4. In eine blinde Zukunft

„Brionny, Catherine, los geht's! Wo bleibt ihr?" Mit hochgerutschtem Rock und der Sonnenbrille im Haar steigt Mum aus der U-Bahn. Kate springt ihr hinterher auf den Bahnsteig und schließlich bequeme ich mich auch aus dem Zug. Schon seit dem Aufstehen fühle ich mich, als würden zusätzliche Gewichte an meinen Beinen ziehen. Fast so, als würde ich versuchen, auf ermüdeten Beinen ein Wettrennen veranstalten.

„Brionny!", fährt Mum mich an, während ich die Koffer auf eine Rolltreppe am Bahnsteig hieve. „Du bist doch sonst so pünktlich, was ist heute mit dir los?" Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich sie an, doch Mum hat sich schon wieder von mir abgewendet und spurtet an anderen Reisenden vorbei die Rolltreppe hoch, während ich mit den Koffern brav warte, bis wir oben angekommen sind.

„Zum Terminal", keucht Mum, sobald wir die elektronische Schranke an der U-Bahn-Station passiert haben.

So sehr ich mich auch anstrenge, sonderlich schnell komme ich nicht voran. Eine Schwere liegt auf meinen Schultern, die es mir unmöglich macht, mich so hastig zu bewegen wie meine Mutter. Dabei ist es nicht ausschließlich meine Schuld, dass wir zu spät sind. Weil mein Handyakku leer war und ich vergessen habe, das Mobiltelefon über Nacht zu laden, waren wir beim Aufstehen auf Mums Wecker angewiesen. Der ging allerdings eine Stunde zu spät.

Mum ist fast ausgerastet, weil wir deshalb einen späteren Zug zum Flughafen nehmen mussten. Ich weiß, der Gedanke ist absolut kindisch, aber ich habe für einen Moment tatsächlich gehofft, Mum würde es sich anders überlegen und in England bleiben, wenn wir unseren Flieger verpassen.

Auf dem Weg zum Terminal werde ich von anderen Reisenden angerempelt. Ich quetsche mich durch das Gewimmel von Leibern. Die Stimmen der Menschen schwellen zu einem Hintergrundrauschen an. Alles ist voll und hektisch. Die vollkommene Reizüberflutung. Trotzdem fühle ich mich wie ein Teil des Ganzen. Jetzt gibt es mich noch, jetzt bin ich noch da. Bald wird Mum mich hier wegreißen und dann ist es so, als hätte es mich nie gegeben. Wie eine Person, die plötzlich auf einem Foto verblasst und nicht mal einen weißen Fleck zurücklässt.

In meiner Handgepäcktasche schlagen die Abschiedsgeschenke meiner Freunde gegeneinander. Ein scharfer Stich durchzuckt mich, doch ich versuche ihn zu ignorieren. Für Gefühle ist später noch Zeit. Im Moment sind sie fehl am Platz.

Hinter Mum und Kate schlurfe ich durch das kühle Terminal. Hier läuft ständig die Klimaanlage, selbst wenn man die bei den englischen Sommern gar nicht braucht.

Der Schalter von der Airline, mit der wir fliegen, ist ganz hinten im Terminal und die Menschen stehen in einer ziemlich langen Schlange an, um einzuchecken.

„Das schaffen wir nie", quängelt Mum, „unser Flieger geht in einer Stunde. Was machen wir denn jetzt?"

„Ich regele das", verspricht Kate und streicht Mum liebevoll über den Rücken. Sie benimmt sich oft viel zu reif für eine Vierzehnjährige.

Lächelnd schlendert meine Schwester auf ein älteres Paar zu, das ganz vorne in der Schlange steht. Ihr Sommerkleid weht dabei um ihre Beine und lässt sie ziemlich hübsch aussehen. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ihre Füße in kirschroten Sandalen stecken. Sie fährt sich mit der Hand durch das kurze, verstrubbelte, schwarze Haar, dann spricht sie das Paar an. Ich kann zwar nicht verstehen, worüber die drei sprechen, doch Kate gestikuliert wild mit den Händen und lacht immer wieder.

Ja, aus der Ferne sieht sie wirklich älter aus als vierzehn. Vielleicht werden wir deshalb manchmal für Zwillinge gehalten, obwohl ich nicht finde, dass wir einander ähnlich sind. Bis auf die dunklen Augen haben wir so gut wie nichts gemeinsam.

Kate trägt gerne bunte, flippige Klamotten, während ich mich meist dunkel und schlicht kleide. Meine Haare fallen in wilden Locken über meine Schultern. Im Gegensatz dazu lassen sich Kates kurze strubbelige Haare kaum bändigen. Außerdem hat ihre Haut, genau wie Mums, einen dunkleren Teint als meine.

