27. Die Verabredung
Der Rückweg verläuft im Gegensatz zu unserem Aufstieg relativ ruhig und ereignislos. Lucca lässt Kate beinahe gar nicht mehr aus den Augen und passt auf, dass sie keinen falschen Schritt macht. Der Wanderweg, der über den Lift zurück zum Parkplatz führt, ist um einiges angenehmer und ungefährlicher als der Pfad an der Bergwand.
Emma, Ludo, Serafino und Hector sind die ganze Zeit recht mürrisch und schweigsam. Ich bin mir sicher, es liegt daran, dass Emma Kate mit ihrem Element das Leben gerettet hat. Zu gerne würde ich einen von ihnen darauf ansprechen, aber ich traue mich nicht.
Im Auto schläft Kate erschöpft gegen meine Schulter gelehnt ein und auch ich döse ein paar Mal weg. Die Wärme und die Sonne machen mich schläfrig. Noch dazu kann ich erst hier im Auto ein bisschen entspannen. Die Anstrengungen des Tages spülen über mich hinweg wie Wellen, die nach der Flut wieder am Strand einlaufen. Ich bin so müde, dass ich am liebsten den ganzen restlichen Tag geschlafen hätte. Deshalb kommen wir für meinen Geschmack auch schon viel zu früh zu Hause an.
Da wegen des Festes der Regatta die Kleinstadt, in der wir wohnen, schon seit einer Woche überfüllt ist, hält Lucca den Minibus am Stadtrand an. Es scheint, als sei ein zweiter Hochsommer ausgebrochen, so viele Tourist:innen stürmen in die Hotels. Heute finden das finale Rennen der Regatta und die anschließende Siegerehrung statt, weshalb die Straßen schon um diese Uhrzeit mit Autos und Menschen vollgestopft sind.
„Ich fand es sehr schön heute", sagt Lucca zu Kate und mir, als wir aussteigen.
„Ich auch", gestehe ich, „nur nächstes Mal ein bisschen weniger Geheimnisse."
So, das muss ja auch mal angesprochen werden. Mich nervt es höllisch, dass jedes Mal, wenn wir uns mit Lucca und seinen Freund:innen treffen, so getan wird, als wären sie ein Geheimzirkel, zu dem Kate und ich auf keinen Fall gehören dürfen.
„Das tut mir leid", antwortet Lucca ehrlich, „das kommt nicht mehr vor."
„Versprich nichts, was du nicht halten kannst." An ihrem Verhalten werden die anderen nichts ändern, das weiß ich. Es war von Anfang an so und es wird in Zukunft auch so bleiben.
„Ich kann es wenigstens versuchen, oder?" Traurig lächelt er mich an und gibt mir zum Abschied die Hand.
„Hast du heute Abend schon eine Verabredung für das Fest der Regatta?", fragt Lucca so nebensächlich, als würde er sich gerade über das Wetter für die nächsten Tage erkunden.
„Ich... nein", platzt es aus mir heraus, bevor ich eine Gelegenheit bekomme, über die Antwort nachzudenken.
Ich ahne, was jetzt kommen wird. Ein Teil von mir hofft auf die nächsten Worte, die gleich aus Luccas Mund sprudeln werden und schreit in meinem Kopf: Frag! Frag! Frag!
Ein anderer Teil von mir ist dahingegen verunsichert und zweifelnd. Was soll ich antworten, wenn Lucca fragt, ob ich ihn auf das Fest der Segelregatta begleiten möchte?
Der Frag! Frag! Frag!-Teil überwiegt jedoch.
„Hättest du dann Lust, mit mir dorthin zu gehen? Ich habe frei und noch keine Verabredung", sagt er und traut sich dabei kaum, mich schüchtern von der Seite anzusehen.
So schnell wie in diesem Moment hat mein Herz selten geschlagen. Es trommelt heftig gegen meinen Brustkorb, als wollte es vor mir auf die Straße springen und dort einen Freudentanz aufführen.
