3. Alte Wunden
Als ich nach Hause komme, dämmert es bereits. Schon im Flur höre ich die laute Musik, die aus unserer Wohnung durchs ganze Haus dröhnt und dazu schiefen, zweistimmigen Gesang. Meine Mutter und Kate! Manchmal sind sie sich ähnlicher, als man wahrhaben möchte.
Kopfschüttelnd schließe ich die Wohnungstür auf und gehe in die Küche. Die Küche ist das einzige Zimmer in unserer Wohnung, in dem noch alle Möbel stehen. Die restlichen Einrichtungsstücke haben wir schon vor Wochen auseinander geschraubt und nach Italien geschickt.
In der Küche bietet sich das übliche Bild. Kate steht am Herd und kocht, während Mum sich auf einem Stuhl am Tisch herumschiebt und mit dem Zeigefinger über den Bildschirm ihres Handys wischt. Eigentlich müsste es andersherum sein und jeder Mensch hätte sich wohl über diese ungewöhnliche Rollenverteilung gewundert, aber für mich ist das normal.
Mum kocht nicht, das hat sie noch nie getan. Zumindest nicht zu Hause, denn sie arbeitete als Köchin im Restaurant eines Hotels. Aber Berufliches und Privates soll man ja bekanntermaßen trennen. Deshalb hat Kate die Aufgabe übernommen, für warme Mahlzeiten zu sorgen, sobald sie groß genug war, um über die Küchenarbeitsplatte zu lugen. Meine Schwester kann echt gut kochen, viel besser als ich. Ich lasse meistens irgendetwas anbrennen und dann stinkt es in der ganzen Wohnung. Daher bin ich diejenige von uns, die aufräumen und putzen muss.
Langsam steuere ich auf den Tisch zu und lasse mich auf den Stuhl neben Mum fallen. Als sie und Kate bemerken, dass ich da bin, hören sie sofort damit auf, den Songtext des Liedes, das gerade läuft, aus vollen Kehlen mitzugröhlen. „Buona sera", trällert Kate, jedoch ohne den Blick von dem Essen zu nehmen. Es riecht verdächtig nach Bolognese-Soße und auf der Spüle steht eine leere Packung Spaghetti. Noch immer schwebt laute Musik durch den Raum. Am liebsten hätte ich meine Hände auf die Ohren gepresst.
„Na, hattest du einen schönen Tag?", fragt Mum und sieht mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an. Andere Mütter hätten wissen wollen, warum ich erst jetzt, wo es schon dunkel wird, nach Hause komme, aber Mum gehört nun mal nicht in die Schublade der anderen Mütter. Manchmal kommt es mir vor, als säße sie in einem Boot, das die Strömung von der Küste weggespült hat. Mit diesem Boot kann sie keinen Hafen anlaufen, geschweige denn auf einer einsamen Insel stranden. Sie ist abgeschottet vom Rest der Welt. Sie lebt nur für sich.
So war sie schon immer. Besonders schlimm war es nach der Scheidung von meinem Vater, als wir nach Brighton gezogen sind. Damals hat sie oft tagelang nicht das Bett verlassen. Kate und ich waren noch viel jünger und haben uns höllische Sorgen um sie gemacht. Besser wurde es erst, als sie mit Andrew zusammen war. Doch selbst dann gab es noch Phasen, in denen ihre alten Wunden wieder aufrissen und sie sich vollkommen zurückzog. Im Vergleich dazu hat sie die Trennung von Andrew bisher ganz gut verarbeitet. Ich seufze und zum ersten Mal bringe ich etwas Verständnis für meine Mutter auf. Vielleicht ist es für sie ja ganz gut, dass wir wegziehen. Dann kann sie einen Neuanfang wagen und wird nicht immer von alten Geistern heimgesucht.
„Ich war mit Maddie auf dem Pier", erzähle ich, „und dann hab ich noch ein paar Souvenirs vom Strand mitgebracht." Als Beweis klopfe ich auf meine Jackentaschen, die mit Muscheln und Kieselsteinen vollgestopft sind. In Italien werde ich mein Zimmer damit dekorieren. Die Muscheln sind für mich ein Stück Heimat.
„Hm." Mum seufzt. „Du kannst Nonna ja was von deinen Souvenirs schenken. Sie freut sich bestimmt darüber."
Ja, das wird sie. Mit Sicherheit. Oder auch nicht. Bei dem Gedanken an Nonna zieht sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Im Grunde weiß ich rein gar nichts über meine Großeltern, außer dass sie Rosalinda und Timothy Peterson heißen und ein Restaurant in Italien besitzen, das früher der Schwester meiner Großmutter gehört hat.
