist verdammt lange her.

Hinter manchen der Grabsteine befinden sich richtige Grabplatten aus Stein. An einer Stelle steht die Figur eines Heiligen. Allerdings wurde das Gesicht durch die Zeit und die Witterung verwaschen, sodass ich nicht mal sagen kann, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammen. Je weiter wir in die Gruft hervordringen, desto aktueller werden die Daten auf den Grabsteinen. Plötzlich reihen sich fast ausschließlich obsidianfarbene Steine mit einer glatten Oberfläche aneinander, in der das Licht unserer Taschenlampen reflektiert wird, aufgestellt. 05.06.1921 steht auf einem der Grabsteine und dahinter Annemarie Bauer (Feuer). Feuer? Bedeutet das etwa, dass dieser Grabstein der eines Elementträgers ist? Aber diese Annemarie Bauer ist dann doch nicht etwa hier begraben, oder? An dem dunkelsten und trostlosesten Ort Schottlands.

Mein Atem steigt in weißen Wölkchen auf, während ich den Schein meiner Taschenlampe zum nächsten Grabstein hinüber schweifen lasse. 31.10.1928 Jean-Paul Moulante (Luft).

Weitergeht es mit 17.05.1957 Amélie Dupont (Feuer). Amélie Dupont. Das Mädchen aus Marias Tagebuch, das spurlos verschwand. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen.

„So viele Tote allein im letzten Jahrundert", wundert sich Maddie, während sie ehrfurchtsvoll die Reihen entlang schreitet.

„Das sind die Elementträger, die Falcini und die Anhänger des fünften Elements ermordet haben", sagt Davide, „scheiße... sind das viele..." Der Anblick der Grabsteine lässt mich schaudern. Ich glaube kaum, dass all die Elementträger hier beerdigt wurden, dafür wären es zu viele. Allerdings hat sich Falcini hier wohl eine Art Gedenkstätte für die ermordeten Elementträger errichtet.

„Die Menschen müssen schon vor Falcini Jagd auf Elementträger gemacht haben. Manche der Daten sind älter als Falcini selbst", stellt Vittoria fest, „und schaut mal, hier ist unser Großonkel, Matteo Belluco. Er war auch ein Elementträger."

„Und unser Cousin", meint Pietro, „Leonardo Falcini... ich glaube, hier haben die Cinquenti die Namen ihrer Opfer noch einmal festgehalten... wie zum Gedenken oder so..."

Bei dem Anblick von Leonardos Namen steigt ein schwerer Kloß in meiner Kehle auf. Sofort sehe ich Giacomos gequälten Gesichtsausdruck vor mir, als ich ihn fragte, wie er denn seine Familie vor den Cinquenti beschützte. Leonardo war nur wenige Monate alt, als er von den Cinquenti getötet wurde. Nur ein Baby, das für Falcini nicht mal eine Gefahr bedeutete. Er hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Wie eine Blume, die man pflückt, bevor sie blüht und bevor man weiß, ob sie hübsch oder hässlich sein wird.

Doch dann fällt mein Blick auf den Grabstein neben Leonardos und der Boden unter meinen Füßen verschwindet.

10.10.2014 Catherine Peterson (Wasser).

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