35. Schattenfinger

„Wie bitte?" Nun ist es Pietro, der mich entgeistert anstarrt. Natürlich, der Vorschlag kommt für ihn aus dem Nichts und ist vollkommen unbegründet. Um ehrlich zu sein, es ist auch eher der Mut der Verzweiflung, der mich dazu antreibt und vielleicht ein bisschen Rache. Trotzdem scheint es mir das Einzige zu sein, was wir in dieser Situation tun können.

„Also, Lucca wollte mit uns auf seine erste eigene Wohnung anstoßen und Emma hat damals betont, wie ideal die Wohnung doch sei, um Sachen zu lagern. Sachen, die nicht mal Falcini dort finden würde. Ich bin mir sicher, sie hat Giacomo damit gemeint, was bedeutet, dass die Cinquenti dort wohl irgendwelche geheimen Dokumente lagern wollen", schlussfolgere ich. „Außerdem war Hector ziemlich wütend, weil Emma vor Kate und mir davon gesprochen hat. Vielleicht finden wir da ja heraus, wo sie Kate hingebracht haben. Wir müssen nur genau nachschauen."

Noch immer sieht mich Pietro zweifelnd an, doch dann nickt er langsam mit dem Kopf. „Das macht Sinn", überlegt er leise, „am besten, ich sage Giacomo Bescheid."

„Nein!" Sofort bin ich auf den Beinen, um ihm den Weg zu versperren. So ganz vertraue ich Giacomo nicht. Natürlich, theoretisch beherrscht er alle vier Elemente und ist der Gründer des Geheimbundes, aber seine zwei Kinder möchte er trotzdem nicht in Gefahr bringen. Ich habe nicht vergessen, dass Giacomo mir deutlich gesagt hat, er könne mir nicht versprechen, ob wir Kate wirklich retten. Falls ich tatsächlich etwas bewirken möchte, muss ich alleine handeln.

„Wenn wir erst bei Lucca einbrechen und Giacomo dann gleich zeigen, was wir gefunden haben, helfen wir ihm mehr", versuche ich Pietro zu überreden, „immerhin hat er im Moment genug zu tun."

„Und wenn wir erwischt werden?", fragt Pietro und legt die Stirn in Falten. Ihm gefällt die Idee überhaupt nicht, das kann ich ihm nur allzu deutlich ansehen.

„Werden wir nicht. Du hast doch auch gehört, dass Lucca gesagt hat, bis Mitternacht muss er die Grenze erreichen, oder?"

„Und wenn wir von Nachbarn gesehen werden?"

„Pietro, glaub mir. Ich war schon ein paar Mal dort. Luccas Nachbarschaft ist nicht unbedingt aufmerksam. Da kümmert sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten."

Obwohl ich versuche, so überzeugend wie möglich zu sein, brauche ich einiges meiner Überredungskunst, damit Pietro einwilligt, mit mir zu kommen und nicht sofort zu Giacomo rennt und petzt. Nachdem ich ihm gedroht habe, alleine zu gehen, wenn er sich weiterhin so anstellt, knickt er jedoch ein und ich gönne mir ein flüchtiges, triumphierendes Lächeln.

„Okay", beginne ich, „wir brauchen dunkle Klamotten, damit wir so unauffällig wie möglich sind. Und habt ihr einen Dietrich, damit wir überhaupt in die Wohnung kommen?" Ob Lucca irgendwo einen Ersatzschlüssel versteckt hält, weiß ich leider nicht. Aber wenn, hätte er es mir sowieso nicht verraten.

Schließlich haben wir alles zusammen gesucht, das wir für unser Vorhaben brauchen und es bleibt nur noch die Frage, wie wir nach Grosseto kommen. Das Auto kann ich auf jeden Fall schon mal nicht nehmen. Pietros Mercedes hat einen Totalschaden und mit dem Auto seiner Eltern können wir nicht fahren, da sie sonst mit Sicherheit wissen wollen, wofür wir es um diese Uhrzeit brauchen. Bleiben also nur noch die Fahrräder von Pietros Geschwistern. Die stehen im Schuppen hinter dem Haus. Schon hier fangen die Schwierigkeiten an.

