32. Waldbrand

Minuten kriechen in die gespenstische Stille. Je mehr Zeit vergeht, desto unruhiger werde ich. Unter großen Anstrengungen richte ich mich auf. Durch den Rückspiegel sehe ich nur den verlassenen Parkplatz. Weit und breit ist nichts von Lucca, Emma, Serafino, Ludo oder Hector zu entdecken. Wo sind die bloß? Haben sie uns allein gelassen?

Bevor ich mehr darüber nachdenken kann, wird die Beifahrertür aufgerissen. Zwei hellblaue Augen blitzen mich an und ein braungebranntes Gesicht schaut mir entgegen. Pietro!

„Na endlich!", zische ich ihm zu, „das wurde aber auch Zeit!"

„Danken kannst du mir ja später... wir müssen uns beeilen", flüstert er, „die Cinquenti sind die Straße runtergelaufen, um zu sehen, ob die Luft rein ist. Und dabei werden sie mein Auto entdecken. Mehr als ein paar Minuten bleiben uns nicht." Mit ein paar geschickten Handgriffen löst er meine Fesseln. Wirkt fast so, als hätte er so etwas schon öfter getan.

Sobald ich frei bin, schlüpfe ich neben ihm aus dem Minibus und wir schleichen uns zur Hintertür, um Kate zu befreien. Ehe wir sie erreichen, tauchen jedoch die Silhouetten der Cinquenti am Rande des Parkplatzes auf.

„Lauf!", wispert Pietro mir zu und wirbelt herum. Für einen Moment stehe ich unentschlossen neben dem Auto. Soll ich fliehen? Oder soll ich meiner Schwester helfen? Eigentlich ist es keine Frage. Natürlich will ich Kate retten. Aber wie soll ich das anstellen, wenn ich selbst wieder gefesselt werde?

Da sehe ich aus den Augenwinkeln, wie Lucca die Hand hebt. Kaltes Grauen packt mich. Er wird das fünfte Element einsetzten. Das weiß ich genau. In diesem Moment verlässt mich mein Verstand. Mein Instinkt übernimmt das Handeln. Wie von selbst setzen sich meine Beine in Bewegung. So schnell ich kann, hetze ich Pietro hinterher, tiefer in den Wald. Dreck und trockenes Laub werden dort, wo ich vor ein paar Sekunden noch stand, aufgewirbelt. Die finstere Macht des fünften Elements schwebt in der Luft, doch sie erreicht mich nicht.

Äste stechen in meine Waden, Gräser verfangen sich um meine Knöchel, aber ich stolpere blindlings weiter. Von meiner Umwelt spüre ich nichts. Sogar die Erschöpfung bleibt irgendwo außerhalb meines Kopfes zurück. Vor mir schlängelt sich Pietro elegant zwischen den Bäumen hindurch. Ein bisschen fühle ich mich wie früher, als wir zusammen Fangen spielten. Nur sind wir diesmal keine Gegner, sondern auf derselben Seite. Mit ein paar hastigen Schritten habe ich ihn eingeholt. Im Gegensatz zu früher bin ich nun viel schneller als er.

Ich sehe über meine Schulter zurück und stelle fest, dass die Cinquenti uns folgen. Lucca ist der Erste der Gruppe. Nicht mehr viel, dann hat er uns erreicht. Sofort verdoppeln meine Beine ihre Geschwindigkeit. Dabei stolpere ich jedoch über einen Stein, der am Boden liegt. Unsanft schlage ich auf der Erde auf.

Da der Boden hier abschüssig ist, rolle ich ein paar Meter den Berg hinab, bis ich gegen einen Baum schlage. Eigentlich müsste der Aufprall schmerzen. Doch noch immer fühle ich nichts. Deshalb ziehe ich mich an dem Baumstamm hoch und laufe weiter. Als ich über die Schulter nach hinten sehe, stelle ich fest, dass ich durch meinen Sturz ein gutes Stück meines Vorsprungs eingebüßt habe.

Ich höre, wie Pietro angsterfüllt meinen Namen schreit. Er läuft ein paar Meter neben mir. Scheinbar ist er keine Sekunde stehen geblieben. Trotzdem erkenne ich Besorgnis auf seinem Gesicht.

Noch im Laufen greift Pietro in die Innentasche seiner Lederjacke und zieht die Pistole. Ich kriege gar nicht richtig mit, wie er zielt. Nur den lauten Schuss höre ich. Er zerreißt die Luft. Ich zucke zusammen. Wie von selbst drehe ich mich um. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, dass Serafino stehen bleibt. Die Augen reißt er vor Schreck weit auf. Dann klappt er mit dem Oberkörper nach vorn und fällt zu Boden.

