26. Die Offenbarung
Augenblicklich springe ich auf die Beine, doch meine Knie sind so weich, dass sie sofort wieder einknicken. Bevor ich erneut versuche, mich aufzurichten, ist Lucca schon an meiner Seite und zieht mich hoch. „Was ist passiert?", frage ich panisch.
Es war Kate, die da geschrien hat, ohne Frage. Und bis jetzt habe ich dieses Geräusch nur ein Mal gehört. Als sie sich als Kind den Arm an einer Glasscherbe aufgeschnitten hat und sich in Lebensgefahr befand. Ist sie es jetzt wieder?
„Ich weiß es nicht", antwortet Lucca. Seine Stimme klingt erstaunlich ruhig. Wie schafft er es nur, sich in solchen Situationen so gut unter Kontrolle zu haben?
„Das war Kate", entfährt es mir. Diese Aussage ist so überflüssig, dass ich ohne eine Erwiderung abzuwarten, zu dem Weg, der am Abgrund entlang in die Tiefe führt, stolpere und den Namen meiner Schwester rufe. Keine Antwort.
Was, wenn sie abgestürzt ist?
Vor meinem inneren Auge male ich mir das Schlimmste aus. Was, wenn Kate etwas zugestoßen ist. Dann wird Mum durchdrehen. Ich würde nicht nur meine kleine Schwester, sondern auch meine Mutter verlieren. Mir wird übel.
Panisch stolpere ich auf den schmalen Weg und stütze mich dabei lediglich an der Felswand ab. Wie weit ich vom Abgrund entfernt bin, ist mir egal. Meine Gedanken wurden von dem Rest meines Körpers getrennt. Ich bin taub und spüre nichts mehr.
In meinem Kopf rast alles durcheinander. Lass nichts geschehen sein... bitte... bitte...
Ich bin so sehr von meiner Umwelt abgeschnitten, dass ich hinter einer scharfen Wegbiegung beinahe über Emma gestolpert wäre, die auf dem Boden sitzt. In den Armen hält sie... „Kate!"
Erleichtert lasse ich mich neben meiner Schwester auf den Boden fallen und strecke die Hand nach ihr aus. Alles Blut ist ihr aus dem Gesicht gewichen. Außerdem zittert sie so stark, dass Emma sie mit viel Kraft festhalten muss, damit sie nicht von dem Weg in den Abgrund rutscht. Im ersten Moment fühle ich mich an Stellas epileptischen Anfall erinnert, aber Kate scheint bei vollem Bewusstsein und körperlich in Ordnung zu sein.
„Was ist passiert?", frage ich und sehe Emma an. Da beginnt Kate plötzlich zu schluchzen und streckt ihre Arme nach mir aus. Behutsam bettet Emma Kates zitternden Oberkörper auf meinen Schoß. Ich ergreife die Hand meiner Schwester, woraufhin sie so fest zudrückt, dass ich meine Gelenke knacken höre.
„Was ist passiert?", wiederhole ich.
„Iiiich... i... ich... ich", beginnt Kate. Selbst ihre Stimme zittert so sehr, dass ich Mühe habe, auch nur ein Wort zu verstehen.
„Kate ist zu nah an den Abgrund gekommen. Sie wollte ins Tal schaun und wär dabei fast abgestürzt", erklärt Emma schnell.
Für einen Moment setzt mein Herz aus, „Sie ist WAS?"
„Ich konnte sie festhalten, ihr ist nichts passiert, aber es war 'n großer Schock", sagt Emma.
Ja, sogar für mich ist das ein ziemlicher Schock. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre Emma nicht da gewesen. Kein Wunder, dass Kate so durcheinander ist. Am liebsten hätte ich in ihr Schluchzen mit eingestimmt. Ob vor Erleichterung oder weil ich selbst so erschrocken bin, weiß ich nicht. Aber ich muss stark bleiben für meine kleine Schwester, so wie ich es immer war. Ich konzentriere mich ganz auf meine Atmung, damit wenigstens ich ein bisschen zur Ruhe komme.