Vom Esszimmer, in dem sich die Mitglieder des Geheimbundes ebenfalls eingerichtet haben, hat man den perfekten Blick auf den Hinterhof und den Eingang zum Schuppen. Deshalb schleichen wir uns vorsichtig durch das Badezimmerfenster im Erdgeschoss nach draußen und dann durch das Gebüsch weiter, möglichst bedacht darauf, dass uns niemand entdeckt. Die letzten Meter bis zum Schuppen müssen wir jedoch im hellen Schein der Gartenbeleuchtung zurücklegen. Gut sichtbar für die Mitglieder des Geheimbundes, die im Esszimmer herum wuseln.

Unruhig schiele ich zu der hell beleuchteten Fensterfront des Esszimmers hinüber. Von hier aus erkennt man deutlich die vielen Tische und Menschen, die dort arbeiten. Ich sehe, wie Alessia sich das Handy gegen das Ohr hält und beim Teleofonieren wild mit der freien Hand gestikuliert. In dem Durcheinander kann ich Giacomo oder Signor Belluco allerdings nicht ausmachen, aber nur ein paar Sekunden später erreichen wir zum Glück auch schon den Schuppen.

Die Fahrräder sind, genau wie die Autos der Bellucos, nur von den besten Marken. Sie haben allerlei unnötigen Schnickschnack und sind auf Hochglanz poliert. Das von Davide wirkt sogar wie ein professionelles Rennrad, soweit ich das mit meinem ungeschulten Auge beurteilen kann.

Mit klopfendem Herzen schieben wir die Räder aus dem Schuppen und an der Villa vorbei. Noch immer hat uns niemand entdeckt. Nervös sehe ich zu dem Haus hinüber, doch alle scheinen so sehr in ihrer Arbeit vertieft zu sein, dass sie uns nicht bemerken. Auf dem Vorhof stehen jedoch ein paar Mitglieder des Geheimbundes, um zu rauchen. Gottseidank hören Pietro und ich schon von weitem ihre lauten Stimmen, sodass wir im Schatten der Bäume stehen bleiben und warten.

„Wenn ihr mich fragt, ist das alles ziemlich aussichtslos", krächzt einer der Raucher hustend. Er hat eine markante, unangenehme Stimme, die schlimmer klingt als eine quietschende Tür. „Die Cinquenti sind jetzt viel mächtiger als Alessia und Philippe."

„Was ist mit der neuen Elementträgerin?", will eine Frau wissen.

„Brionna Peterson?", fragt eine dritte Stimme.

„Meiner Meinung nach nützt sie nicht besonders viel. Falls sie überhaupt ein Element besitzt", erwidert der Krächzer, „ihre Fähigkeit hat sich ja bis jetzt noch nicht gezeigt, obwohl sie schon achtzehn ist."

„Ich verstehe das nicht", überlegt die Frau, „glaubt ihr, dass Ernesto da mit drinnen steckt?"

„Warum sollte er? Er hat seine Familie vor Jahren verlassen und dem Geheimbund den Rücken zugekehrt. Meines Wissens, um mit einer seiner Studentinnen in die Staaten durchzubrennen." Dem Satz folgt ein ungesund klingender Husten.

„Aber sollten wir dann nicht wenigstens Kontakt zu ihm aufnehmen und ihm sagen, dass seine Töchter Elementträgerinnen sind?", hakt die Frau nach.

„Seit Jahren schon hat niemand mehr Kontakt zu Ernesto. Zumindest niemand, mit dem ich gesprochen habe. Nicht mal seine Exfrau weiß, wo er ist", behauptet der Krächzer.