Ein erschrockener Schrei entschlüpft meinem Mund. Serafino. Vor meinen Augen sehe ich nur noch den schüchternen, stillen Jungen. Er ist nicht viel älter als Kate. Unwillkürlich muss ich an die Liebe und Hingabe denken, mit der Lucca immer von seinem jüngsten Bruder gesprochen hat. Und an das stolze Aufblitzen in seinen Augen, als er uns einander vorstellte.

Für einen Moment spielt es keine Rolle, dass er unser Feind ist. Mit blankem Entsetzen auf dem Gesicht stoppt Lucca, dreht sich um und beugt sich dann zu seinem Bruder hinab, um dessen schmalen, zusammengebrochenen Körper beschützend mit seinen Armen zu umschlingen.

Am liebsten wäre ich auf die beiden zugelaufen und hätte geschaut, ob ich irgendetwas tun kann, ob ich irgendwie helfen kann. Doch da reißt mich jemand am Arm. Pietro. Seine Wangen sind in einem ungesunden Rot verfärbt und er bemüht sich, nicht zu Lucca und Serafino zu schauen.

„Wir müssen weiter", sagt er zu mir.

„Aber Serafino..."

„Der überlebt das... die Cinquenti überleben so etwas immer", ruft Pietro und zieht unerbittlich weiter an meinem Arm. „Wenn du jetzt versuchst zu helfen, tötest du dich dabei nur selbst!"

Noch ein letztes Mal blicke ich über die Schulter zurück und sehe, wie Ludo mit geballten Fäusten auf uns zu rennt.

„Das war mein Bruder, du Drecksack!", ruft er. In seiner Stimme liegt kalte, schneidende Wut. Ausholend schwingt er mit dem Arm, woraufhin ein Baum unmittelbar neben uns entwurzelt wird. Als hätte ihn eine unsichtbare Riesenhand an der Krone gepackt und ihn aus dem Boden gezogen. Dreck und Holzsplitter wirbeln durch die Luft, die mit einem so starken magischen Knistern erfüllt ist, dass mir beinahe der Atem wegbleibt. Ich ducke mich, um riesigen durch die Luft taumelnden Erdklumpen auszuweichen.

Das fünfte Element. So zerstörerisch und tödlich wie kaum etwas Vergleichbares auf der Welt. Sofort übernehmen meine Instinkte wieder das Handeln und ich stolpere Pietro hinterher. Fort von Ludo.

Äste greifen nach meinen Klamotten, als wollten sie mich aufhalten. Doch das sind keine Hindernisse für mich. Egal, was sich mir in den Weg stellt, ich muss einfach nur weiter. Fort. Weg. Weg.

Weitere Bäume fliegen durch die Luft. Sie sausen direkt an uns vorbei und hinterlassen einen schneidenden Nachhall in meinen Ohren. Das ist alles so unwirklich, dass in meinem Kopf nicht wirklich viel davon ankommt.

Da ertönt plötzlich ein lautes, rotierendes Brummen. Wie ein Helikopter. Erschrocken sehe hinauf zu dem Blätterdach, das die Bäume über unsere Köpfe spannen. Sie blockieren den Blick zumfreien Himmel. Was auch immer da auf uns zu kommt, ich kann es nicht erkennen. Deshalb haste ich einfach weiter. Bedacht darauf, in Pietros Nähe zu bleiben.

Wieder spüre ich ein magisches, sonderbares Kribbeln, das in der Luft liegt. Es ist nicht so stark wie zuvor, aber trotzdem mächtig genug, um die Härchen an meinen Unterarmen steil aufstehen zu lassen. Dazu kommt eine unglaubliche Hitze, die sich knisternd in meinem Rücken zusammenballt. Schweiß läuft meine Stirn herunter. Ich wische ihn fort, damit er nicht in meine Augen tropft. Da erst bemerke ich die Flammen, die wie eine Wand um Pietro und mich an den Bäumen emporzüngeln. Feuer. Gleißend hell erleuchtet es den Wald. Rauch brennt in meinen Augen, brennt in meinem Mund.

Wo kommt das auf einmal her? Ist das eine andere Teufelei des fünften Elements?

„Was ist das?", rufe ich Pietro erschrocken zu. Sein Gesicht kann ich in der flirrenden Hitze nur schwach erkennen. Brennende Äste stürzen neben mir zu Boden. Hastig weiche ich ihnen aus. Das ist absolut krank. Hätte ich nur ein paar Meter weiter links gestanden, hätte mich das Feuer erwischt. Ohne eine Antwort von Pietro abzuwarten, laufe ich weiter. Nur fort von den Flammen.

Das Feuer greift in dem trockenen Wald blitzschnell um sich. Schon bald flirrt die Luft vor Hitze. Überall ist es stickig und rauchig. Der Atem beißt in meinen Lungen. Ich huste, stolpere und laufe dennoch weiter.

