23. In der Falle
„Scheiße!", fluche ich. Nicht so laut, wie ich es gerne hätte, denn meine Stimme zittert vor Angst. Blind stürze ich in die Richtung, in der ich den Wasserfall vermute und stoße dabei prompt einen Bücherstapel um. Laut polternd verteilen sich die Bücher auf dem Boden.
„Nini, was ist hier los?", fragt Kate voll Panik. Am liebsten würde ich sie beruhigen, so wie ich es immer gemacht habe, wenn sie als kleines Kind einen Albtraum hatte, aber ich bin ziemlich angespannt und weiß selbst nicht mal, was gerade passiert.
Meine Hände berühren kalten Stein dort, wo der Wasserfall war. Für einen Augenblick setzt mein Herz aus. Meine Eingeweide verkrampfen sich. Wir sind in dem Steinbruch eingesperrt. Wie sollen wir hier nur wieder rauskommen? Niemand weiß, wo wir sind und von der Straße aus kann man das Auto nicht sehen. Es könnte also ziemlich lange dauern, bis uns jemand hier suchen wird. Und selbst dann kommt bestimmt niemand auf die Idee, dass wir in einem Steinbruch gefangen sind.
Ich zittere und drohe, in einer Welle von Angst unterzugehen. Ganz langsam schließe ich die Augen und zähle beim Einatmen bis zehn, damit ich ein bisschen ruhiger werde. So gelingt es meinem Verstand, meine Gefühle in den Hintergrund zu drängen.
Ruhig bleiben und logisch denken, sonst kommen wir hier gar nicht mehr raus, sage ich zu mir selbst. Um mir erst mal einen Überblick zu verschaffen, krame ich in meiner Tasche nach meinem Handy. Mit dem schwachen Licht des Displays beleuchte ich den Raum. Meine Sicht reicht zwar nicht weiter als ein paar Meter, aber besser als nichts.
„Kate, komm her!", sage ich und strecke die Hand nach ihr aus. Tatsächlich stolpert meine Schwester über einen Bücherstapel auf mich zu. Kaum dass sie bei mir ist, schließe ich sie in die Arme und streiche ihr über den Rücken. Sie ist kalt und zittert noch mehr als ich.
Trotzdem frage ich sie: „Kannst du dein Element benutzen?" Ein Kopfschütteln als Antwort.
„Kate, es ist wichtig, dass du dich konzentrierst", sage ich zu ihr, „du musst das Wasser wieder heraufbeschwören, damit wir hier rauskommen."
Schluchzend lehnt Kate ihren Kopf gegen meine Schulter. So viel also zur Konzentration. Wütend schlage ich gegen die Steinmauer und rufe laut um Hilfe, doch ich bin mir sicher, dass nicht das geringste Geräusch an die Außenwelt vordringt. Selbst wenn man uns in den Ruinen hören könnte, würde das nichts bringen, da sich dort kein Mensch aufhält.
Da ertönt jedoch auf einmal ein lautes Knirschen, als würde eine unglaublich alte Tür geöffnet. Und tatsächlich, nicht weit von uns erscheint ein Umriss von Licht in der Steinwand, das den Raum erhellt.
Erleichtert atme ich auf. Also doch nicht eingesperrt.
Aber die Erleichterung hält nicht lange, denn durch die Tür treten drei Menschen mit langen, schwarzen Ledermänteln. Ihre Gesichter werden von schnabelartigen Pestmasken des Mittelalters verdeckt. Instinktiv weiß ich, dass sie nichts Gutes wollen. Es ist nur ein Gefühl, aber die Pestmasken und langen Mäntel lassen mein Herz schneller schlagen.
Ich räuspere mich und hoffe, dass ich nicht allzu sehr zittere. „Hallo. Was wollen Sie hier?"
Keine Antwort. Natürlich nicht. Langsam und mit einer unwirklichen Ruhe in den Schritten schreiten die schwarzgekleideten Menschen auf uns zu. Unter den Pestmasken sind nur ihre Augen zu erkennen. Aus irgendeinem Grund verwirren sie mich, doch ich kann nicht erkennen, weshalb.