„Scht", flüstere ich und streiche mit kreisenden Bewegungen über Kates Rücken, „ist ja gut." Immer und immer wieder sage ich diesen Satz - teilweise auch, um mich selbst zu beruhigen - bis Kate aufhört, zu schluchzen. Auch das Zittern ebbt allmählich ab, doch es verschwindet nicht ganz.
„Ich hab gedacht, ich sterbe", sagt Kate und verbirgt ihren Kopf in meinem T-Shirt.
„Aber du bist nicht tot", wispere ich in ihr Ohr, „du lebst noch. Emma hat dich festgehalten. Alles ist gut."
Ohne Emma wäre Kate jetzt vermutlich nicht mehr am Leben. Dieser Gedanke erreicht zwar meinen Kopf, aber ich fühle ihn nicht. Für mich ist die Außenwelt noch immer so unglaublich weit weg.
„Danke", sage ich in Emmas Richtung und sehe ihr in die Augen. Zu meiner Überraschung wirkt sie beinahe ein bisschen enttäuscht und wütend. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie erschrocken oder ebenfalls erleichtert ist. Vielleicht auch ein bisschen stolz, aber auf keinen Fall wütend.
„Das war selbstverständlich", antwortet sie und nun klingt auch ihre Stimme hart. Viel zu schnell löst sie ihre Augen von meinen und fixiert Lucca.
„Können wir kurz reden?", fragt sie ihn und berührt dabei fast beiläufig einen der Stecker in ihrem Ohr. An Luccas Reaktion erkenne ich jedoch, dass hinter dieser kleinen Bewegung mehr stecken muss, als es den Anschein macht, denn er weitet fast schon entsetzt die Augen. Nun sieht auch er wütend aus.
„Ja, ich denke, das sollten wir", antwortet er, nicht weniger verbittert als Emma. Diese Reaktion ist doch nicht normal! Eigentlich müsste Lucca auch froh sein, dass Kate nichts zugestoßen ist.
„Ist alles in Ordnung?", will ich wissen und blicke zwischen den beiden hin und her. Doch ich ahne, dass sie mir sowieso nicht verraten werden, was los ist.
„Ja, ist es", meint Lucca, „Emma und ich müssen nur mal kurz reden. Ihr kommt allein klar, bis wir wieder da sind?"
„Ich denke schon."
Zu gerne hätte ich ihm eine andere Antwort gegeben, aber was bleibt mir anderes übrig? Kate braucht mich und das ist wichtiger, als herauszufinden, warum Emma unbedingt mit Lucca reden möchte. Trotzdem lässt mich die Frage nicht ganz los, weshalb sich die beiden so seltsam verhalten und als sie gemeinsam hinter einer Wegbiegung verschwinden, wäre ich ihnen am liebsten gefolgt.
Stattdessen halte ich Kate jedoch weiter fest und streichele sie. Schließlich richtet sie sich auf und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Emma hat mich nicht festgehalten", sagt sie leise, aber laut genug, sodass ich sie verstehen kann.
„Wie meinst du das?" Hat Emma etwa gelogen? Redet sie deshalb jetzt mit Lucca? Aber was ist dann passiert? Sie hat Kate doch nicht etwa gestoßen? Das würde ich ihr nie im Leben zutrauen. Aber so ist das ja immer mit Menschen, von denen man nichts Böses erwartet.
„Ich bin näher an den Abgrund gegangen, weil ich die Aussicht genießen wollte. Dann wurde mir schwindelig, ich bin getaumelt und gefallen", erklärt Kate. Nun etwas lauter und energischer. „Ich habe den Boden unter meinen Füßen nicht mehr gespürt, aber dann war da etwas, das mich in der Luft gehalten hat. Etwas, das ich nicht sehen konnte. Und dann habe ich ein magisches Prickeln gespürt. So wie das, das ich immer fühle, wenn ich Wasser benutze. Aber diesmal war ich es nicht. Es war Emma. Sie hat mich gerettet. Mit einem Element."