„Fiona weiß überhaupt nichts", mischt sich nun die dritte Stimme wieder ein, „den Geheimbund hat Ernesto ihr gegenüber schließlich auch mit keinem Wort erwähnt."

Moment! Fiona? Meine Mutter? Eine ungute Ahnung beschleicht mich. Mir wird zuerst eiskalt und dann heiß. Wenn diese Menschen tatsächlich von Mum reden, dann muss Ernesto mein Vater sein. Aber was genau hat er mit dem Geheimbund der Elemente zu tun? Vermutlich war er ein Mitglied. Trotzdem will ich mehr wissen.

Mit angehaltenem Atem schleiche ich ein wenig vor, damit ich die Leute besser verstehen kann. Vor lauter Spannung achte ich jedoch nicht auf meine Füße, weshalb ich in der Dunkelheit mit meinem Schuh gegen einen Blumenkübel stoße. Ein lautes Klonk unterbricht das Gespräch der Rauchenden. Erstarrt bleibe ich im Schatten der Bäume stehen und spähe erschrocken zum hell erleuchteten Vorhof. Die Menschen, die dort stehen, kann ich von hier aus nicht erkennen, aber ich spüre, wie sie sich zu Pietro und mir herumdrehen und versuchen, mit ihren Blicken in die Dunkelheit vorzudringen.

„Was war das?", fragt der Krächzer und scheint für einen Moment aufmerksam in die Nacht zu lauschen. Ich traue mich nicht einmal Luft zu holen, obwohl meine Lungen nach frischem Sauerstoff schreien.

„Ach, bestimmt nur eine der Katzen, die hier herum streunern", meint die zweite Stimme und es klingt, als würde der Mensch, dem sie gehört, eine abwertende Bewegung mit der Hand machen.

„Ja, jetzt lasst uns wieder reingehen. Mir ist kalt", meint die Frau. Ihre Stimme zittert ein bisschen. Es dauert noch ein paar Minuten, bis die drei ihre Zigaretten fertig geraucht haben. Dann höre ich, wie die schwere Haustür auf- und zugeht. Wir sind wieder alleine.

„Hast du das gehört?", flüstere ich erschrocken in Pietros Richtung.

„Ja", wispert er zurück.

„Denkst du, dieser Ernesto ist mein Vater?", frage ich.

„Keine Ahnung", antwortet er, „aber das ist jetzt auch egal. Wenn du nicht vorsichtiger bist, dann geht dein tolles Vorhaben schief." Seine Stimme trieft nur so vor Ironie. Aber noch mehr ärgert es mich, dass er mich überhaupt nicht versteht. Jahrelang habe ich nichts von meinem Vater gehört. Ich weiß ja nicht mal, wie er heißt oder aussieht. Da ist es nur verständlich, dass ich so auf das leiseste Lebenszeichen von ihm reagiere. Vor allem, wenn er etwas mit dem Geheimbund der Elemente zu tun hat.

Ich schlucke meine bösen Erwiderungen auf Pietros Gleichgültigkeit herunter. Was hätte ich von ihm auch schon erwarten sollen? Dass er meine Situation versteht, kann ich da schlecht verlangen.

Nebeneinander schieben wir die Fahrräder über den Kiesweg, bedacht darauf, so leise wie möglich zu sein. Gerade als wir das Hoftor passieren und uns auf der spärlich beleuchteten Straße auf die Fahrräder schwingen, wird die Haustür wieder geöffnet. Augenblicklich treten wir so feste in die Pedale, dass wir die Villa Belluco schnell hinter uns lassen. Hoffentlich hat niemand bemerkt, dass wir weggefahren sind. Aber da uns kein Auto folgt, gehe ich nicht davon aus.