In meinem Kopf rast nur ein Gedanke hin und her. Das schaffe ich nicht... das schaffe ich nicht... Trotzdem bleibe ich nicht stehen und versuche, der Flammenhölle zu entkommen. Von weit entfernt höre ich laute, entsetzte Ausrufe.

„Es ist Falcini!"

„Was machen wir jetzt?!"

„Zurück zum Parkplatz!" Sie verschwimmen zu einem undeutlichen Wirrwarr, sodass es unmöglich wird, sie auseinander zu halten.

Ich bleibe keine Sekunde stehen. Die sengende Hitze in meinem Rücken ist mein Antriebsmotor. Sie scheucht mich weiter, obwohl meine Beine schwach und müde werden. Aber auch das streift mein Bewusstsein nur am Rande. Meine Gedanken und mein Körper sind noch immer voneinander getrennt. Das Adrenalin in meinen Adern hat meine Entscheidungen übernommen. Und es sagt ganz klar eines: Renn weg und bring dich in Sicherheit!

Schweiß läuft mein Gesicht in Strömen herunter, bis ich klatschnass bin. Ich kann mich nicht daran erinnern, in meinem Leben jemals so sehr geschwitzt zu haben. Und trotzdem ist nur ein Gedanke in mir. Weiter machen. Weglaufen. Überleben.

Schließlich erreiche ich einen kleinen Gebirgsbach, der sich den Berg hinunter schlängelt. Könnte ich das Wasser bewegen, so wie Kate, würde ich das Feuer damit löschen. Aber leider beherrsche ich kein Element.

Da es mir am klügsten erscheint, dem Bach zu folgen, hetze ich an seinem Ufer entlang. Hier ist es viel kälter als bei den Flammen. Erst nach einem Moment fällt mir auf, dass auch die flackernde Helligkeit des Feuers zurückbleibt. Erleichtert drossele ich meine Geschwindigkeit.

Zum ersten Mal seit Pietro auf Serafino geschossen hat, erlaube ich es mir, über die Schulter nach hinten zu sehen.

Tatsächlich. Das Feuer scheint sich tiefer in den Wald zurückzuziehen und allmählich zu erlöschen. Erschrocken schlage ich die Hände vor meinem Mund zusammen. So etwas ist doch gar nicht möglich! In einem trockenen Laubwald wie diesem müssten sich die Flammen eigentlich rasend schnell immer weiter ausbreiten. Es sei denn natürlich, man herrscht über eins der vier Elemente. Dann kann man beinahe alle Naturgesetze aushebeln.

„Brionny... Brionny!", höre ich plötzlich jemanden rufen.

„Pietro?" Erschrocken drehe ich mich in alle Richtungen um. Ich habe nur darauf geachtet, dass ich mich selbst sicher aus der Flammenhölle bringe. Pietro habe ich dabei vollkommen vergessen. Schuldgefühle steigen in mir empor und ich laufe ein paar Schritte in der Hoffnung, ihn zu entdecken. Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?

„Brionny, wo bist du?"

„Hier, an dem Bach!", rufe ich. Aus der Ferne sehe ich jemanden auf mich zu humpeln. Beim Näherkommen erkenne ich, dass es sich dabei um Pietro handelt. Sein hübsches Gesicht ist knallrot und sein linker Jackenärmel ist versengt. Seine linke Hand ist außerdem etwas angeschwollen und an einer Stelle wirft die Haut sogar Blasen. Davon abgesehen scheint es ihm aber gut zu gehen.

„Pietro", flüstere ich und renne die letzten Meter auf ihn zu. Dann schließe ich ihn in die Arme. Gottseidank, er hat es geschafft! Er ist warm und riecht anders als sonst nach Rauch und verkohltem Stoff. Er erwidert meine Umarmung und streicht mir zaghaft über den Rücken.

„Woher kam das Feuer?", frage ich nach einem kurzen Augenblick.

„Ich vermute, das war meine Cousine Alessia. Sie beherrscht das Element Feuer und ist bestimmt mit Giacomo gekommen, um uns zu helfen. Ich habe ihren Helikopter gehört", erklärt er.

„Ziemlich gefährlich, oder?", frage ich. Dort, wo das Feuer gewütet hat, ragen schwarze, verkohlte Baumstümpfe in den Himmel. Weiß-graue Asche segelt wie Schnee durch die Luft und bleibt auf unseren Haaren sitzen. Nach dem lauten Knistern und Knacken der brennenden Bäume kommt es mir hier recht ruhig vor. Ein kalter Wind fährt durch die Baumstümpfe und lässt mich frösteln. Beinahe hätte das Feuer uns erwischt. Im Grunde genommen hatten wir nur Glück, dass wir den Flammen entkommen sind.