Schon lange ahne ich, dass Lucca und seine Freunde etwas mit Maria Vecca und den vier Elementen zu tun haben. Ich muss an die Liste der Elementträger denken, die ich bei den Bellucos gesehen habe. Bedeutet das etwa, dass Lucca und seine Freunde ein Element beherrschen, so wie Kate? Es ist klar, was Emma dabei geholfen hat, meine Schwester zu retten. Luft. Das ist das einzige Element, das sie davor bewahren konnte, in den Abgrund zustürzen.
„Wirklich?", frage ich nach.
„Na super. Jetzt denkst du bestimmt wieder, ich hätte halluziniert", mault Kate und verschränkt mürrisch die Arme.
„Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht genau, was ich denken soll", gestehe ich. Natürlich kann sich Kate alles nur eingebildet haben. Vor ein paar Wochen hätte ich das vermutlich als einzige plausible Erklärung abgetan. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Nachdem ich gesehen habe, wozu Kates Element fähig ist, ich mit ihr ein geheimes Archiv betreten habe und den Spionen Falcinis, den Cinquenti, gegenüber gestanden habe, fällt es mir schwer, irgendetwas nicht zu glauben.
„Es ist möglich, dass sie dich gerettet hat und eine Elementträgerin ist, aber genauso gut ist es möglich, dass du überreagiert hast", fahre ich fort und lasse den Blick über die Berge schweifen, die man von hier aus sehen kann. Sie ragen klar und scharf in den Himmel empor. Doch leider können sie uns nicht dabei helfen, eine Antwort zu finden. „Aber ich glaube eher ersteres."
„Und wie bekommen wir heraus, was stimmt?", fragt Kate.
„Indem wir Emma dazu bringen, ihr Element noch einmal zu benutzen", schlussfolgere ich.
„Du meinst, ich soll mich wieder den Berg runterstürzen?" Kate sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
„Natürlich nicht", sage ich schnell, „es muss irgendwie anders gehen."
„Und wie?"
„Das weiß ich noch nicht. Aber irgendetwas wird uns schon einfallen. Ich wüsste nur zu gerne, was Emma und Lucca jetzt miteinander bereden", überlege ich laut.
„Wir könnten ihnen hinterhergehen und versuchen, sie zu belauschen", schlägt Kate vor, doch ich schüttele nur mit dem Kopf.
Sie zittert noch immer ein wenig. In diesem Zustand kann sie sich nicht unbemerkt an jemanden heranschleichen und alleine lassen will ich sie nicht. Außerdem stehen wir nicht unter Zeitdruck. Wir müssen Emma ja nicht heute dazu bringen, ihr Element noch einmal zu benutzen. Wenn wir das jetzt mit irgendeiner schlecht überlegten Aktion versuchen, wird sie vielleicht misstrauisch und verschließt sich vollkommen vor uns.
„Es wäre schön, nicht die einzige Elementträgerin auf diesem Planeten zu sein." Ein trauriges Lächeln huscht über Kates Gesicht.
„Du vergisst Pietros Onkel Giacomo." Laut Marias Tagebuch beherrscht Giacomo immerhin alle vier Elemente. Auch wenn er nach dem Tod seines Sohnes Leonardo durch einen Schock die Fähigkeit dazu verloren hat. Bestimmt weiß er trotzdem, wie man die Elemente benutzt.
Ich habe schon überlegt, ob wir einfach versuchen sollen, ihn zu kontaktieren und ihm zu erzählen, was wir alles in Erfahrung gebracht haben. Vielleicht kann er uns ja helfen. Aber andererseits hätte ich vorher gerne das Tagebuch fertig gelesen, um zu wissen, was wir heute noch von Giacomo erwarten können.
Bevor Kate und ich weiter sprechen können, erscheinen Lucca und Emma auch schon wieder. Sie laufen mit so viel Abstand zueinander, wie es auf dem engen Weg möglich ist. Beide haben die Gesichter zu grimmigen Mienen verzogen. Sieht so aus, als wäre ihr Gespräch nicht sonderlich gut gelaufen.
