24. Cinquenti

Die seltsamen Gestalten mit den regenbogenfarbenen Augen tauchen bis zum Abend nicht wieder auf, sodass wir uns schließlich entscheiden, die Fenster in den oberen Stockwerken zu öffnen und frische Luft in das stickige Haus zu lassen, während die im Erdgeschoss fest verschlossen bleiben. Vorsichtshalber spannen wir außerdem unsichtbare Stolperfallen hinter die Haustür.

Noch dazu knoten wir eine Leiter aus Bettlaken, mit der wir notfalls aus dem Fenster fliehen können. Die übrigen Küchenmesser, sowie Deo und Feuerzeug bleiben für den Fall der Verteidigung griffbereit. Noch dazu schreibe ich Pfefferspray ganz oben auf die Einkaufsliste für nächste Woche. Wo genau man das kriegt, muss ich noch in Erfahrung bringen, doch ich würde mich deutlich wohler fühlen, wenn wir so etwas besäßen.

Nachdem das erledigt ist, schaue ich nach meiner Schwester. Kates Knie blutet mittlerweile zwar nicht mehr, doch ich reinige und verbinde die Wunde trotzdem vorsichtig. Sie ist auf dem sandigen Boden der Ruinen hingefallen, weshalb kleine Steinchen in ihre Wunde gelangt sind, die ich mit der Pinzette entferne. Hoffentlich entzündet sich das nicht. Wenn doch, müssen wir zu einem Arzt gehen.

Zum Abendessen gibt es lediglich aufgebackenes Baguette mit ein paar Dips, während ich WhatsApp-Web nach neuen Nachrichten checke. Tatsächlich hat Stella mir geschrieben, weil ich nicht in der Schule war und gibt mir die Hausaufgaben für den nächsten Tag durch. Sie meint, sie habe mich sogar angerufen und mich aber nicht erreichen können, weshalb sie mich nun auf diesem Weg kontaktiere. Am liebsten hätte ich auch auf nach neuen Nachrichten auf meinem Handy geschaut, doch es liegt noch immer in dem Raum hinter den Ruinen. Ohne mein Handy fühle ich mich seltsamerwesie schutzlos. So als würde etwas fehlen.

Am Abend halten wir uns mit Unterhaltungsfernsehen wach. Keine von uns möchte schlafen. Einen großen Schrecken gibt es, als Mum gegen ein Uhr nachts von der Arbeit zurückkommt und in einer unserer unsichtbaren Stolperfallen hängen bleibt. „Brionny, Kate! Was zur Hölle habt ihr hier gemacht?!", flucht sie, doch sie erwartet nicht ernsthaft eine Antwort, sondern verzieht sich miesgelaunt in ihr Bett. Schuldbewusst beseitige ich dann doch die Stolperfallen. Schlimm, wie paranoid wir schon geworden sind. Ich wünschte mir so sehr, wir wären nicht in die Ruinen gefahren. Etwas Neues über die Legenden haben wir nicht erfahren. Stattdessen sind wir dem Tod nur knapp entronnen.

Ständig tauchen die Gestalten mit den Pestmasken in meinen Gedanken auf und ich erwische mich dabei, wie ich immer wieder ängstlich aus dem Fenster starre, in der Angst, eine von ihnen könnte unsere Straße heraufschleichen.

Als die Kirchturmuhr zwei schlägt, nickt Kate erschöpft vor dem Fernseher ein und ich nehme mir einmal mehr Marias Tagebuch vor. Mittlerweile ist es zu so etwas wie einem zweiten Internet geworden, in dem man jede Antwort auf die Fragen bezüglich der Elemente findet. Und schließlich war es auch Maria, die uns den Hinweis gab, in den Ruinen nachzuschauen. Vielleicht kann ich von ihr mehr über die Ereignisse des heutigen Tages erfahren.

Die letzten Stationen von Marias Leben lesen sich relativ leicht. 1979 gründete Giacomo gemeinsam mit seinen Kommiliton:innen an der Uni den zweiten Geheimbund der Elemente. Maria hielt sich dort meist raus. Es wirkte, als habe sie mit den Elementen und dem Geheimbund abgeschlossen. Doch Giacomos Stiefvater, Simone Belluco, unsterstützte ihn, wo er nur konnte. Leider erfahre ich aus dem Tagebuch nicht, welche Rolle Alessandro Belluco, Pietros Vater, in dem neu gegründeten Geheimbund spielt.

