39. Die Macht der Artefakte

Nach zwei Stunden Flug hängen wir über Frankreich in der Luft. Bewegungslos starre ich aus dem Fenster, als mich unerwartet plötzlich ein panikartiger Anfall überkommt. Eigentlich ist es kein Wunder. So etwas musste ja passieren. Ich habe seit beinahe achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen und mein Körper beginnt, mir Streiche zu spielen.

Es fühlt sich an, als würde mir eine unsichtbare Hand von innen im Hals die Luft abdrücken. Mein Herz schlägt schneller. Eine Hitzewelle strömt durch meinen Körper, doch als ich meine Wangen berühre, sind meine Hände eiskalt.

Die Ambivalenz meiner Gefühle Lucca gegenüber gepaart mit der Angst um meine Schwester führt dazu, dass mir schwindelig wird. In meinem Kopf hallt eine Frage wider: Kate, wo bist du? Quälende Spekulationen purzeln in meinen Gedanken umher. Was passiert, wenn wir zu spät kommen und wir Kate nicht mehr retten können? Wie würde mein Leben ohne meine Schwester aussehen? Ich kann es mir gar nicht vorstellen und ich will es auch nicht. Die einzige Zukunft, die ich vor mir sehe, ist schwarz und düster. Heimgesucht, von dem letzten Moment, in dem ich Kate gefesselt auf der Rückbank des Minibusses liegen sah und geflohen bin, um meine eigene Haut zu retten. Vorwürfe zerfressen mich. Wenn ich bei dem Bus geblieben wäre und mich den Cinquenti gestellt hätte, hätte ich vielleicht mehr für meine Schwester tun können. So aber habe ich mich selbst in Sicherheit gebracht und sie ihrem Schicksal überlassen. Der Hass auf mich selbst ist in diesem Augenblick so groß, dass mir übel wird. Ich ekele mich regelrecht vor mir, vor meinem übermüdeten Körper, ja sogar die Klamotten, die ich trage, sind mir zuwider.

Wäre ich nicht so dumm gewesen, meinen Instinkten das Handeln zu überlassen, dann wäre Kate vermutlich niemals entführt worden. Deshalb muss ich jetzt alles Menschenmögliche tun, um sie zu retten. Das bin ich ihr schuldig. Und meiner Familie ebenso.

Um mich von den düsteren Gedanken abzulenken, krame ich in unserem Handgepäck nach den Plänen des schwarzen Schlosses. Aufmerksam schaue ich sie mir an. Das Gebäude ist rechteckig aufgebaut mit einem kleinen Innenhof. Von den vier Hauptflügeln des Schlosses ist nur einer bewohnbar, die restlichen wurden scheinbar schon vor einigen Jahren dem Zerfall der Zeit überlassen. Im Mittelalter gab es drei Geheimgänge, die aus dem Schloss führten. Ob sie nach all den Jahrhunderten noch begehbar sind, ist eine andere Frage, doch ich halte es für eine gute Idee, den Weg über die Gänge wenigstens einmal auszuprobieren. Wie wir sonst unbemerkt ins Schloss eindringen sollen, ist mir ein Rätsel. Schnell vermerke ich meine Gedanken auf einem Notizblock. Dann schweift mein Blick zu Pietro hinüber. Sein Kinn ist auf die Brust gesunken und er schnarcht leise vor sich hin. Ein leichter Speichelfaden läuft aus seinem halb geöffneten Mund.

Er wirkt friedlich, doch unwillkürlich frage ich mich, ob er tief in seinem Herzen nicht vielleicht zu einem genauso schrecklichen Verrat fähig ist wie Lucca. Was, wenn hinter diesen hübschen, ebenen Zügen teuflische Gemeinheit lauert? Bei dem Gedanken schüttele ich den Kopf. Ich sollte nicht in allem das Schlechteste sehen. Pietro ist ein guter Mensch und vor allem ist er nicht Lucca.

Seufzend schließe ich die Augen und versuche, es Pietro gleich zu tun und mich ebenfalls auszuruhen. Doch jedes Mal, wenn der Schlaf mit weichen Fingern nach mir greift, sehe ich das Bild von Kate vor mir, wie sie gefesselt auf der Rückbank des Busses lag und Lucca, wie er die Hand zur Faust ballte, um das fünfte Element herauf zu beschwören. Immer wieder zucke ich erschrocken hoch. Schweiß läuft über meine Stirn und zitternde Schauer erschüttern meinen Körper. Als schließlich die Landung durchgesagt wird, gebe ich die Schlafversuche auf und spähe wieder mit flatternden Augenlidern durch das kleine, runde Flugzeugfenster nach draußen. Bis auf spärlich beleuchtete, auf und ab wabernde Wolken und Regentropfen, die gegen die runden Fenster klatschen, sehe ich nichts. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es draußen unglaublich kalt sein muss.