Trotzdem ist Lucca bemüht, sich seine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen. Er fragt Kate ganz lieb, wie es ihr geht und ob sie denn schon in der Lage sei, weiter zu gehen, woraufhin meine Schwester zuversichtlich nickt. Er hilft ihr beim Aufstehen und legt behutsam seine Hände auf ihre Hüften. Dann führt er sie langsam den Pfad hoch und achtet peinlich genau darauf, dass sie dem Abgrund nicht zu nahe kommt. Manchmal läuft er sogar schützend neben ihr, sodass er als Erster fallen würde, sollte sie gegen ihn stoßen.
Für einen gemeinen, schrecklichen Moment überlege ich mir, ihn zu schubsen, nur damit Emma ihr Element noch einmal benutzt, doch ich lasse es bleiben. Schon einen Herzschlag später hasse ich mich für diesen Gedanken. Ich könnte Lucca niemals in den Abgrund stoßen.
Ohne weitere Unterbrechungen kommen wir wieder auf sicherem Boden an. Dort sinkt Kate erst mal erleichtert in die Knie. Noch immer zittert sie, aber mittlerweile hat sie sich wieder unter Kontrolle.
„Müssen wir über den Weg auch wieder zurück?", fragt sie an Lucca gewandt. Der schüttelt jedoch nur mit dem Kopf.
„Es gibt einen einfacheren Wanderweg, der zu einem Lift führt. Wenn wir den nehmen, sind wir innerhalb einer halben Stunde wieder unten am Parkplatz."
„Dann nehmen wir ihn auf dem Rückweg", beschließe ich für die Gruppe.
„Ja, das ist in Ordnung." Lucca lächelt schwach und bevor ich mich versehe, nimmt er mich in den Arm.
Erst nachdem er sich wieder von mir gelöst hat, frage ich mich, warum er nicht Kate umarmt hat. Immerhin ist meine Schwester diejenige, die heute fast in eine Talschlucht gestürzt wäre und nicht ich.
„Danke, dass ihr zwei Kate das Leben gerettet habt", sage ich an Emma und Lucca gewandt. Ohne die beiden wäre meine Schwester jetzt nicht hier. Emma hat meine Schwester heute gerettet und Lucca vor dreizehn Jahren. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.
Erneut legt Lucca seinen Arm um mich und diesmal nehme ich sogar seine Hand in meine. Unsere Finger verschränken sich ineinander. Etwas schüchtern lächeln wir einander zu. „Das Leben ist so, wie es ist und man kann es nicht ändern", meint Lucca.
Nachdem wir eine weitere kurze Pause eingelegt haben, setzen wir unseren Weg fort. Die ruhige Berglandschaft umgibt uns, aber sie kommt mir nicht länger friedlich vor, sondern heimtückisch. Überall verbergen sich Gefahren und zum ersten Mal wird mir bewusst, wie vorsichtig man beim Wandern in den Bergen sein muss.
Zwei Bussarde fliegen kreischend über unsere Köpfe hinweg. Vermutlich sind sie auf der Suche nach Futter. Beinahe erwartungsvoll blicke ich in den Himmel hinauf.
Normalerweise gibt es für mich nichts Schöneres, als zuzusehen, wie die langen, hellen Sommertage von dem rauen, kühlen Herbst abgelöst werden, aber aus irgendeinem Grund bin ich trotzdem froh, dass es hier in Italien so lange warm und sonnendurchflutet bleibt.
Die Kapelle, die unser Ziel ist, sieht man schon von Weitem. Nichtsdestotrotz brauchen wir noch ziemlich lange, bis wir sie endlich erreicht haben. Das kleine, weiß gestrichene Gebäude ragt einsam auf einem Felsvorsprung dem Himmel entgegen. Es hat keinen Turm oder sonstigen Schmuck und es sieht auch nicht aus, als würden besonders viele Leute dort hineinpassen.
Unwillkürlich frage ich mich, zu welchem Zweck man das Gebäude wohl errichtet hat. Für ganz normale Gottesdienste bestimmt nicht. Vielleicht kommen ja manchmal Pilgerer hierher.
Außer uns hat sich noch eine dreiköpfige Gruppe von Wanderern an diesen sonderbaren Ort verirrt. Serafino, Ludo und Hector kann ich jedoch nirgends ausmachen. Vermutlich sind sie schon in der Kapelle und warten dort auf uns.