„Äh... klar." Die Worte aus meinem Mund klingen weit entfernt und ich bin mir sicher, dass ich ziemlich nervös und aufgedreht wirke. Wie ein kleines Mädchen spiele ich mit meinen Locken, die ich mir immer wieder um die Finger wickele. Aber das ist mir egal. Dieser Moment fühlt sich einfach schön an, auch wenn man mir die Unsicherheit ansieht.
„Okay, dann hole ich dich um sechs ab. Was hältst du davon?"
„Supi." Fällt mir auch noch was Originelleres ein? Supi. Jetzt verhalte ich mich nicht nur wie ein kleines Mädchen, sondern rede auch noch so! „Klingt nach einem guten Plan", füge ich rasch und mit künstlicher Ernsthaftigkeit in der Stimme hinzu. Ich bin echt ein Trottel!
Die Sonne brennt auf mein Gesicht und ich spüre, wie ich rot werde. Ach du Scheiße!
Keine Ahnung, wann mir das zuletzt passiert ist. Es ist auf jeden Fall so lange her, dass ich mich nicht mal richtig daran erinnern kann.
„Gut, dann bis dann." Mit diesen Worten lässt er meine Hand los, die jetzt ganz nass ist. Kommt der Schweiß von mir oder von ihm? Hoffentlich von ihm.
„Okay, bis dann."
Ich winke ihm noch einmal vorsichtig zu, während er in den Bus steigt und den Motor startet. Die Luft um mich herum flirrt und scheint an manchen Stellen sogar in bunten Wellen aufzusteigen.
Ach du meine Güte! Da hat mich die Wanderung aber ganz schön ausgelaugt, wenn mir davon jetzt sogar schwindelig wird. Ich muss dringend nach Hause und mich ein bisschen ausruhen, bevor wir heute Abend aufs Fest gehen.
„Dich hat's aber ganz schön erwischt!", trällert Kate und stößt mich von der Seite an. Dabei zieht sie verschwörerisch die Augenbrauen hoch.
Erwischt? Mich? Denkt Kate etwa, ich würde auf Lucca stehen? Nein, niemals! Schon genug, dass ich mit ihm befreundet bin. Sich in ihn zu verlieben, wäre dann doch ein bisschen zu viel verlangt.
„Absolut, total", antworte ich in ironischem Tonfall und schultere meinen Rucksack. Würde ich jetzt abstreiten, dass ich auf Lucca stehe, was immerhin mein gutes Recht ist, würde Kate nur noch mehr darauf herumhacken. Ich kenne sie. Jedes Mal, wenn mich ein Thema stört, wird es bis ins kleinste Detail ausgeschlachtet. Deshalb ist es besser, wenn ich es einfach fallen lasse.
Nebeneinander quetschen wir uns durch die Gassen Castigliones nach Hause. Auf den Straßen im Stadtkern fahren keine Autos mehr. Dafür wimmelt es hier nur so von Fußgänger:innen aus allen möglichen Nationen. Ein internationales Sprachengewirr schwebt über den Köpfen der Menschen.
Zwischen den Häusern sind kleine, dreieckige Fähnchen in den italienischen Nationalfarben rot, weiß und grün gespannt. Vor den Häusern werden Verkaufsstände für den Abend aufgebaut und die Einheimischen bereiten alles für das Fest vor.
Nachdem wir für den Weg beinahe doppelt so lange gebraucht haben wie üblicherweise, erreichen Kate und ich das Haus. Wir haben lediglich ein bisschen Zeit zum Duschen, Umziehen und Essen. Gerade als wir uns für das Fest hübsch machen und schminken wollen, klingelt es auch schon an der Tür. Mittlerweile zucke ich bei dem schrillen Läuten nicht mal zusammen. Das war's dann also mit dem Ausruhen. So ein Mist! Hätten es auch nicht fünf Minuten mehr getan?
„Für dich oder für mich?" Fragend sehe ich meine Schwester an, die gerade zu einem Lidstrich ansetzt.
„Für dich", sagt sie, „ich treffe mich mit meinen Leuten auf dem Fest."
Schade, ich hätte gerne noch mehr Zeit gefunden, um mich für den Abend hübsch zu machen. Normalerweise achte ich nicht besonders darauf, wie ich aussehe, aber heute ist es mir irgendwie wichtig, hübsch zu sein. Warum auch immer.