Spätestens bei der Landung werden alle wachgerüttelt, was Pietro mit einem genervten Knurren kommentiert. „Wir sind da", sage ich, obwohl das vollkommen überflüssig ist. Statt zu antworten blinzelt Pietro ein paar Mal verwirrt und starrt dann finster vor sich in die Luft, als gäbe es dort etwas Spannendes zu entdecken. Okay. Kurz nach dem Aufwachen spricht man ihn wohl lieber nicht an. Dasselbe gilt für Davide, der so düster dreinblickt, dass alle Passagiere beim Aussteigen gehörig Abstand von ihm halten. Und ich dachte immer, ich wäre diejenige mit dem perfekten Killerblick. Wie es aussieht, kann ich von Davide noch einiges lernen.

Über eine Treppe betreten wir das Rollfeld. Kalter Wind und Regen peitschen uns entgegen. Vittoria und Davide tragen nur T-Shirts und reiben sich nun vor Kälte zitternd über die Arme. „Wow, Diggah! Beschissenes Wetter", schimpft Davide.

An der Grenze haben wir keine Probleme, obwohl Waffen in Pietros Tasche stecken. Schwierig wird es erst, als wir versuchen, ein Auto zu mieten, weil wir zu jung sind. Auch ich als Britin bekomme keinen Leihwagen. Deshalb tauscht Pietro zu einem lausigen Wechselkurs ein paar Euros in Pfund um, mit denen wir einen Taxifahrer bezahlen, der uns in die Stadt bringt.

Während der Fahrt, verwandelt sich die dunkle Schwärze der Nacht langsam, aber gleichmäßig in ein helles Grau. Die Landschaft im Süden Schottlands ist hügelig, ähnlich wie in der Toskana. Trotzdem sieht man deutlich, dass das Wetter hier um einiges rauer und heftiger ist als in Italien. Das Gras leuchtet trotz der Jahreszeit in einem saftigen Grün und der Ozean, der zwischen den Hügeln hervorlugt, ist aufgewühlt und grau. Verfallene Höfe und Landgüter zieren die Felder. Die Gebäude hier wirken geheimnisvoll. Ich frage mich, wie das schwarze Schloss wohl aussieht. Ist es so düster wie sein Name vermuten lässt? Ist es kalt? Und vor allem, wo halten die Cinquenti Kate gefangen? Wieder sehe ich Bilder von meinem inneren Auge. Diesmal meine Schwester, wie sie in einem kalten, feuchten Keller in einer Zelle liegt. Schnell schüttele ich den Kopf, doch das hilft mir leider nicht dabei, die ungewollten Bilder loszuwerden.

Zum Glück dauert die Fahrt nicht lange und wir erreichen schon bald die Stadt. Jetzt kann ich endlich wieder etwas tun und meine Sorgen für einen Moment zurückdrängen.

Das Taxi hält in der Nähe des Bahnhofes Edinburgh Waverley. Von hier aus hat man einen schönen Blick auf die hübsche Altstadt und auf eine etwas neuere Straße mit jeder Menge Läden zum Shoppen.

In der Stadt ist es ein paar Grad kälter als am Flughafen – der Herbstmorgen ist schon beinahe winterlich angehaucht – doch wenigstens regnet es nicht mehr. Im Gegensatz zu den anderen macht mir die Kälte nichts aus. Ich bin so abgeschnitten von der Welt, dass ich kaum noch etwas bewusst mitbekomme. Vermutlich könnten es jetzt auch dreißig Grad sein und ich würde es trotzdem nicht spüren.

Auf der Straße riecht es nach salzigem Wind, Bratenfett und auf dem Asphalt trocknenden Regen. Aus der Ferne ertönen die Klänge eines Dudelsacks. Wenn ich in besserer Stimmung gewesen wäre, hätte ich vielleicht sogar gelächelt. Da erfüllen sich mal wieder die Klischees.

Aber nun müssen wir zunächst ein Hotel oder Café finden, in dem wir planen können, wie wir weiter vorgehen werden. Mit raschen Schritten laufe ich die Straße hinauf. Die anderen folgen mir. Niemand hat eine Ahnung, wo es überhaupt langgehen soll. Nur erst mal weg von hier. Menschen in Anzügen, die zur Arbeit gehen, kommen uns entgegen und Schulkinder rennen in ihren Uniformen an uns vorbei, um den Bus noch zu erwischen.

Da fährt plötzlich ein roter Polo hupend vor uns die Straße entlang. „Idiot", fluche ich dem Auto hinterher, das unweit von uns am Gehweg stehen bleibt und das Warnblinklicht einschaltet. Zu allem Überfluss kurbelt die Person hinter dem Steuer sogar das Fenster hinunter. Das hat mir gerade noch gefehlt! Jemand, der Stress sucht.

Blonde Locken schieben sich ins Freie und ich bleibe erschrocken stehen. Das kann nicht sein! Jetzt halluziniere ich auch noch. Beschissene Übermüdung...

„Brionny!" Ein breites Lächeln ziert Maddies Gesicht, als sie meinen Namen ruft. Überschwänglich streckt sie eine Hand aus dem Fenster und winkt mit wilden Bewegungen auf und ab. Sie wirkt wie immer: fröhlich und aufgedreht. Doch wenn ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass sie hektisch aufgebrochen sein muss, denn sie trägt kein Makeup, dafür aber ihre Brille, was äußerst selten vorkommt. Normalerweise versucht sie es mit Kontaktlinsen. Die hellblonden Haare hat sie am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten zusammen gebunden, aus dem ich dem sich bereits einige Strähnen gelöst haben. Das, was ich von ihrer Kleidung erkennen kann, sieht verdächtig nach einem Pyjama aus.