Meine Erinnerungen an die beiden sind nur schwach und ich weiß nicht mal, ob es sich dabei um Dinge handelt, die tatsächlich passiert sind oder die sich mein Kopf aus Erzählungen rekonstruiert hat. Die ersten sechs Jahre meines Lebens habe ich nämlich mit meiner Familie in Italien verbracht, bevor mein Vater uns plötzlich verließ und meine Mutter sich dazu entschieden hat, nach England, in die Heimat ihres Vaters auszuwandern. Was genau damals passiert ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat meine Mutter den Kontakt zu ihren Eltern weitestgehend eingestellt. Zweimal ihm Jahr, zu Weihnachten und zum Geburtstag, haben meine Großeltern uns Grußkarten geschickt. Mehr habe ich nie von ihnen gehört. Morgen wird sich das jedoch ändern. Wir werden die beiden wiedersehen. Zum ersten Mal nach zwölf Jahren.
„Ach übrigens", wirft Kate ein, während sie Parmesankäse hobelt, „heute waren ein paar Jungs aus dem Schwimmteam da. Sie wollten dich eigentlich treffen, aber du warst nicht zu Hause. Also haben sie ein Abschiedsgeschenk für dich hiergelassen."
Augenblicklich richte ich mich kerzengerade auf. Ein warmes Kribbeln breitet sich in meinem Magen aus. Was hat sie gerade gesagt? Ein paar Jungs aus dem Schwimmteam?
„Wo ist es?", frage ich gierig.
„Wo ist was?", will Kate völlig perplex wissen.
„Das Abschiedsgeschenk!"
„Das... achso, in unserem Zimmer."
Sofort stehe ich auf und stürme aus der Küche. Meine Beine tragen mich wie von selbst in das Zimmer, das ich mir mit Kate teile.
Warum bin ich nicht da gewesen, als die Jungs aus dem Schwimmteam vorbeigekommen sind? War Jeremy dabei? Hätte ich ihn noch ein letztes Mal sehen können, um mich richtig zu verabschieden? Wäre zwischen uns dann alles gut geworden?
In der Mitte des Zimmers liegen zwei Matratzen, sonst ist es vollkommen leer. Auf der linken Matratze ist ein mittelgroßes Päckchen platziert. Wie hypnotisiert betrachte ich es von allen Seiten. Was da wohl drin ist? Bestimmt etwas, das mit Wasser und Schwimmen zu tun hat.
Seit ich auf der weiterführenden Schule in Brighton bin, bin ich Mitglied des Schwimmteams. Ich liebe es, durchs Wasser zu gleiten, als wäre ich schwerelos und zu spüren, wie das kühle Nass meine Haut umspült und mich ein Teil seiner Unendlichkeit werden lässt.
Auch das Schwimmen werde ich wahnsinnig vermissen. Soweit ich weiß, gibt es auf dem Liceo, das ich ab September besuchen werde, kein Schwimmteam, obwohl sich die Schule auf Sport, Sprachen und Naturwissenschaften spezialisiert.
Seufzend lege ich das Päckchen beiseite. So schwer es mir auch fällt, ich habe beschlossen, alle Abschiedsgeschenke erst in Italien zu öffnen, damit es da drüben auf der anderen Seite des Ärmelkanals etwas gibt, worauf ich mich freuen kann. Aber es schadet ja nicht, wenn ich mir die Grußkarte, die ganz oben auf dem Päckchen liegt, schon hier durchlese.
Nini, hat jemand mit verschnörkelten Buchstaben geschrieben, du bist eine unserer besten Schwimmerinnen. Wie kannst du uns nur verlassen?!
Glaubt ihr etwa, ich tue das freiwillig?
Wir werden dich höllisch vermissen und wünschen dir ganz viel Spaß in der südeuropäischen Sonne! Bring das Mittelmeer zum Kochen! Du rockst Italien!
Darunter hat das ganze Schwimmteam unterschrieben. Auch Maddie, obwohl sie mir bereits ein persönliches Abschiedsgeschenk überreicht hat. Doch meine Augen bleiben an einem Namen kleben. Jeremy!
Mit den Fingern fahre ich über die einzelnen Buchstaben, die er mit dem Kuli tief ins Papier geritzt hat. Jeremy. Er ist nicht der hübscheste Junge aus dem Schwimmteam und auch nicht der Schnellste, aber irgendwie hat er mit seiner ruhigen und eleganten Art etwas Besonderes an sich.