Da springt auf einmal eine der Personen über die Bücherstapel hinweg in unsere Richtung. Mit einem surrenden Geräusch zieht sie ein kurzes Schwert, das an der Scheide in ihrem Gürtels baumelt. Im ersten Moment habe ich das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder erschrocken sein soll. Was soll das Schwert? Wenn die Gestalten uns wirklich etwas antun wollten, hätten sie doch Pistolen oder andere Waffen gezogen, mit denen man auf Distanz töten kann. Dann schlägt mein Herz heftig und hart in meiner Brust. Schwert hin oder her, auch mit dieser Waffe können die Gestalten genug Schaden anrichten. Ich keuche auf und klammere mich an Kate fest, die mittlerweile aufgehört hat, zu schluchzen. So fest ich kann, packe ich meine Schwester am Oberarm und ziehe sie tiefer in den Raum, fort von den gruseligen Gestalten.
Die Person mit dem Schwert tritt einigen hastigen Schritt auf uns zu und hebt die Waffe über den Kopf. Vor Schreck lockert sich mein Griff um das Handy, sodass es aus meiner Hand rutscht und zu Boden fällt. Das merke ich allerdings nur am Rande. Reflexartig reiße ich meine Schwester mit zu Boden.
Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment saust die Klinge des Schwertes über unseren Köpfen durch die Luft. Sie hinterlässt einen schneidenden Nachhall. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn wir noch gestanden hätten.
Ohne nachzudenken lasse ich die Finger nach vorn schnellen und umfasse die Knöchel der Person mit dem Schwert. Ruckartig ziehe ich an den Füßen. Damit hat die Person scheinbar nicht gerechnet. Sie fällt mit voller Wucht auf den Rücken. Hastig springe ich auf die Beine und lasse mich auf ihren Brustkorb fallen. Sie gibt ein Stöhnen von sich, das nur annähernd menschlich klingt.
Zur selben der Zeit entreißt ihr Kate das Schwert. Als hätten wir uns abgesprochen. Dabei verrutscht der lange Mantel ein bisschen und gibt den Blick auf dünne, blasse Haut frei.
Die anderen zwei Personen in den langen Mänteln sind nicht untätig geblieben. Mittlerweile haben sie ebenfalls Schwerter gezogen, bereit uns zu attackieren. Deshalb geht Kate gleich zur Offensive über. Mit einer eleganten Bewegung greift sie einen von ihnen an. In der siebten Klasse mussten wir an der Schule in Brighton im Sportunterricht fechten, aber zwischen einem Florett und einem Schwert liegt ein großer Unterschied. Schon nach den ersten Hieben verliert Kate die Waffe. Das Herz rutscht mir in die Hose. Es fühlt sich an, als würde ich aus großer Höhe ungebremst fallen.
Ich will meiner Schwester zur Hilfe eilen, doch ich habe zu lange tatenlos zugesehen. Die Person, auf deren Brustkorb ich knie, umschlingt kraftvoll meinen Oberkörper und ich falle zu Boden, ohne dass ich die Möglichkeit habe, mich abzufangen. Mein Kopf schlägt unsanft auf dem harten Stein auf. Für einen Moment wird mir vor Schmerzen schwarz vor den Augen. Die Luft weicht zischend aus meinen Lungen. Ich fühle mich ohnmächtig.
Das war's also, schießt es mir durch den Kopf, während sich mein Gesichtsfeld ganz langsam wieder klärt. Über mir hängt die dunkle Gestalt mit der Pestmaske. Bei ihrem Anblick werde ich wütend. So soll es nicht enden. Was bilden diese Gestalten sich ein, uns anzugreifen? Als könnten sie einfach mit uns machen, was sie wollen! Vor meinen Augen sehe ich Mum, wie sie verzweifelt nach uns sucht, weil nicht nach Hause zurückkehren. Und Nonna und Grandpa, ganz aufgelöst und nicht mehr so freundlich und herzlich wie sonst. Nein, so weit wird es nicht kommen!
Mit meinen Fäusten wehre ich mich gegen meinen Gegner, der um einiges stärker ist als ich. Trotzdem kratze ich ihn ins Gesicht und versuche, die Maske von seinem Antlitz zu reißen. Schließlich treffe ich mit dem Knie zwischen die Beine der Gestalt. Ein wütender, schmerzvoller Aufschrei ist zu hören. In diesem Geräusch liegt ein gruseliger, unnatürlicher Unterton. Fast so, als wäre der Schrei computergeneriert.