Schwungvoll reißt sie die Fahrertür auf und steigt aus. „Nini", jubelt sie. Die paar Meter rennt sie regelrecht auf mich zu. Dann umarmt sie mich stürmisch. Schwach erwidere ich ihre Umarmung, woraufhin sie mich besorgt ansieht. „Was ist denn los?", fragt sie und legt dabei die Stirn in Falten.

„Maddie... was... was machst du hier?", stammele ich völlig perplex.

„Dein Großvater hat geschrieben, was passiert ist, dass ihr nach Schottland kommt und dass ihr ganz dringend meine Hilfe braucht", erklärt sie und lächelt dabei.

„Er... er hat dir erzählt, was passiert ist?", frage ich erschrocken und sehe meine Freundin schräg von der Seite an.

„Na ja, er hat mir eine Mail geschrieben, kurz nachdem ihr aufgebrochen seid", meint sie. Ein bisschen bin ich wütend auf Grandpa. Ich wollte nicht, dass Maddie in diese Geschichte mit reingezogen wird. Zugleich bin ich aber auch dankbar dafür, dass wir nicht alleine sind. Ich habe meine beste Freundin schrecklich vermisst und obwohl alles gerade so unglaublich furchtbar ist, freue ich mich, sie zu sehen.

„Ich hab nicht alles, was er geschrieben hat, so ganz verstanden. Aber ich bin für dich da, weil du meine Hilfe brauchst, das ist doch glasklar. Ich drehe schon seit 'ner halben Stunde Runden durch die Stadt und warte darauf, dass ihr ankommt", redet sie weiter. Dann wendet sie sich Pietro, Davide und Vittoria zu, die ebenfalls stehen geblieben sind und Maddie nun erstaunt mustern.

„Oh Mann, jetzt habe ich mich gar nicht vorgestellt... hallo, ich bin Maddie, Brionnys Freundin", sagt sie und streckt den Bellucos auffordernd ihre Hand entgegen. Nur zögernd erwidern sie die Geste und nuscheln ihre eigenen Namen.

Zum Glück kann Maddie ziemlich gut Italienisch. Nachdem sie einen italienischen Urlaubsflirt hatte, wollte sie die Sprache unbedingt von mir lernen - Inklusive Schimpfwörter! - Außerdem fand sie es witzig, sich mit mir in der Pause in einer Sprache unterhalten zu können, die sonst nur wenige Leute auf der Schule verstehen. Seit der achten Klasse engagiert sie sich außerdem in der Italienisch-AG unserer Schule.

Lautes Hupen und wildes Geschimpfe lassen mich erschrocken zusammenzucken. Ein Busfahrer regt sich mit wütenden Gesten über Maddie auf und zeigt immer wieder auf ihr Auto, das die Fahrbahn blockiert.

„Immer mit der Ruhe", ruft Maddie ihm zu und wirkt über seinen Zorn eher belustigt als verärgert. Trotzdem meint sie, wir sollten uns lieber ins Auto setzen und losfahren. Alles andere könnten wir dann in Ruhe auf dem Weg zu ihrer Tante besprechen, bei der Maddie gerade ihre Ferien verbringt.

Die drei Geschwister finden, das sei eine gute Idee. So nehmen sie auf der Rückbank und ich auf dem Beifahrersitz Platz, während Maddie den Motor startet. „Ihr seht ziemlich müde aus", stellt sie fest, „bei Carol könnt ihr euch erst mal ausruhen und etwas frühstücken, bevor ihr mich in eure mysteriöse Geschichte einweiht." Ungeduldig rückt sie die Brille auf ihrer Nase zurecht und lenkt den Polo lediglich mit einer Hand.

„Ich bin froh, dass ich meiner Tante das Auto abschwatzen konnte, sonst hätte das länger gedauert", meint sie und lächelt mich an. Doch ich kann ihr Lächeln nicht erwidern. Deshalb ziehen sich Maddies Mundwinkel schnell wieder nach unten. Die Stimmung im Auto ist unangenehm und drückend. Kurzerhand schaltet Maddie das Radio an. Musik begleitet uns auf dem Weg durch die herbstliche, hügelige Landschaft. Den Straßenschildern folgt Maddie nach Kincardine, einem Dorf, das am Firth of Forth liegt, einem Meeresarm, in dem Maddie und ich früher bei gutem Wetter schwimmen gegangen sind, wenn wir ihre Tante in den Sommerferien besucht haben.

Maddie stellt das Auto auf einem Parkplatz in der Nähe der Küste ab. Nachdem sie den Motor ausgeschaltet und die Lautstärke des Radios runter gedreht hat, sieht sie mich mit ihren großen, müden und verwirrten Augen an. Hilfe suchend wende ich mich zur Rückbank um. Pietro und seine Geschwister halten alle drei die Lider fest geschlossen und atmen schwer und gleichmäßig. Von den Bellucos kann ich nicht viel Unterstützung erwarten. Wie ich sie doch um ihren tiefen Schlaf beneide.