Die Nacht ist einsam und kühl. Im schwachen Licht des Mondes wirkt alles grau-weiß. Die leuchtende Farbenpracht, die man tagsüber hier bewundern kann, ist erloschen. Alles kommt mir so fahl und ohne Gefühl vor. Doch das kann auch gut an der gähnenden Leere in meinem Inneren liegen. Es ist, als wäre ich ein mir fremder Mensch in einer unwirklichen Szenerie.

Auf der Straße nach Grosseto begegnen uns kaum Autos. Sobald wir in der Stadt sind, übernehme ich die Führung, wobei ich darauf achte, die Hauptverkehrsstraßen zu meiden, was bei meinen Ortskenntnissen nicht besonders einfach ist.

Wir erreichen das Haus, in dem Lucca wohnt, früher, als ich es beabsichtigt habe. Niemand ist auf der Straße bis auf ein paar streunernde, abgemagerte Katzen. Die schwarzen Klappfensterläden des Hauses, in dem Lucca wohnt, sind zugezogen. Nirgendwo brennt ein Licht. Meine Armbanduhr zeigt an, dass es zwanzig nach drei ist. Zu spät, um noch wach zu sein, aber zu früh, um schon aufzustehen. Eigentlich die ideale Uhrzeit, um unter der Woche bei jemandem einzubrechen.

Mein Herz hämmert, als wir die Fahrräder an der Hauswand abstellen. Wenn die Polizei uns erwischt, wissen wir nicht mal, was wir sagen sollen. Die Geschichte mit den Elementen wird uns schließlich niemand abkaufen.

Aber der Einbruch ist das Einzige, was ich im Moment tun kann, um Kate zu helfen. Also schiebe ich all meine Zweifel und Skrupel beiseite. Pietro gelingt das scheinbar nicht so gut, denn seine Hände zittern leicht.

Ständig sieht er sich nach Autos und Fußgängern um. Deshalb nehme ich den Dietrich von ihm und weise ihn an, Wache zu halten. Einmal streift eine der Straßenkatzen sein Bein, weshalb er erschrocken zusammenzuckt, doch sonst werden wir von niemandem gestört. Das Schloss der Haustür ist alt und so fällt es mir nicht schwer, es zu knacken. Ganz anders sieht es bei Luccas Wohnung aus. Scheinbar wurden hier Tür und Schloss erst kürzlich ausgetauscht.

Beinahe zehn Minuten lang stochere ich mit dem Dietrich in dem Schloss herum, bis Pietro ein verängstigtes Wimmern von sich gibt. „Beeil dich doch", wispert er.

„Ich hab's gleich, stell dich nicht so an!", gebe ich zurück.

Ich drehe den Dietrich geduldig auf und ab, bis das Schloss mit einem lauten Klacken nachgibt und die Tür aufspringt. „Hat das jemand gehört?", will Pietro wissen und schaut sich in alle Richtungen um.

„Komm schon", zische ich und ziehe ihn hinter mir in die Wohnung. In Luccas Zimmer ist es unordentlich. Ein muffiger, abgestandener Geruch hängt in der Luft. Fast so, als hätte er seit Tagen nicht mehr richtig gelüftet. Vorsichtig ziehe ich die Tür hinter mir zu.

Die paar Quadratmeter, die Lucca zur Verfügung hat, geben nicht besonders viel Lagerfläche für geheime Dinge her. Als Küche dient lediglich eine kleine Kochnische, in der sich das dreckige Geschirr und Essensreste stapeln. Sonst finden noch ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch ihren Platz. Ich beleuchte die Umgebung mit dem fahlen Lichtkegel meiner Taschenlampe. An der Wand kann ich die Bilder erkennen, die Kate ihm zum Einzug geschenkt hat. Ein scharfer Stich durchzuckt meinen Magen und meine Wut auf Lucca wird für einen Augenblick noch größer.