Mit klopfendem Herzen husche ich die Treppe hinunter und die Klingel ertönt ein zweites Mal. Vor der Tür steht Lucca. Auch er hat geduscht und sich umgezogen. Nun steht er mit einem dunkelgrauen Kapuzenpulli und in Jeans und Turnschuhen, vor mir. Wie hat er das nur so schnell geschafft?
„Hey", begrüßt er mich lächelnd und ich merke, wie sich meine Mundwinkel ebenfalls ganz von alleine nach oben bewegen. „Hey", erwidere ich. Dann trete ich einen Schritt zurück.
„Willst du reinkommen?", frage ich.
„Klar, da kann ich gleich auch noch mal schauen, wie es Kate geht", meint Lucca.
„Ganz gut, denke ich. Sie macht sich gerade für das Fest fertig." Meine Schwester ist an diesem Abend zwar stiller als normalerweise, aber sonst merkt man nicht, dass sie heute beinahe in eine Talschlucht gestürzt wäre. Sie ist ziemlich gut darin, unangenehme Dinge zu verdrängen. Spurlos ziehen sie trotzdem nicht an ihr vorüber.
„Willst du was trinken?", fahre ich fort, damit keine unangenehme Stille zwischen uns entsteht. Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich weniger Gefahr laufe, etwas Dummes zu sagen, je mehr Smalltalk ich führe.
„Ja, Wasser bitte." Während Lucca im Wohnzimmer Platz nimmt, fülle ich in der Küche Wasser in ein Glas. Gerade als ich wieder zu Lucca gehen will, klingelt es erneut an der Tür. Nanu? Wer ist das denn? Kate wollte sich doch mit ihren Leuten auf dem Fest treffen und Mum, Nonna oder Grandpa können es auch nicht sein, denn sie haben im Restaurant alle Hände voll zu tun. Wer dann?
Vorsichtig öffne ich die Tür und wäre um ein Haar einen halben Meter zurückgesprungen. Auf der Schwelle steht Pietro. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht vor Staunen den Mund aufzuklappen. Was will Pietro denn hier? Hat sich Kate heimlich mit ihm verabredet?
Was seine Kleidung betrifft, so hat sich Pietro für diesen Abend regelrecht herausgeputzt, denn er steckt in einem hellblauen Hemd, Jeans und schicken Schuhen. Die blonden Haare hat er mit etwas Gel zurück gestrichen und obwohl ich es nicht zugeben möchte, sieht er verboten gut aus. Nichts gegen Lucca, aber neben Pietro wirkt er ziemlich blass.
„Hey...", sagt Pietro und lächelt flüchtig, „kann ich reinkommen?"
Völlig perplex und noch immer sprachlos nicke ich und weise mit der Hand auf den Flur hinter mir. Währenddessen überlege ich fieberhaft, warum um alles in der Welt Pietro hier ist und wie er hierher kommt. Erst nach einem Moment realisiere ich, dass ich diejenige war, die sich mit Pietro zum Fest der Regatta verabredet hat. Auf meinem Geburtstag. Bei dem Gedanke wird mir ganz anders zumute. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken.
Plötzlich sehe ich mich wie von außen an meinem Geburtstag im Garten meiner Großeltern sitzen und höre Nonna von dem Fest der Segelregatta erzählen.
„Oh", antworte ich und greife mir gegen die Schläfen. Wie konnte ich nur so vergesslich sein? Da habe ich mich in eine ziemlich missliche Situation gebracht.
„Äh... also... die anderen warten unten am Hafen auf uns. Sie haben sich bei Massimo zum Vortrinken getroffen und sind glaube ich schon ziemlich gut dabei. Und ich habe meinen Eltern noch ein wenig geholfen und dachte mir, ich schaue mal bei dir vorbei und äh... wir gehen zusammen aufs Fest", plappert Pietro direkt darauf los.
Insgeheim hoffe ich, dass er Lucca, der noch immer im Wohnzimmer sitzt, nicht bemerken und einen Aufstand machen wird. Doch ich weiß genau, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllen wird. Na, wenn das mal keine Geschichte ist, die ich Maddie erzählen kann. Ich notiere mir in meinem Kopf, gleich morgen mit ihr zu skypen, nachdem wir in letzter Zeit so selten dazu gekommen sind.