„Nini", flüstert Maddie, „wo ist Kate?"

Erschrocken zucke ich zusammen. Der Name meiner Schwester trifft mich unerwartet. Wie ein Pfeil ins Herz. Ich spüre, dass ein dicker Kloß meine Kehle verstopft. Mein Blickfeld verschwimmt und ich bringe kein Wort heraus. Lediglich ein leiser Schluchzer presst sich zwischen meinen Lippen hervor. Ehe ich begreife, was passiert, fließen die Tränen auch schon wieder.

Stumm blicke ich durch die Frontscheibe hinaus auf die grauen Wolken, die sich in den peitschenden Wellen des Meeres spiegeln. Ich fühle mich zu schwach zum Weinen. Trotzdem wollen die Tränen nicht versiegen. Erschöpft lasse ich den Kopf in meine Hände sinken.

„Hat Grandpa dir nicht erzählt, wo sie ist?", frage ich. Maddie schüttelt mit dem Kopf. „Nur, dass ihr etwas zugestoßen ist", erklärt sie, „ich weiß nicht mehr, aber du bist meine beste Freundin. Deshalb bin ich da, das ist doch klar."

„Ich kann nicht mehr", flüstere ich. Diese Worte stolpern einfach so aus meinem Mund. Die Wahrheit, die hinter ihnen steckt, erschreckt mich. Ich kann nicht mehr. Jede Pore meines Körpers schreit nach einer einfachen Lösung dieser beschissenen Situation. Doch die gibt es nicht. Es sei denn, jemand wüsste eine Möglichkeit, die Zeit zurückzudrehen und Dinge ungeschehen zu machen.

„Oh mein Gott, Nini", flüstert Maddie entsetzt. Es ist das erste Mal, dass sie erlebt, wie ich an meine Grenzen stoße und auch das erste Mal, dass sie mich weinen sieht. Nicht mal nach der Trennung von Jeremy habe ich geweint.

„Sie ist doch nicht... tot." Das letzte Wort flüstert sie nur. So als hätte sie Angst davor, dass es wahr sein könnte, wenn sie es zu laut ausspricht. Und auch Angst davor, wie ich reagiere.

Kraftlos schüttele ich den Kopf. „Noch nicht", erwidere ich trocken.

Ich meine, ein erleichtertes Aufatmen zu hören. Ihre Gesichtszüge lockern sich ein bisschen, doch die Entspannung hält nicht lange. „Was heißt noch nicht?" Erschrocken wendet sie sich mir zu. „Ist sie krank? Hatte sie einen Unfall?"

Als ich höre, worüber sich Maddie Gedanken macht, muss ich lachen. Aber es klingt nicht wie ein Lachen, sondern eher wie eine Verrückte, die nach Luft schnappt. Das alles ist so weit weg von der Wahrheit. Was wird Maddie wohl sagen, wenn sie von den Elementen und den Legenden von Pergula erfährt?

„Ich weiß nicht, ob du mir das glauben kannst", beginne ich, „und um alles zu erklären, brauche ich die Hilfe von den anderen." Mit einer fahrigen Bewegung deute ich auf die drei schlafenden Bellucos, die noch immer auf der Rücksitzbank schnarchen.

Ohne Vorwarnung dreht Maddie die Lautstärke des Radios voll auf, sodass ich erschrocken zusammenzucke. Von der Rücksitzbank ertönt ein Aufschrei von Vittoria und Davide grummelt etwas Unverständliches und vermutlich ziemlich Unfreundliches.

„Guten Morgen, Schlafmützen", brüllt Maddie über den Lärm der Musik hinweg und dreht sich grinsend zu den Bellucos um. Dafür erntet sie drei bitterböse Killerblicke. Aber die Geschwister sind jetzt wenigstens wach.

Sogar ich muss ein bisschen lächeln. Erst in diesem Moment stelle ich fest, wie sehr meine beste Freundin mir gefehlt hat. Allein ihr melodisches Lachen ist wie Balsam für meine Seele.

Nachdem Maddie das Radio ausgeschaltet hat, brauchen die Bellucos noch einen Augenblick, bis sie alle mit verquollenen Augen und zerzausten Haaren das Auto verlassen. Pietro kramt die dicken Winterjacken aus dem Koffer und verteilt sie an alle. Trotzdem blickt Davide so finster, dass Maddie erst mal die nächste Bäckerei ansteuert und dort Croissants und Kaffee für alle kauft. Mit unserem Frühstück setzen wir uns an einen Holztisch und Bänke, die am Strand aufgebaut sind.

Ein kalter Wind weht auf das raue Meer hinaus und aus den Wolken fallen leichte Regentropfen, die sich auf unsere Haare und Kleidung setzten. Bald schon sehen wir aus, als wären wir mit einer leichten Glitzerschicht überzogen.

„Also, was führt euch hierher?", fragt Maddie nach dem ersten Kaffee.