Auch das Chaos, das in der ganzen Wohnung herrscht, ist unübersehbar. Auf dem Boden liegen überall bereits getragene Klamotten verstreut, die er nach dem Ausziehen achtlos fallen gelassen hat. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Papier und Bücher sowie alte Zeitungen aufeinander. Scheinbar waren die letzten Tage für ihn ziemlich stressig, sonst hätte Lucca sich die Zeit genommen, zumindest ein bisschen aufzuräumen. Das Gefühl von Leben und Lucca sind hier fast schon greifbar. Im schwachen Lichtkegel meiner Taschenlampe erkenne ich jedoch, dass wir allein sind.

Vorsichtig schleiche ich näher zum Schreibtisch. Es ist nur eine vage Ahnung, aber ich glaube, dass wir hier die meisten Informationen finden können. Während ich mich durch die Unordnung am Schreibtischkämpfe, lässt Pietro den Schein seiner Taschenlampe über das Regal schweifen, in das mehrere Bücher achtlos geschoben wurden. „Hier steht die Alchemie der Elemente von Falcini...", stellt er fest, „soll ich das einpacken?"

„Ja, wenn du denkst, dass wir es gebrauchen können", antworte ich. Ich glaube schon fast, nichts auf dem Schreibtisch zu finden, als mir plötzlich ein eng beschriebenes Blatt Papier in die Hand fällt. Eliminationsliste der Elementträger lautet die Überschrift. Die meisten Namen auf der Liste sind durchgestrichen, doch fünf von ihnen sind noch deutlich lesbar.

Prof. Dr. Giacomo Bernardo Falcini – Feuer, Wasser, Erde, Luft

Alessia Maria Falcini – Feuer

Philippe Giovanni Falcini – Erde

Catherine Peterson – Wasser

Brionny Peterson – (?)

Die letzten beiden Namen wurden erst kürzlich hinzugefügt. Mit Sicherheit von Lucca. Seine Schrift ist unverkennbar. Außerdem ist die Tinte, mit der sie auf dem Papier festgehalten wurden, noch nicht alt und verblasst. Ich ziehe scharf die Luft ein.

Da ertönt plötzlich eine laute Stimme auf dem Hausflur. Erschrocken wechseln Pietro und ich einen Blick. Erstarrt bleiben wir stehen, bis die Stimme näher kommt und ich verstehen kann, was sie sagt.

„Ja... Hector... ja warte mal, ich bin gleich zu Hause." Ein eiskalter Schauer durchzuckt mich. Lucca! Pietro löst sich zuerst aus seiner Schockstarre und kriecht hinter die Umzugskartons, die unter dem Bett liegen. Ich dahingegen hechte in den halb geöffneten Kleiderschrank und verstecke mich hinter ein paar T-Shirts und Jacken, die von den Bügeln hängen.

Im Schrank selbst ist es unglaublich eng, weshalb ich darauf hoffe, nicht entdeckt zu werden. Am liebsten hätte ich mir noch ein anderes Versteck gesucht, aber dafür ist es bereits zu spät. Mehrere Sekunden verstreichen, in denen mein Herz laut in die Dunkelheit schlägt. Dann höre ich den Schlüssel in der Wohnungstür. „Hm... komisch", sagt Lucca, „ich hätte schwören können, dass ich abgeschlossen habe."

Schon im nächsten Moment wird die Tür geöffnet und das Licht eingeschaltet. Helligkeit flutet in den Schrank. Instinktiv weiche ich noch ein bisschen mehr zurück, um mich hinter weiteren Kleidungsstücken zu verbergen. Durch einen schmalen Spalt in der Schranktür kann ich in Luccas Zimmer sehen. Er trägt dieselben Klamotten wie heute Mittag und steht mitten im Raum, das Handy gegen sein Ohr gepresst. Scheinbar ist er so sehr mit seinem Gespräch beschäftigt, dass er um sich herum sonst kaum etwas wahrnimmt, denn er spricht ziemlich heftig und erregt.

Geh weg! Verschwinde! Komm mir bloß nicht näher!", hallt es in meinem Kopf wider.