„Das ist ja wunderschön", ruft Kate begeistert aus, „warum habe ich bloß mein Malzeug nicht dabei? Ich könnte das Licht, das durch diese hübschen Glasfenster fällt, perfekt einfangen."
Erst jetzt bemerke ich, dass die dreckig weiße Kapellenwand tatsächlich von bunten Glasfenstern geschmückt wird. Unglaublich, was Kate alles entdeckt. Aber das ist typisch für sie. Sie sieht die Welt mit den Augen einer Künstlerin. Überall findet sie Details und Motive, die es wert sind, auf dem Papier festgehalten zu werden. Eingefroren in der Zeit. Unsterbliche Augenblicke.
Ich muss zugeben, die Lage der Kapelle ist ganz süß, aber all die Anstrengungen, die der Weg uns gekostet hat, stecken noch tief in meinen Gliedern und so kann ich ihre einzigartige Schönheit nicht wirklich in mir aufnehmen.
„Wollen wir reingehen?", schlägt Lucca vor, „die anderen warten bestimmt drinnen auf uns."
Schon beim Übertreten der Schwelle schlägt mir der kühle, charakteristische Geruch von alten Gebäuden entgegen. Die Steinwände halten den größten Teil der draußen herrschenden Wärme ab, sodass es angenehm frisch ist.
Die Kapelle selbst bietet mit Bänken und Stühlen für nicht mehr als fünfzig Leute Platz. Sie besteht lediglich aus einem Raum, an dessen Wänden verblasste Bilder hängen, auf denen Heilige zu sehen sind, die Gott anbeten. Mich stört der fast schon qualvolle Gesichtsausdruck, den der Maler ihnen verpasst hat. Normalerweise müsste es für die Leute doch erfüllend sein, zu beten und nicht schmerzhaft.
Genau wie Kate vermutet hat, fällt ein schwaches Licht durch die bunten Glasfenster, in dem Staubsäulen tanzen. An dem Boden erkennt man, dass schon viele Generationen von Menschen hier gewesen sind. Überall lassen sich abgelaufene, tieferliegende Stellen in den Steinen finden. Die Kapelle hier ist in keinster Weise mit den großen Domen Italiens zu vergleichen, die tausende von Touristen anlocken. Und trotzdem ist sie viel mehr ein heiliger Ort als die pompösen Gotteshäuser, die in Siena, Pisa oder Florenz stehen.
In der ersten Bankreihe vor dem schmucklosen Altar sitzen Hector, Ludo und Serafino. Sie unterhalten sich angeregt, was aber niemanden stört, da sie die einzigen Besucher der Kapelle sind.
„Wow", staunt Kate und schreitet langsam, fast anmutig auf den Altar zu. Als hätte sie dieser Ort in einen magischen Bann versetzt.
Lucca und Emma gehen währenddessen mit raschen Schritten auf Hector, Ludo und Serafino zu. Ohne viel Rücksicht zu nehmen unterbrechen sie deren Gespräch und reden leise, aber eindringlich auf sie ein.
Ich trete ein bisschen näher an die Fünf heran, damit ich die Gesichtsausdrücke von Hector, Ludo und Serafino erkennen kann. Bestimmt haben Emma und Lucca ihnen gerade von Kates Beinaheabsturz und ihre Rettung durch Emma erzählt.
Wie ich erwartet habe, sehen alle drei ziemlich erschrocken aus. Serafino verzieht den schmalen Mund, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen und Hector verbirgt sogar sein Gesicht hinter den Händen. Ganz ehrlich, so eine Reaktion ist wirklich nicht normal.
„Wir gehen kurz raus", sagt Lucca an mich gewandt und deutet auf sich und die anderen vier. „Ist das okay?"
„Kann ich euch hier drinnen anketten?" ist meine Antwort darauf. Diese Geheimniskrämerei geht mir höllisch auf die Nerven. Aber was soll ich schon tun? Ich kann ihnen ja schlecht verbieten, miteinander zu reden.