„Ja, aber manchmal muss man etwas riskieren, um zu gewinnen", meint Pietro und schiebt mich vorsichtig von sich fort, „und außerdem hatte das Feuer ja auch etwas Gutes. Die Cinquenti sind geflüchtet, oder?"

Tatsächlich. Ich kann Lucca und die anderen nirgendwo ausmachen. Haben sie sich zurückgezogen, als das Feuer kam? Oder wurden sie von den Flammen erwischt? Aber noch viel wichtiger...

„Was passiert mit Kate?" Mein Magen zieht sich angstvoll zusammen. Kate liegt noch immer gefesselt auf dem Rücksitz des Minibusses. Ich habe es nicht geschafft, sie zu retten. Was, wenn das Feuer sie erreicht hat?

„Giacomo wird sie befreien... er kann das. Er und seine Familie entkommen den Cinquenti nun schon seit Jahren", verspricht Pietro mir. Ich denke an Marias Enkel Leonardo, der von den Cinquenti entführt und getötet wurde, sage aber nichts. Seinen Sohn konnte Giacomo nicht vor Falcinis Spionen beschützen. Ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus, doch ich gebe mir Mühe, es hinunter zu schlucken. Währenddessen spritzt sich Pietro das kühle Wasser des Baches ins Gesicht. Schnell beuge ich mich herab, ziehe einen Schuh aus, tränke meinen Socken mit dem kühlen Wasser des Gebirgsbaches und binde ihn dann um Pietros verletzte Hand. Dankbar lächelt er mich an. Viel wird es wohl nicht bringen, aber besser als nichts.

„Und was machen wir jetzt?", fragt er.

„Am besten, wir versuchen, hier raus zu kommen", schlage ich vor. Daraufhin nickt er nur.

Ich kann noch grob die Richtung ausmachen, in der der Parkplatz liegt, aber in der Ferne leuchten immer noch helle Flammen im Wald. Auch wenn sich das Feuer langsam zurückzieht, fühle ich mich hier nicht besonders sicher. Also nehme ich Pietro bei der gesunden Hand.

Gemeinsam folgen wir dem kleinen Gebirgsbach, der anschwillt, je weiter wir den Berg hinunterlaufen. Irgendwann lichten sich auch die Bäume zu unserer Rechten und geben den Blick auf eine Straße frei. Gottseidank. Eine Verbindung zur Außenwelt. Begeistert laufe ich auf die Straße zu und Pietro mir hinterher. Als ich den Asphalt sehe, lasse ich mich dankbar auf den Boden hinter der Leitplanke sinken. Hier, in der Nähe von der Straße, fühle ich mich um einiges wohler. Es scheint mir schon fast, als existierten die vier Elemente und übernatürliche Zauberkräfte hier nicht. Als gäbe es keine Magie, als wäre alles normal.

Pietro und ich vereinbaren, am Straßenrand auf ein weiteres Zeichen von Giacomo zu warten. Alle paar Minuten laufen wir ein paar Meter die Straße hinauf oder hinab und kehren dann wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück. Trennen wollen wir uns nicht. Dafür ist die Angst, einander zu verlieren, zu groß.

Nur selten fahren Autos die Straße entlang. Meist sehen uns die Fahrer vollkommen entgeistert an. So verdreckt und verrußt wie wir sind, wirken wir bestimmt, als wären wir mittellose Anhalter, die irgendwohin gebracht werden wollen.

Nach einer Weile erscheint mir das Warten beinahe qualvoll. Unruhig trete ich von einem Bein auf das andere. Schließlich schlage ich Pietro vor, er solle noch mal seine Mutter anrufen, doch er hat sein iPhone im Auto gelassen.

So vergehen mehrere qualvolle Minuten, bis ich plötzlich jemand rufen höre. „Pietro? Brionna? Wo seid ihr?"

„Das ist es", sage ich und lächele Pietro an.

„Hallo? Hier sind wir!", antworte ich und falte die Hände vor meinem Mund zu einem Trichter. „Wir sind an der Straße!"

Es dauert nicht lange, da kommen auch schon zwei Männer die Straße hinauf gelaufen. Einen von ihnen identifiziere ich als Alessandro Belluco, Pietros Vater. Der andere kommt mir nur vage bekannt vor. Über sein Kinn zieht sich eine lange Narbe und das graue Haar wird bereits dünn. Ich schätze, dass er Giacomo Falcini ist. Augenblicklich renne ich auf die beiden Männer zu. Noch bevor einer von ihnen etwas sagen kann, frage ich: „Wo ist Kate?"

Signor Belluco sieht mich aus traurigen Augen an. „Es tut mir so leid. Wir konnten sie nicht retten", sagt er, „die Cinquenti haben sie mitgenommen."

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