Wütend schubse ich die Person von mir weg und stehe auf, um nach Kate zu sehen. Die beiden anderen Gestalten haben sie mittlerweile ziemlich weit in den Raum getrieben und drehen mir nun den Rücken zu.
Meine Schwester hat das Küchenmesser gegriffen, das wir als Vorsichtsmaßnahme mitgenommen haben. Sie versucht, die anderen damit auf Abstand zu halten. Es sieht jedoch nicht so aus, als würde ihr das besonders gut gelingen. Irgendetwas muss ich tun, sonst haben die beiden Kate bald erwischt. Aus Verzweiflung greife ich wahllos nach den Büchern eines Stapels und schleudere sie von hinten auf die Gestalten zu. Einige treffen sogar mit einem dumpfen Flupp ihr Ziel. Die Gestalten lassen ihre Schwerter sinken. Gruselig langsam wenden sich zu mir um. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sie sich wie ferngesteuert bewegen. Als hätten sie keine Kontrolle über ihre Gliedmaßen. Auf einmal arbeitet mein Verstand gestochen scharf. Vielleicht ist das ein Nachteil, den wir uns zu Nutze machen können.
„Kate komm! Weg hier!", schreie ich Kate entgegen. Meine Schwester legt einen Turbostart hin. Blitzschnell rennt sie zwischen den beiden Gestalten hindurch auf mich und den Ausgang zu. Die zwei sind so verdutzt, dass sie es einfach geschehen lassen. Als Kate mich erreicht, treten wir gemeinsam hinaus in die warme Mittagshitze der Ruinen. Sie erwartet uns wie eine warme Wand.
Trotzdem stoppen wir nur eine kurze eine Sekunde, in der mich das Sonnenlicht des Tages erleichternd durchflutet. Dann rennen wir augenblicklich los. So schnell wir können und ohne uns noch einmal umzudrehen. Staub wirbelt unter unseren Füßen auf, während wir vorwärts stürmen. Meine Füße treten hart in den sandigen Boden, während ich um die Überreste der Gebäude, die hier einmal standen, Slalom laufe. Plötzlich stolpert Kate über einen auf dem Boden liegenden Stein. Für einen Moment setzt mein Herz aus. Sie fällt der Länge nach in den Dreck. Doch ehe ich ihr zu Hilfe eilen kann, stemmt sie sich hoch und rennt weiter. Nichts wie weg!
Kaum dass wir die Pfirsichbäume erreicht haben und somit den Schotterweg, der zu unserem Auto führt, verlangsamen wir unsere Schritte. Mein Herz hämmert so schnell wie noch nie in meinem Leben und mir ist schlecht. Mein Magen hat sich zu einem einzigen Knoten zusammengezogen. Meine Schwester sieht nicht besser aus. Kate ist blass und zittert. Blut läuft an ihrem Bein hinunter und vermischt sich mit Schweiß und Dreck.
Erst jetzt wage ich einen Blick zurück über die Schulter. Hinter uns liegen, verlassen und einsam, die Ruinen von Pergula. Von den Leuten mit den Schwertern und Pestmasken ist nichts zu sehen. Die kahlen Steinmauern ragen aus dem Boden empor und verströmen eine Ruhe, die so gar nicht zu der Situation passen will.
„Sind sie weg?", fragt Kate nach Luft japsend.
„Ich glaub schon", keuche ich. Erleichtert nehme ich meine Schwester bei der Hand.
Da erklingt auf einmal ein lauter Schrei über uns. Erschrocken sehe ich zu den Kronen der Pfirsichbäume hinauf. In dem Geäst über uns klettert eine der Gestalten. Der schwarze Mantel und die Pestmaske sind unverkennbar. Aber der Körper dieser Gestalt ist nicht mehr annähernd menschlich. Arme und Beine wirken viel zu lang und auch der Oberkörper ist verzerrt. Was ist denn das? Für einen Moment bin ich völlig perplex, da ich nicht glauben kann, was ich gerade sehe. Doch ich fange mich schnell wieder.