„Ja... ähm... eine etwa 2000 Jahre alte Legende", meint Pietro und lächelt. Dann beginnt er langsam und mit einfachen Worten zu sprechen. Zunächst erzählt er von den Legenden von Pergula, dann von Maria Vecca und dem Geheimbund der Elemente. Schließlich bin ich an der Reihe. Mit allem, was seit dem Sommer passiert ist, fahre ich fort. Während ich rede, lockert sich die dichte, graue Wolkendecke am Himmel und vereinzelt brechen Sonnenstrahlen auf die Erde hinunter.

Davide, der in regelmäßigen Abständen herzhaft gähnt, holt eine zweite Runde Kaffee beim Bäcker, doch als ich endlich fertig bin mit Erzählen, ist mein Getränk komplett kalt. Hastig würge ich es hinunter. Das Koffein rast durch meine Adern und verschafft mir einen kurzen, klaren Augenblick. Trotzdem hilft das nicht gegen das mulmige Gefühl in meinem Magen. Ein leichtes Kribbeln legt sich auf meine Fingerspitzen und Lippen.

„Wow", sagt Maddie und starrt mich an, „krass." Mehr kommt nicht von ihr. Sie ist absolut sprachlos. An ihrem Blick kann ich jedoch erkennen, dass sie mir glaubt. Denn wir sagen einander immer die Wahrheit. Ausnahmslos. Wenn überhaupt, dann verschweigen wir einander etwas.

Mit abwesendem Blick starrt meine beste Freundin auf das Meer hinaus. Ihre Gedanken sind weit weg von den Wellen, die immer wieder auf den Strand donnern und dann wieder zum Horizont zurückgezogen werden. Doch was genau ihr gerade durch den Kopf geht, kann ich nur erraten.

Davide räuspert sich und fährt mit einer Hand durch sein strähniges Haar. „Ich muss mal", verkündet er, „wo gibt's hier ein Klo?" Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht an einem Restaurant  am Strand. Aber die haben um diese Tageszeit noch nicht auf. Meine Armbanduhr verrät mir, dass es gerade einmal zehn Uhr morgens ist. Dabei sagt mir mein Körpergefühl, dass wir bereits auf den Nachmittag zusteuern. Wie die Zeit zu kriechen scheint, wenn man die Nacht durchmacht.

„Geh einfach am Strand auf und ab, da wirst du schon irgendwas finden", schlage ich Davide vor.

„Na toll, dann mache ich eben in den Busch", grummelt er und erhebt sich langsam. Mit betont lässigen Schritten setzt er sich in Bewegung. Dabei greift er sich immer wieder zwischen die Beine. Was für ein Jammerlappen!

„Ist alles in Ordnung?", will ich wissen. Vorsichtig berühre ich Maddie an der Schulter. Unter der Berührung zuckt sie zusammen. Sie braucht einen Augenblick, bis sie ihre Aufmerksamkeit fokussiert, doch dann lächelt sie mich traurig an. „Das klingt alles so unglaublich... ich meine... Kate... Ich kenne sie, seit sie vier Jahre alt ist. Ich kann das einfach nicht glauben", stammelt sie.

Am liebsten würde ich antworten: „Ich auch nicht", aber das entspricht nicht der Wahrheit. Im Nachhinein habe ich doch irgendwie gespürt, dass da mehr ist und dass eine Verbindung zwischen Kate und dem Wasser besteht. Aus welchem anderen Grund war sie selbst ohne Training und mit Abstand immer die beste Schwimmerin? Und weshalb sonst hätte sie als Kind Stunden in der Badewanne verbringen können, ohne dass ihre Hände jemals runzlig wurden?

„Und Lucca...", fährt Maddie fort, „er war immer so nett. Okay, am Anfang war er ein Arsch, aber dann... Ich hatte, das Gefühl, dass ihr euch richtig gut versteht."

Als Maddie Lucca erwähnt, wird meinem Magen ein leichter Stoß versetzt. Es fühlt sich genauso an wie früher immer, wenn sie von Jeremy sprach. Dieses Gefühl wird vorübergehen, das weiß ich. Jetzt sollte ich mich lieber auf Kate konzentrieren. Doch dadurch tut Luccas Verrat nicht weniger weh.

„Ja, das dachte ich auch", gebe ich zu. Diesen Worten folgt wieder eine unangenehme Stille. Was Pietro sich gerade denkt, kann ich mir nur allzu gut vorstellen. Von Anfang an hat er mich vor Lucca gewarnt. Seine Familie hat ihn sogar auf einem Kinderfoto von uns entfernt. Doch ich habe das alles als lächerliche Feindseligkeiten abgetan und wollte nicht auf Pietro hören.

Schließlich wendet sich Vittoria zaghaft an Maddie. „Möchtest du sie mal sehen?", fragt sie.

„Wen denn?"

„Die Macht der Artefakte", antwortet Vittoria, „die magischen Gegenstände, mit denen selbst normale Menschen eines der Elemente beherrschen können."

Daraufhin nickt Maddie. „Super gern. Vielleicht wird das Ganze dadurch ja ein bisschen realer." Ein zartrosa Glanz legt sich auf Maddies Wagen. Ihr schwaches Lächeln verrät, dass sie aufgeregt ist. Trotzdem scheint sie gleichzeitig noch etwas verwirrt zu sein. Aber wer würde es ihr verübeln?

