38. Vier

Dicke Regentropfen drückten sich gegen die Fensterscheiben der Häuser und liefen dann in dünnen Rinnsalen am Glas hinab. Feuchtes Herbstlaub wurde von den heftigen Winden aufgewirbelt und klatschte gegen Hauswände und Straßenlaternen. Es war unglaublich kalt und nass. Wenn es sich vermeiden ließ, trat an diesem Abend kein Mensch mehr vor die Haustür.

Wind und Regen beherrschten die Gehwege und Fahrbahnen. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht, da die Bewohner versuchten, es sich an diesem schroffen Herbstabend so gemütlich wie möglich zu machen. Zu ihnen gehörte auch die junge Frau, die hinter der doppelglasigen Fensterscheibe eines grün gestrichenen Reihenhauses saß. Gedankenverloren starrte sie nach draußen in die unergründliche Schwärze. Lediglich die Beleuchtung ihres Laptopdisplays erhellte ihre blassen Züge und das blonde Haar. In der Hand hielt sie eine Tasse dampfenden Tee, an dem sie ab und zu vorsichtig nippte.

Die Frau sah müde aus, dabei hatte sie bereits seit einigen Tagen frei. Trotzdem hatte sie schon lange nicht mehr richtig geschlafen. Sie fühlte sich wach und aufgeregt, beinahe schon etwas kribbelig. Hätte man sie gefragt, hätte sie den Grund für ihre innere Unruhe nicht benennen können. Alles, was sie wusste, war, dass sie das Gefühl hatte, etwas Großes, Unaufhaltsames rolle auf sie zu. Etwas, das ihr ganzes Leben durcheinander bringen würde.

Ihre Augen brannten. Gleichzeitig tränten sie. Am liebsten hätte sie ihre Lider fest geschlossen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie ihre Kontaktlinsen nun schon zu lange trug. Am klügsten wäre es wohl, wenn sie die Kontaktlinsen aus den Augen nehmen und ihre Brille aufsetzen würde. Aber sie rührte sich nicht.

Nur langsam wandte sie den Blick von der nachtschwarzen Fensterscheibe ab und ließ ihn zu dem grell beleuchteten Laptop hinübergleiten. Das E-Mailpostfach und WhatsApp-Web waren geöffnet. Bereits seit Tagen wartete die Frau sehnsüchtig auf eine Nachricht ihrer besten Freundin. Es war ungewöhnlich, dass sie sich nun schon so lange nicht mehr gemeldet hatte. Die junge Frau begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Als sie ihre Bedenken früher am Tag beim Mittagessen geäußert hatte, hatte ihre Tante nur beinahe gleichgültig mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Daran ist doch nichts Ungewöhnliches. Deine Freundin ist in Italien. Vermutlich hat sie eine super Zeit und vergisst, dir zu schreiben. Das ist normal. Du verhältst dich ja schon fast, als würdet ihr eine Beziehung führen." Misstrauen gehörte einfach nicht zu der Natur ihrer Tante. Sie hinterfragte so gut wie nichts und nahm alles so hin, wie es war.

Bei diesem Gedanken schüttelte die Frau den Kopf. Nein, sie wusste es besser. Ihre beste Freundin war nicht die Art von Person, die vergaß, zu schreiben, nur weil sie viel zu tun hatte. Wenigstens für ein knappes „Es geht mir gut, wie läuft's bei dir?" über WhatsApp hatte sie Zeit. Ihre Freundin hielt sich zwar für einen unemotionalen, unabhängigen Menschen, aber die Frau wusste es besser. Tief drinnen besaß sie ein warmes Herz, das vielleicht sogar sensibler und verletzlicher war als das der meisten anderen Menschen.

Die junge Frau massierte seufzend ihre geschlossenen Augenlider. Dann wandte sie sich wieder ihrem Laptop zu und wollte ihn gerade zuklappen, als ihr E-Mailpostfach blinkte. Eine neue Nachricht. Der Absender war unbekannt. Bestimmt Werbung. Warum war sie nicht im Spamfilter gelandet?

Eigentlich wollte die Frau auf das rote X in der Ecke klicken, doch ihre Hand verrutschte auf dem Touchpad und so befahl sie dem Computer versehentlich, die Mail zu öffnen. Die neue Nachricht enthielt keine Werbung, nicht mal eine Information vom Mailanbieter, sondern einen Text, der eindeutig an sie adressiert war. Unterschrieben hatte ihn ein gewisser Timothy Peterson. Der Großvater ihrer besten Freundin.

Der Atem der jungen Frau stockte und ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. Neugierig lehnte sie sich vor, um den Text zu lesen. Ihre müden Augen huschten von Zeile zu Zeile. Die Worte auf dem Bildschirm beschleunigten ihren Herzschlag noch mehr.

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