Aber auch vom Charakter her sind wir Schwestern von Grund auf verschieden. Kate ist die lebensfrohe, zuvorkommende, spontane und extrovertierte. Ich dahingegen bin zurückgezogen, still und realistisch. Dafür ist Kate ziemlich faul. Sie hasst Sport und Lernen und beruft sich eher auf ihre Kreativität im Malen. Für mich gibt es aber nichts Schöneres als zu schwimmen, joggen oder Sprachen zu lernen. Dieses Hobby trifft ziemlich oft auf Unverständnis. Die Menschen verstehen nicht, weshalb ich meine freie Zeit mit Vokabeln und Grammatik verbringe.

Da winkt uns Kate auf einmal zu. Sieht ganz so aus, als wollte sie, dass wir zu ihr kommen. Also ziehe ich die Koffer und Reisetaschen hinter mir her, während Mum meiner Schwester förmlich entgegen fliegt.

„Die beiden Herrschaften kommen aus Kent", erklärt Kate und zeigt auf das ältere Paar, mit dem sie eben noch gesprochen hat, „sie wollen ihre Tochter besuchen, die in Berlin Physik studiert und sie sind bereit, uns vorzulassen."

Das ist typisch Kate. Wenn sie sich mit jemandem unterhält, kann sie innerhalb weniger Minuten die ganze Lebensgeschichte in Erfahrung bringen. Außerdem ist sie sehr begabt darin, andere davon zu überzeugen, das zu tun, was sie will.

Das Paar lächelt uns freundlich zu und Mum macht den Eindruck, als wäre sie am liebsten vor diesen völlig fremden Leuten auf die Knie gefallen. Dankbar schüttelt sie ihnen die Hände und überhäuft sie mit Komplimenten, bis wir schließlich einchecken müssen.

Ein flaues Kribbeln kriecht meine Eingeweide hoch und so sehr ich mich auch bemühe, die Reise nach Italien aus meinen Gedanken zu verdrängen, es gelingt mir einfach nicht.

Die Stunde, die uns noch bis zum Abflug bleibt, verstreicht unglaublich schnell. Als hätte jemand die Zeiger der Uhr verhext. Während dieser Stunde kann ich nicht widerstehen, mir im Duty-free-Bereich zwei neue Bücher für den Flug zu kaufen. Meine Errungenschaften steckte ich ins Handgepäck zu den Geschenken und einem Kapuzenpulli, der mit dem Spurch "I love Brighton" bedruckt ist. Kitschig, ich weiß. Aber den musste ich kaufen.

Schließlich ist es Zeit, ins Flugzeug zu steigen. Mit dutzenden aufgeregten Fluggästen quetschen wir uns den engen Mittelgang der Maschine entlang. Die meisten von ihnen sind augenscheinlich Tourist:innen. Sie werden für zwei, vielleicht drei Wochen in Italien bleiben, sich jede Menge Sehenswürdigkeiten anschauen, im warmen Mittelmeer baden und dann wieder nach Hause fliegen.

Nachdem alle Platz genommen haben, zeigen uns die Flugbegleiter:innen, was wir im Notfall tun sollen. Kate steckt sich während der Sicherheitsanweisungen demonstrativ die Kopfhörer ihres Handys in die Ohren und dreht den Ton voll auf, sodass ihre Musik bis zu mir rüberdröhnt und ich erkenne, welches Lied sie gerade hört.

Das Flugzeug rollt langsam auf die Startbahn zu, doch dann gewinnt es augenblicklich an Geschwindigkeit. Bevor ich mich versehe, heben wir auch schon ab. Ich werde in den Sitz gepresst und schaue an Kates Strubbelkopf vorbei aus dem Fenster. Die Straßen Londons schrumpfen regelrecht vor meinen Augen, bis die Autos so klein sind wie Spielzeuge.

Auf einmal kommt mir das Leben der Menschen da unten bedeutungslos vor. Mit jeder Sekunde steigen wir höher in die Luft, während sie am Erdboden zurückbleiben. Genau wie meine Vergangenheit. Die bleibt da, irgendwo in Großbritannien, während ich in der Gegenwart sitze, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die Zukunft zufliegt. Auf eine ungewisse, blinde Zukunft.

Wenn ich wenigstens wüsste, was auf mich zukommt, dann würde mir vieles vermutlich leichter fallen. Ich muss wieder an das denken, was Maddie zu mir gesagt hat. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass in Italien etwas Großes auf dich wartet. An diesen Worten versuche ich mich festzuhalten.

Ich muss ein paar Mal schlucken, um den Druck loszuwerden, der sich auf meine Ohren legt, dann durchstoßen wir die graue Wolkendecke am Himmel über London. Im ersten Moment kann ich gar nichts sehen. Dunst wabert auf und ab.

Schließlich jedoch lichtet sich der Wolkennebel und wir erreichen den Ort, an dem immer die Sonne scheint. Ein kleiner Lichtblick. Unter uns liegt ein Meer aus lauter weichen Watteflocken.

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