Langsam greift Vittoria in ihre Jackentasche und zieht einen goldenen Ring hervor. Er ist mit einem kleinen Diamant besetzt, der in dem schwachen Sonnenlicht funkelt. „Dieser Ring gehörte meiner Großmutter", sagt sie, „Bernardo Falcini hat ihn ihr zur Verlobung geschenkt."

Während sie den Ring über ihren Finger streift, frage ich mich, wie sich Maria Vecca wohl gefühlt haben muss, als sie ihn zum ersten Mal trug.

Bevor ich jedoch mehr darüber nachdenken kann, kommt eine heftige Windböe auf, die über den Strand auf das Meer hinaus fegt. Einzelne Strähnen ihres blonden Haares tanzen um Vittorias Kopf und die Luftzüge reißen an ihrer Jacke.

So ein starker Wind an der Küste ist nicht ungewöhnlich und man könnte die Luftstöße für einen Zufall halten, doch dann bilden sich starke Ströme auf Vittorias flacher, nach oben zeigender Handfläche. Ein bisschen sieht der Luftstrudel aus wie ein Minitornado, in dem einzelne Sandkörner auf und ab tanzen. Mit einem erschrockenen Laut schlägt Maddie die Hände vor dem Mund zusammen. Ein müdes, aber zufriedenes Lächeln legt sich auf Vittorias Gesicht, während sie den kleinen Wirbelsturm langsam in sich zusammensacken lässt.

„Abgefahrene Affenkacke!", ruft Maddie und greift sich dabei an ihren Hals, „und so etwas kann jeder?"

„Ja, jeder Mensch. Welches Element du benutzt hängt allerdings davon ab, welcher Elementträger dein Artefakt aufgeladen hat", meint Vittoria, „wenn er Luft beherrscht, dann beherrschst du mit deinem Artefakt auch Luft."

„Und... willst du es auch mal probieren?", fragt Pietro. Maddie nickt. Ihre Wangen glühen regelrecht und die Begeisterung kann sie nun nicht mehr verbergen. Erwartungsvoll sieht sie die Geschwister an und verändert ihre Sitzposition.

Vorsichtig zieht Vittoria den Ring von ihrem Finger und legt ihn vor Maddie auf den Tisch. Die greift zaghaft nach ihm, als könnte sie sich verletzen, wenn die das Schmuckstück berührt. Doch es passiert nichts, als ihre Finger über das Metall fahren und so streift sie sich schließlich den Ring über.

„Was muss ich tun?", will sie begeistert wissen.

„Also... du musst eine Verbindung zwischen dir und der Luft herstellen", erklärt Pietro, „und der Ring hilft dir dabei. Am Anfang ist es ziemlich schwierig und es braucht viel Übung, bis man es gut beherrscht."

„Okay", meint Maddie und schließt die Augen. Die Handinnenflächen richtet sie dabei nach oben, so wie Vittoria es getan hat. Nach nur ein paar Atemzügen öffnet sie die Augen jedoch wieder. „Es funktioniert nicht!", jammert sie enttäuscht. Diese Ungeduld ist typisch Maddie. Gegen meinen Willen lache ich. Pietro und Vittoria ebenfalls. Das Lachen fühlt sich an, als würde eine unglaublich schwere Last von meinen Schultern genommen. Maddie tut mir besser, als ich angenommen habe.

„Naja... du musst tiefer in dich gehen", erklärt Pietro, „ein bisschen wie beim Yoga oder Meditieren. Hast du so etwas schon mal gemacht?"

„Pfff... nicht wirklich erfolgreich." Bei diesen Worten grinst sie mich an. Wir haben ihre Mutter mal zu einem Yogakurs begleitet, weil wir – aus welchem Grund auch immer – etwas für unsere Spiritualität tun wollten. Die Kursleiterin war eine Frau mit extrem tiefer Stimme. Jedes Mal, wenn sie uns irgendwelche Anweisungen gab, hörte sie sich an, als würde sie aus tiefster Seele genüsslich stöhnen. Wir haben uns kaum noch eingekriegt vor Lachen. Es war zum Schreien. Schließlich hat die Kursleiterin die Geduld verloren und uns rausgeworfen.

„Versuch es einfach nochmal", meint Pietro.

Erneut schließt Maddie die Augen und dieses Mal bleibt sie sogar für eine erstaunlich lange Zeit still. Fasziniert sehe ich die ruhigen, ebenmäßigen Züge meiner Freundin an. Ihre Haut ist ungewöhnlich blass und auf ihrer Nase zeichnen sich dutzende kleine Sommersprossen ab. Ein paar der blonden Locken haben sich aus dem Knoten an ihrem Hinterkopf gelöst und tanzen nun im Wind leicht um ihr Gesicht. Wie vertraut sie mir doch ist, obwohl wir einander jetzt beinahe vier Monate nicht gesehen haben. Sie ist, genau wie Kate, ein Teil von mir, auf den ich nicht verzichten möchte.