„Wir sind gleich wieder da", meint Lucca und er sieht beinahe ein bisschen aus, als würde es ihm leidtun. Das kann es auch. Es ist kein schönes Gefühl, ausgegrenzt zu werden.
Ich nicke mit verschränkten Armen und beobachte die Fünf, wie sie aufstehen und die Kapelle verlassen. Dann wende ich mich wieder meiner Schwester zu. Die ist wie in Trance und hat gar nichts von dem bemerkt, was um sie herum geschieht.
Fasziniert bleibt sie vor dem Taufbecken stehen, das mit mehreren kleinen Figuren geschmückt ist. „Wow, so mega wunderschön", murmelt sie leise und staunend vor sich hin.
Man erkennt kaum noch die Gesichter der Figuren, so alt sind sie und die Mühe, das Taufbecken zu restaurieren, macht sich hier wohl keiner. Was daran ist also bitte wunderschön? Vermutlich werde ich Kates Begeisterung für heruntergekommene Kleinigkeiten nie verstehen.
Ungeduldig sehe ich auf die Uhr und warte darauf, dass eine Minute verstreicht. Die Zeit, die bis dahin vergeht, kommt mir unglaublich lange vor und ich erwische mich dabei, wie ich nervös von einem Bein aufs andere trete. Sobald die Minute vorbei ist, stürze ich zur Tür und öffne sie einen Spalt breit. Vielleicht kann ich ja sehen, wo Lucca, Emma, Serafino, Ludo und Hector hingegangen sind und versuchen, ihnen zu folgen. Doch ich muss sie nicht mal suchen. Ihre Stimmen erklingen zwar leise, aber dennoch nahe genug an der Kirchentür, dass ich sie ohne Probleme verstehen kann.
„...nicht richtig von dir. Du hättest das nicht tun sollen." Diese Stimme ist eindeutig männlich. Aber ob sie Hector, Ludo oder Serafino gehört, kann ich nicht sagen.
„Und was hätt' ich eurer Meinung nach tun sollen?" Das ist Emma. „Sie sterben lassen?!"
„Nein", antwortet Lucca energisch, „aber wir sollten vorsichtiger sein. Ihr wisst alle, wie sehr sie da nachforschen. Vor allem Brionny. Sie weiß etwas und ich habe Angst, dass sie mit dem, was sie weiß, zu den falschen Leuten geht."
„Es war falsch, dass du ihr überhaupt davon erzählt hast!" Wieder einer von den Jungs.
„Jetzt ist es meine Schuld oder was? Woher sollte ich denn wissen, dass sie auf die Idee kommt, sie könnten wahr sein?", verteidigt sich Lucca.
„Naja... sie wohnt in dem Haus von der Vecca, stimmt's? Du weißt, was sie damals gesagt hat." Einer der Jungs.
„Leute, es ist doch egal, oder?", unterbricht Emma den Streit, „was passiert ist, ist passiert. Wir müssen in Zukunft halt vorsichtiger sein mit den Elementen. Solang Brionny und Kate nicht erfahren, dass wir Elementträger sind, sind wir sicher. Aber denkt ihr nicht, dass die zwei noch misstrauischer werden, wenn wir dauernd verschwinden und irgendwelche geheimen Gespräche führn?" Beinahe wäre mir ein erschrockener Laut entfahren. Doch im letzten Moment halte ich die Luft an. Elementträger? Alle fünf?
„Emma hat Recht", meint Lucca, „klar, es betrifft uns alle und es ist nicht sonderlich ideal, aber was können wir jetzt schon groß ändern?"
Grummelnde Zustimmung von den anderen. Was sie genau sagen, verstehe ich nicht. Erst nach einem Augenblick des Schweigens bemerke ich, dass das Gespräch nun vorbei ist. Mit klopfendem Herzen husche ich zu einer der Bänke und setze mich hin. Hoffentlich gelingt es mir, einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, während die Gedanken hinter meiner Stirn nur so rasen. Emma besitzt tatsächlich die Fähigkeit zu dem Element Luft. Das Gespräch, das ich soeben belauscht habe, lässt kaum einen Zweifel daran. Kate ist nicht länger die einzige Elementträgerin.
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