Der neue Geheimbund wollte jedoch im Gegenteil zum ersten so verdeckt wie möglich bleiben und gegen Falcini und dessen Anhänger im Geheimen vorgehen. Falcini hatte jedoch einen entscheidenden Vorteil dem Geheimbund der Elemente gegenüber: die Arbeit von Jahrzehnten. Auch wenn er noch immer nur eingeschränkte Macht über das fünfte Element besaß, so hatte er trotzdem die Regierung infiltriert und selbst im Ausland Spione, die nach möglichen übrig gebliebenen Elementträgern Ausschau hielten, die die Eliminierungsaktion der sechziger Jahre überlebt hatten, um sie und ihre Familien schließlich doch noch verschwinden zu lassen.

Mit Hilfe der eingeschränkten Macht, die Falcini über das fünfte Element besaß, hatte er Experimente mit Menschen durchgeführt. Scheinbar wollte er testen, wie mächtig Menschen durch das fünfte Element werden können. Doch seine Versuche liefen schief und entstellten die Versuchspersonen. Sie wurden durch die Magie des Elements trotzdem unfassbar mächtig. Obwohl ihre Augen von nun an regenbogenfarben leuchteten und sie sich vor der Öffentlichkeit verstecken mussten, waren ihre Körper kräftig und sie konnten sogar die Gestalt wandeln. Diese Fähigkeit war wohl nicht sonderlich ausgeprägt, aber es reichte, damit sie in den vier Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft überleben konnten. Giacomo hatte dies festgestellt, da er nun gegen eben jene Versuchspersonen, die er die Cinquenti nannte, kämpfen musste und sie ihm zunächst unbesiegbar erschienen.

An dieser Stelle stoppe ich mit Lesen. Regenbogenfarbene Augen. Genau wie die Wesen, die uns gejagt haben!

Ein Schauer läuft meinen Rücken hinunter. Sollen das tatsächlich Versuchspersonen von Falcini gewesen sein? Aber woher wussten sie dann, dass Kate das Element Wasser beherrscht? Hat sie sich verraten, in dem sie es benutzte? Oder waren sie nur zufällig in den Ruinen?

Hastig rüttele ich meine kleine Schwester wach. Sie muss das unbedingt lesen! „Kate... Kate... Schau dir das an!", rufe ich ihr zu.

„Was... wo?", ruft sie erschrocken und richtet sich ruckartig kerzengerade auf. Sofort ist ihr ganzer Körper in Alarmbereitschaft. Besonders tief hat sie wohl nicht geschlafen.

„Schau mal, was Maria hier schreibt!" Auffordernd halte ich ihr das Tagebuch unter die Nase. Mit beinahe gleichgültiger Miene huschen ihre Augen über die Zeilen. Erst beim zweiten Mal Lesen verändert sich ihr Gesicht. „Du meinst, das sind diese Gestalten?!", fragt sie entsetzt und hält erschrocken die Hand vor den Mund.

„Was sonst sollen sie sein?"

„Aber... aber..."

„Sie wissen nicht, wer von uns die Fähigkeit zum Element besitzt, sonst hätten sie es ja nicht auf uns beide abgesehen", versuche ich sie zu beruhigen, „trotzdem solltest du deine Fähigkeiten wenn möglich nicht mehr in der Öffentlichkeit benutzen."

„Meinst du, das klappt?", fragt sie skeptisch.

„Wenn du das Wasser mit Gedankenkraft bewegen kannst, dann kannst du es bestimmt auch bewusst aufhalten." Einen anderen Weg gibt es nicht. Ich weiß nicht, wie die Cinquenti auf unsere Spur gekommen sind, aber wir müssen vorsichtig sein. Sollte Falcini noch leben und Marias Geschichte stimmen, dann geht von den Cinquenti, diesen Gestaltwandlern, eine große Gefahr aus.

Aber vielleicht kennt Maria ja auch ein Weg, wie man die Cinquenti bekämpfen kann. Fast schon besessen von Marias Geschichte lesen wir weiter, doch es lässt sich nicht mehr viel finden. Ihr Leben scheint in Stationen abzulaufen.