Auf einmal fegt ohne jegliche Vorwarnung eine Sturmböe über den Strand. Sandkörner werden aufgewirbelt und der Druck ist so heftig, dass die Bank, auf der Pietro, Maddie und ich sitzen, umgeworfen wird. Schreiend kippen wir nach hinten. Ich kann mich gerade noch so abfangen, bevor mein Kopf mit voller Wucht auf den Boden knallt. Für einen Atemzug sehe ich regelrecht Sternchen vor meinen Augen. Als ich aufsehe, erkenne ich, dass Piero einen Arm schützend unter Maddie hält, die aus ihrer Trance noch nicht wieder aufgetaucht ist.

Der Windstoß ebbt so plötzlich ab, wie er aufgetreten ist. Nach nicht weniger als ein paar Sekunden öffnet Maddie auch schon erstaunt die Augen. Im ersten Moment blickt sie sich verwirrt um, so als wisse sie nicht, wo sie gerade ist. Doch schließlich stellt sie fest, dass wir alle drei auf dem Boden liegen und sie fängt herzhaft an zu lachen.

„Oh mein Gott, das ist so abgespaced. War ich das?", fragt sie und deutet grinsend auf die ebenfalls am Boden liegende Bank.

„Ja", antwortet Pietro, nicht halb so begeistert wie meine beste Freundin. Kopfschüttelnd richtet Maddie sich auf und klopft sich den Sand von den Klamotten. Dann streckt sie Pietro ihre Hand entgegen, an der er sich hochzieht. Auch ich rappele mich auf.

„Oh mein Gott", wiederholt Maddie und stemmt die Arme in die Seite. Ich erkenne, dass sie leicht zittert. Der Luftzauber hat sie scheinbar geschwächt. Oder sie ist überwältigt von der Magie.

„Wie hat es sich angefühlt?", will ich wissen. Kate hat immer eine tiefe Verbundenheit zu dem Wasser beschrieben, die in den geheimnisvollsten Winkeln ihrer Persönlichkeit verborgen liegt. So geheimnisvoll, dass nicht mal sie selbst sich ihrer bewusst war.

Jedes Mal, wenn sie ihr Element benutzte, war ein magisches Kinstern zu spüren. Fast so, als würde man einem besonders charismatischem Menschen begegnen. Während Maddie die Macht des Artefakts benutzt hat, habe ich nichts Vergleichbares wahrgenommen. Vielleicht war dazu aber auch nur zu wenig Zeit.

„Ich kann es schwer beschreiben", überlegt sie, „fast so, als würde ich tatsächlich meditieren und die Welt um mich herum deutlicher wahrnehmen. So als würde ich ein Teil von ihr werden."

Das ist interessant. Im Gegensatz zu Kate, deren Kontrolle zu einem Element scheinbar eine interne Quelle besitzt, kommt die Magie der Artefakte von außen.

„Diggah, was ist denn hier passiert?", murrt Davide, der gerade von seiner Suche nach einer Toilette zurückgekehrt ist. Er steht ein paar Meter von der umgekippten Bank entfernt, hat die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt und runzelt skeptisch die Stirn.

„Wir haben ein bisschen experimentiert", sagt Maddie begeistert und zuckt mit den Schultern.

Gemeinsam stellen Maddie und ich die Bank wieder auf. Dann gibt Maddie Vittoria den Ring zurück. „Das war unglaublich", staunt Vittoria, „für den Anfang hast du das schon ziemlich gut hinbekommen."

„Naja, ich glaube, das war auch genug für heute", gibt Maddie zu bedenken. Noch immer zittert sie leicht. Der Zauber der Artefakte zehrt scheinbar nicht nur von der Kraft eines Elementträgers, sondern auch von der des Menschen, der das Element benutzt. „Und Maddie, du kennst nicht zufällig einen Ort, an dem wir uns ein bisschen gemütlicher ausruhen können?", möchte Davide daraufhin wissen.

„Aber klar doch", meint Maddie. Vom Strand ist es nicht weit bis zu dem Haus ihrer Tante. Mit dem Auto brauchen wir nicht lange.

Maddies Tante wohnt in einem schmalen, grün gestrichenen Reihenhaus. Der Vorgarten ist nicht besonders gepflegt, zwischen den einzelnen Platten des Weges, der zur Tür führt, sprießt das Unkraut hervor, aber der Rasen ist gemäht und das Herbstlaub ist notdürftig zusammengefegt.

Im Haus führt Maddie die Bellucos in das Zimmer, das sie sich mit ihren Brüdern Brad und Matthew teilt, wenn sie ihre Tante besucht. Es ist ziemlich winzig. Für mehr als zwei Stockbetten, einen Kleiderschrank und einen Tisch mit zwei Stühlen ist kein Platz.

„Wo sind die zwei kleinen Teufel und deine Tante denn?", frage ich neugierig. Bis jetzt habe ich noch nichts von Maddies Verwandten gesehen. Brad und Matthew sind die reinsten Chaoten. Wären sie hier, hätten wir ihre Anwesenheit schon längst bemerkt.

Ein bisschen mache ich mir Sorgen wegen Maddies Tante Carol. Sie war eigentlich immer ziemlich nett zu mir, wenn wir zu Besuch waren, aber trotzdem dürften wir in Erklärungsnot kommen, wenn Maddie einfach so vier Menschen in ihrem Haus einquartiert. Außerdem hat sie es nicht verdient, auch noch in die Geschichte mit den Elementen verwickelt zu werden.