Wir haben viel gemeinsam, Jeremy und ich. Seine Eltern sind auch geschieden. Sie haben sich getrennt, als er noch ein Kind war. Seit dem lebt er mit seinem Vater und dessen Lebensgefährten hier in Brighton. Seine Mutter hat er seit Jahren nicht mehr gesehen, bis er im letzten September erfuhr, dass sie bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. Damals war ich für ihn da und er umgekehrt auch für mich, wenn bei uns mal wieder der Haussegen so richtig schief hing.
Vorletzten Februar sind wir ein paar Mal miteinander ausgegangen. Wir waren wie beste Freunde. Doch dann hat er mich eines Abends einfach geküsst, als er mich nach Hause gebracht hat. Fast ein Jahr lang waren wir ein Paar und es gab kaum einen Tag, an dem ich nicht vollkommen angetan war von Jeremy und seiner ruhigen, verständnisvollen Art. Ich habe immer wie besessen auf die Stunden hingefiebert, die wir miteinander verbrachten. Es kam mir teilweise vor, als würde ich nicht existieren, wenn er nicht da ist. Ohne ihn ist es mir sogar schwergefallen, zu lachen.
Wir waren glücklich zusammen, aber dann haben Mum und Andrew mit ihrem Liebesaus alles kaputt gemacht. Seit Jeremy weiß, dass ich nach Italien ziehe, hat er kaum noch mit mir gesprochen. Eine Fernbeziehung will er nämlich nicht, weil so etwas in seinen Augen keine Zukunft haben kann. Von heute auf morgen ist also nicht nur Andrew, sondern auch Jeremy ganz plötzlich aus meinem Leben verschwunden. Als wären die beiden niemals dagewesen. Ohne sie laufe ich in einem ganz anderen Tempo mit viel schwereren Klötzen am Bein. Daran muss ich mich erst einmal gewöhnen.
Noch heute bin ich deshalb sauer auf Mum und ihre bescheuerte Sprunghaftigkeit. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre da ein großes Loch in meiner Brust, das sich nur schwer wieder füllen lässt.
Plötzlich steckt Kate den Kopf durch die Tür und reißt mich aus meinen Erinnerungen.
„Essen ist fertig."
„Das ist lieb, aber mir ist ein bisschen übel. Ich hab kein Hunger", flunkere ich. Wobei das eigentlich nur halb gelogen ist. Mein Magen fühlt sich tatsächlich etwas schwer und flau an.
„Okay", meint Kate und zuckt nur mit den Schultern. Dann schließt sie die Tür wieder. Kate macht es nichts aus, wenn ich nicht zum Essen komme. In der Beziehung ist sie unkomplizierter als jede Mutter.
Seufzend strecke ich mich auf meiner Matratze aus und stecke die Kopfhörer meines Handys in die Ohren. Die Lautstärke drehe ich voll auf, denn das Gedudel, das von der Küche her zu mir rüberdringt, gefährdet meine Toleranzgrenze.
Langsam schließe ich die Augen und versuche mich voll und ganz auf die Musik zu konzentrieren, die pulsierend in meine Ohren strömt. Der Bass wummert in meinem Kopf und das Kreischen der elektrischen Gitarre löst mich von dem, was mich noch an die Wirklichkeit kettet. Es gibt nichts mehr, außer dem Songtext, der mein ganzes Denken einnimmt. Die Klänge helfen mir, all die Sehnsucht, die mich zerfrisst und das Gefühlschaos, das mich zu zerreißen scheint, hinter mir zu lassen.
Ich tauche aus meiner Trance erst auf, als sich mein Handy mit einer lagen Vibration ausschaltet. Akku leer. So ein Mist!
Als ich mich grummelnd umdrehe, erkenne ich, dass sich Kate bereits auf ihrer Matratze zusammengerollt hat. Sie hält die Augen geschlossen und wirkt vollkommen friedlich. Beinahe hätte ich angenommen, dass sie schläft, doch dann öffnet sie den Mund und sagt: „Nini, ich werde das hier auch vermissen. Ich möchte auch nicht weg, aber das müssen wir nun mal. Versuch doch, dein Schicksal zu akzeptieren, dann fällt dir der Umzug leichter."
Ich schnaube. Das Schicksal akzeptieren, so etwas kann Kate vielleicht. Sie sogar besser als jeder andere, aber ich nicht. Auch wenn ich es mir nur allzu oft wünsche. Wir Menschen können uns schließlich nicht aussuchen, wonach wir uns sehnen und womit wir uns wohlfühlen. So sehr ich mich auch anstrenge, ich besitze einfach nicht die Leichtigkeit meiner Schwester. Seufzend ziehe ich die Bettdecke über meinen Kopf. Vielleicht muss ich nie wieder aufstehen.
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