1982 - Giacomo und Simone forschen beide an den Elementen und finden heraus, wie man Artefakte herstellen kann. Mit Hilfe dieser Artefakte wird Giacomo mächtiger als die Cinquenti und es gelingt ihm, sie dauerhaft auf Abstand zu halten.

Vielleicht wäre so etwas ja die Lösung für uns. Allerdings wissen wir weder, wo wir Artefakte finden können, noch wie man sie herstellt.

1983 - die Hochzeit Giacomos und seiner Freundin. Es wirkt als wäre er nun, da die Cinquenti besiegt scheinen, zum ersten Mal seit langer Zeit richtig glücklich.

1987 - die Geburt von Marias erster Enkelin Alessia. Auch Maria scheint endlich ein bisschen Glück und Zufriedenheit gefunden zu haben.

1990 - die Geburt ihres zweiten Enkels Philippe und die Hochzeit von Alessandro und Gaia Belluco.

1993 - die Geburt von Marias drittem Enkel Leonardo. Nur wenige Monate nach seiner Geburt wird er von den Spionen Falcinis entführt, gilt ab sofort als unauffindbar und letztendlich sogar als tot. Giacomo bricht es das Herz. In der Trauer um seinen Sohn verliert er die Fähigkeit zu den vier Elementen. Scheinbar sind seine Gefühle so mächtig, dass sie die Magie der vier Elemente lähmen. Vollkommen traumatisiert und paralysiert. Maria tut es weh, ihren Sohn so leiden zu sehen. Doch Leonardos Verlust ist auch für sie selbst eine bittere Qual. Ein bisschen wirkt es, als gäbe sie sich die Schuld an dem Tod ihres Enkels. Ihre Einträge werden kürzer und triefen nur so vor Melancholie.

Die letzten Worte aus Marias Tagebuch lauten:

Das Leben verläuft nicht immer so, wie wir uns es wünschen. Man bekommt genommen, was man liebt, bevor man wirklich schätzen lernen konnte, was man hat. Menschen, denen wir einst vertrauten, nehmen uns das größte Glück, in dem sie unser Vertrauen missbrauchen. Und wir bleiben zurück mit nichts außer einem zerfleischenden, zerfressenden Gefühl aus Schuld und Vorwürfen, warum wir nicht schon vorher gemerkt haben oder merken wollten, dass wir in unser Verderben und das anderer rennen.

Scheinbar hat sie Bernardos Verrat nie ganz überwunden. Nach diesem Eintrag endet das Tagebuch. Einfach so. Der Zeitraum der letzten zwanzig Jahre bis heute fehlt. Enttäuscht starre ich auf die leere Buchrückseite. Das kann es doch nicht gewesen sein! Ich habe mehr von dem Tagebuch erwartet und ich spüre auch, dass da mehr sein muss. In hoffnungsvoller Erwartung klappe ich das Buch noch weiter auf, als ohnehin schon. Ein unangenehmes Knirschen ertönt und ich erkenne, dass eine leere Stelle im Buchrücken klafft.

Dort, wo eigentlich die letzten Seiten des Tagebuches sitzen müssten, sind nur Leim, lose Fäden und Leder. Ob die Seiten wegen des hohen Alters des Buches herausgefallen sind oder ob sie jemand mutwillig entfernt hat, lässt sich nicht sagen. Auf jeden Fall fehlen sie.

„So ein Mist!", fluche ich, „der Rest fehlt!" Sofort spurte ich in mein Zimmer. Vielleicht sind die Seiten ja rausgefallen, ohne dass ich es bemerkt habe. Doch in der Nische unter der losen Diele auf dem Boden, sowie unter dem Bett und hinter dem Schrank lässt sich nichts finden außer ein paar Staubflusen und toten Spinnen. Na super!

Die letzten Seiten des Tagebuchs scheinen unwiederbringlich verloren zu sein. Die Enttäuschung, die mich durchströmt, schmeckt bitterer als Galle und lässt in meinem Magen ein Gefühl zurück, als würde ich fallen. Alles umsonst!

Wie sollen wir jetzt weiterkommen? Das Tagebuch gibt nicht mehr viel her und der geheime Raum in den Ruinen hat uns überhaupt nicht geholfen. Von dem Wissen, das dort versteckt liegt, haben wir nichts mitgenommen. Die Welt der Elemente und der Legenden wird für uns weiterhin ein Rätsel bleiben.

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