„Sie sind im Zoo in Edinburgh", meint Maddie, „und danach wollen sie shoppen gehen. Ich glaube kaum, dass sie vor heute Abend nach Hause kommen. Gottseidank!"

„Was sagen wir, wenn Carol wissen will, weshalb wir da sind?", frage ich.

„Dass ihr mich spontan in euren Ferien besuchen gekommen seid", meint Maddie leichthin, als wäre nichts Großes dabei, „Carol wird nicht misstrauisch. Sie hinterfragt so gut wie nichts, das man ihr vorsetzt." Hoffentlich hat Maddie damit Recht. Wenn nicht, müssen wir uns einen anderen Ort suchen, um unser weiteres Vorgehen zu planen. Doch zunächst wollen sich die Bellucos erst einmal ausruhen. Mit so müden Köpfen könnten sie nicht denken, erklärt Vittoria und ich muss einsehen, dass sie Recht hat. Auch ich fühle mich zerschunden und unendlich erschöpft. Ich glaube kaum, dass ich in meinem Zustand noch etwas Sinnvolles produzieren kann.

Nacheinander gehen Pietro, Davide und Vittoria ins Badezimmer, um sich umzuziehen und die Zähne zu putzen, bevor sie sich schlafen legen. Mal ganz ehrlich, die drei haben im Flugzeug und im Auto doch schon stundenlang gepennt. Müssten sie dann nicht jetzt hellwach sein?

Nachdem sich die Bellucos in die Stockbetten im Gästezimmer gelegt haben, verziehen Maddie und ich uns mit unserem Gepäck ins Wohnzimmer, wo wir uns erst mal auf das Sofa fallen lassen. Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, ich aber in der Stille nicht mit meinen Gedanken allein sein will, schalte ich den Fernseher an. Hauptsache, mein Kopf bekommt irgendeinen Input und ich muss mich nicht mit Kate beschäftigen. Oder mit Lucca. Ich will nicht denken. Um jeden Preis.

Auf den Kanälen läuft beinahe rund um die Uhr irgendeine Serie oder Castingshow. An diesem Morgen wird die Wiederholung von Britain's got talent ausgestrahlt. Müde schaue ich zu, wie ein Talent nach dem anderen auf die Bühne steigt und dann nach einem kurzen Feedback von der Jury wieder verschwindet.

„Nini...", beginnt Maddie schließlich, „wie geht es dir?"

Vor dieser Frage habe ich mich am meisten gefürchtet. Ich kann so gut wie nichts vor Maddie verbergen. Vermutlich weiß sie schon längst, dass ich am Ende meiner Kräfte bin. Seufzend verberge ich mein Gesicht hinter meinen Händen.

„Ganz ehrlich... ich will einfach nicht darüber reden." Wenn ich jetzt meiner Freundin auch noch schildere, wie es mir geht, breche ich wieder in Tränen aus und das möchte ich nicht.

Wie gerne würde ich all meine Sorgen vergessen und einfach nur noch hoffen, dass es uns gelingen wird, Kate zu befreien. Aber ich kann nicht.

„Ist schon in Ordnung", meint Maddie und nimmt mich in den Arm, doch diese Nähe ist mir zu viel. Es kostet mich mein letztes bisschen Selbstbeherrschung, sie nicht von mir wegzuschieben.

„Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass etwas passieren wird", beginnt meine beste Freundin, „in der letzten Zeit konnte ich nicht wirklich gut schlafen und ich hatte immer dieses komische Gefühl..." Fast schon beiläufig streicht sie sich über den Magen. Schweigend starre ich auf den flimmernden Bildschirm des Fernsehers. Was soll ich dazu sagen? Als Maddie merkt, dass ich ihr nicht antworten werde, seufzt sie, fährt dann aber fort. „Wisst ihr denn schon, was ihr tun wollt, um deine Schwester zu befreien?" Mit ihren großen Augen sieht Maddie mich von der Seite an.

„Ja", antworte ich und nicke zu meinem Rucksack hinüber, „da sind Pläne vom schwarzen Schloss. Ich glaube, es ist irgendwo in den Highlands. Auf einem der Pläne sind Geheimgänge eingezeichnet, die in das Schloss führen. Ich dachte, vielleicht versuchen wir einfach, dort einzubrechen und sie zurück zu bringen." Noch während ich das ausspreche, merke ich, wie verzweifelt unser Vorhaben klingt. Ohne Hoffnung auf Erfolg. Aber es ist alles, was ich für den Moment habe.

„Darf ich mir das mal ansehen?", fragt Maddie zaghaft.

Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande. Während meine Freundin die geklauten Pläne aus meinem Rucksack fischt, starre ich nur auf den Bildschirm und sehe teilnahmslos tanzenden, Flickflack-schlagenden Kindern und dressierten Hunden bei ihrer Show zu. In mir ist alles leer. Vor meinen Augen sind nur verschwommene, bunte Bilder. Ich konzentriere mich darauf, sie zu meinen Gedanken zu machen und Worte aus meinem Kopf zu verbannen.

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