„Ich habe dir doch erklärt, wie wir es machen werden. Was ist das Problem?"

Das Telefon klemmt er beim Sprechen zwischen seine Schulter und sein Ohr. Währenddessen schlüpft er aus seiner Hose und befreit sich elegant von seinem T-Shirt. Die Klamotten lässt er zu den anderen Kleidungsstücken auf seinem Boden gleiten. Schnell schließe ich die Augen. Ich will nicht sehen, wie Lucca sich auszieht.

„Wird er nicht. Ein paar Tage haben wir schon noch", raunt er ins Handy.

Ich höre, wie er zu seiner Küchennische läuft und sich dort ein Glas Wasser einschenkt, das er mit wenigen Schlucken leert.

„Ach Quatsch! Jetzt seh' mal keine Gespenster. Ihr habt doch alles vorbereitet, oder? Habt ihr euch schon bei unserem Kontakt gemeldet?"

Wieder Stille.

„Siehst du, dann dürfte alles glatt laufen. Habt ihr die Grenze passiert?"

Beim Sprechen läuft Lucca durch sein Zimmer. Schließlich bleibt er vor seinem Schreibtisch stehen. Vorsichtig öffne ich die Augen wieder und spähe zwischen den Jacken hindurch. Lucca wühlt in dem Blätterchaos herum.

„Seltsam...", murmelt er dabei zu sich selbst. Heiß und kalt durchzuckt es mich. Hoffentlich bemerkt er nicht, dass ich seine Unterlagen durchsucht habe. Oder noch schlimmer, dass ich etwas dort liegen gelassen habe.

Fast schon panisch greife ich nach der Taschenlampe und dem Dietrich in meiner Jackentasche. Alles an seinem Platz. Beinahe hätte ich erleichtert aufgeatmet, doch im letzten Moment presse ich meine Hand auf den Mund.

„Super. Plan 41 steht. Morgen Abend komme ich mit dem Flieger nach. So gegen zwölf müsste ich in Edinburgh landen. Holst du mich dort ab?" In Edinburgh? Haben die Cinquenti Kate dorthin gebracht? Hat Pietro nicht etwas von einem Schloss in Schottland erzählt? Das würde doch passen.

„Perfekt." Für einen Augenblick schweigt Lucca wieder und hört seinem Gesprächspartner zu. Dann fährt er sich seufzend über das kurze Haar.

„Ich denke, ich werde zu meiner Mutter gehen. Wir müssen noch ein bisschen was besprechen. Wie geht's Kate?"

Bei der Erwähnung des Namens meiner Schwester zucke ich erschrocken zusammen. Schon im nächsten Moment verfluche ich mich dafür. Wenn ich weiterhin so unvorsichtig bin, erwischt Lucca mich noch.

„Okay. Also die Fesseln an den Beinen kannst du denke ich schon lösen. Und dann wartet auf mich. Ich möchte noch einmal mit ihr reden, bevor wir..."

Brennende Wut kocht in mir hoch. So fest es geht, kralle ich meine Finger in den Stoff von Luccas Mänteln. Am liebsten wäre ich aus dem Schrank gesprungen, um mich auf ihn zu stürzen und auf ihn einzuschlagen.

„Okay. Sehr gut. Wir sehen uns dann morgen Nacht."

Mit diesen Worten nimmt Lucca das Handy vom Ohr und wirft es unachtsam auf sein Bett. Alles an ihm widert mich an. Von der Unordnung bis hin zu seinem halbnackten Körper, der sich nun langsam auf den Schrank zubewegt. Erschrocken halte ich die Luft an. „Bitte lass ihn nicht den Schrank öffnen. Bitte mach, dass er sich wieder umdreht!", flehe ich. Aber wie immer werden meine Stoßgebete nicht erhört.

Schwungvoll reißt Lucca die Schranktür auf und ich sehe ihm genau ins Gesicht.

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