„Und äh... Pietro..." Wie soll ich ihm sagen, dass wir nicht alleine sind? Am besten gar nicht. Aber die Konfrontation mit Lucca werde ich nicht aufhalten können.
„Ja?"
„Geh einfach ins Wohnzimmer. Ich hole noch was zum Trinken komme dann." Ich weiß, es ist feige, das Problem auf diese Weise zu lösen, aber so ist es am einfachsten für mich. Besser, ich bin nicht dabei, wenn Pietro und Lucca einander gegenübertreten.
Schnell husche ich in die Küche und schließe die Tür hinter mir. Dann fahre mit den Händen über mein Gesicht. Hätte ich jetzt noch mein Handy, würde ich Kate eine Not-Nachricht schicken, in der ich sie anflehe, runterzukommen und mir beizustehen.
Seufzend drücke ich die Türklinke herunter und lausche nach Stimmen. Aber egal wie erstaunt Lucca und Pietro über die Anwesenheit des anderen auch sein mögen, sie bleiben still. Eigentlich habe ich erschrockene Ausrufe oder fordernde Fragen erwartet.
Vorsichtig und mit flatterndem Herzen schleiche ich ins Wohnzimmer. Ich habe schon fast damit gerechnet, dass sich die Jungs aus dem Staub gemacht haben, so leise ist es, aber sie sind beide noch da.
Lucca sitzt zurückgelehnt auf dem Sofa, aber er wirkt alles andere als entspannt, während Pietro sich mit verschränkten Armen direkt neben der Tür positioniert hat. Er ist auch der erste von den zwei, der mich zur Rede stellt. „Warum ist er in diesem Haus?", bellt er. Seine Stimme klingt lauter und wütender, als ich es je erlebt habe. Fast schon ein bisschen einschüchternd.
„Ich... äh... habe ihn reingelassen." Meine Gedanken rasen und ich kann kaum einen klaren Satz formulieren. Ich habe damit gerechnet, dass Pietro es nicht gut findet, Lucca in meinem Wohnzimmer sitzen zu sehen, aber dass er so wütend ist, habe ich nicht erwartet.
„Und warum?"
„Weil wir zusammen aufs Fest der Regatta gehen", stelle ich klar.
„Ach ja...? Ich dachte, wir wollten mit der Klasse aufs Fest gehen. Haben wir das nicht mal so verabredet?" Nun mischt sich auch noch Enttäuschung mit Pietros Wut und es kostet mich alle Mühe, den Blick nicht schuldbewusst von ihm abzuwenden.
„Das ist doch kein Problem. Dann gehen wir halt alle zusammen", schlägt Lucca vor. Im Gegensatz zu Pietro ist er ruhig und sein Tonfall verrät wenig über seine Emotionen. „Es sei denn, du willst nicht", fügt er hinzu, wobei er fast schon ein bisschen hoffnunsvoll klingt. Fragend sieht Lucca Pietro an. Der stößt seinen angehaltenen Atem aus und für einen Moment wirkt er wie ein Boot, dessen Segel all ihren Wind verloren haben.
Für seinen Kommentar hätte ich Lucca am liebsten umarmt. Er ist mir im Gegensatz zu Pietro nicht böse und versucht, sich mit der Situation zu arrangieren. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich eine gute Idee ist, wenn ich mit Lucca und Pietro zusammen auf das Fest gehe, stimme ich diesem Vorschlag zu.
„Ja... was bleibt mir anderes übrig?", fragt Pietro niedergeschlagen und hebt die Hände, als würde ihn jemand mit einer Waffe bedrohen. Bedeutet das etwa, er ergibt sich den Umständen?
„Gut, dann gehen wir los, oder?", frage ich schnell, trete wieder auf den Flur und warte erst gar nicht darauf, dass die Jungs mir antworten. Ich meine, Pietro noch leise drohen zu hören: „Wenn meine Großmutter das wüsste, wärst du tot", aber dann stehen auch schon beide Jungs neben mir und hüllen sich in abgrenzendes Schweigen. Here we go...
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