„Lauf!", brülle ich Kate zu, während ich meine Geschwindigkeit fast verdreifache. Lautes Rascheln verrät mir, dass die Gestalt uns folgt. Vögel stieben empört zwitschernd gen Himmel.
Während ich zwischen den Pfirsichbäumen hindurch renne, fühle ich mich wie in einem Traum. Alle Angst ist aus meinen Gliedern gewichen. Mein Kopf ist leer von Gedanken. Ich weiß nur, dass ich nicht aufhören darf, zu rennen, dass dieses Ding, diese komische Gestalt, mich auf keinen Fall einholen darf und dass ich auf Kate aufpassen muss.
Noch während ich renne, verfängt sich eine Strähne meiner Haare in einem Ast. Fluchend breche ich diesen Ast ab und versuche, weiter zu rennen. Aber der Moment des kurzen Innehaltens ist schon genug für die Gestalt, um mich zu erreichen.
Eine harte Faust schlägt gegen meine Schläfe. Stöhnend falle ich zu Boden und schaffe es gerade noch so, mich umzudrehen, bevor ich den warmen Körper der Gestalt über mir spüre. Was ist das für eine Person? Was will sie hier und wenn sie kein Mensch ist, was ist sie dann?
Vor Schreck starre ich in die Augen der Gestalt. Da erst fällt mir auf, dass sie regenbogenfarben leuchten. Rot – orange –gelb – grün – blau und ein schwaches lila. Wie an meinem letzten Tag in Brighton. In diesem Moment muss ich an die Menschen denken, die mir wichtig sind und mir etwas bedeuten. An Meine Großeltern, Mum, Kate und Maddie. Seltsamerweise auch an Pietro und Lucca. Was werden sie wohl tun, wenn ich nicht von diesem Ausflug zurückkehre? Werden sie jemals erfahren, was mir zugestoßen ist? Vermutlich nicht.
Die Gestalt drückt ihre kräftige Hand auf meine Kehle. Zuerst wehre ich mich, kratze und trete mit allen Kräften. Aber Sekunden verstreichen und ich fühle mich immer schwächer. Schon jetzt liegt ein unglaublicher Druck auf meinem Brustkorb. Meine Lungen verlangen nach frischem Sauerstoff, doch den kann ich ihnen nicht geben. Es hat keinen Zweck. Ich schließe die Augen. Entkommen werde ich nicht und seltsamerweise ist diese Gewissheit sogar erleichternd. Ich muss nicht mehr rennen. Dann jedoch steigt eine essentielle Panik in mir empor, die jede Zelle meines Körpers erfasst. Ich brauche Luft. Und zwar schnell.
Auf einmal werden die Hände des Wesens von meiner Kehle weggerissen. Luft strömt krächzend in meine Lungen. Erstaunt öffne ich die Augen wieder. Nicht weit von mir steht eine weitere Gestalt . Sie trägt allerdings eine Sturmmaske und steckt in einem Militäranzug.
„Was soll die Scheiße?!", höre ich mich flüstern.
Die Person mit dem Militäranzug ringt stumm mit dem unheimlichen Wesen, bis sie schließlich siegt und es mit einem Aufschrei zu Boden wirft. Erschrocken schlage ich die Hände vor dem Mund zusammen. Dann wendet sich die Gestalt im Militäranzug mir zu. Ich meine zu sehen, wie sie einmal kurz mit dem Kopf nickt, fast so als würde sie mich grüßen oder mir damit sagen wollen, dass nun wieder alles in Ordnung ist. Bevor ich blinzeln kann, verschwindet sie jedoch wieder zwischen den Bäumen.
Die Gestalt mit den regenbogenfarbenen Augen lässt sie achtlos auf dem Boden liegen. Sie rührt sich zwar nicht, aber trotzdem spüre ich noch immer die Gefahr, die von ihr ausgeht. Ich will ihr gar nicht erst die Gelegenheit geben, mich noch einmal anzugreifen. Deshalb rappele ich mich wieder auf. Hastig stürze ich durch die dicht beieinander stehenden Bäume davon. Immer wieder versperren mir Äste und Blätter den Weg, aber ich schlage sie achtlos beiseite. Schließlich lasse ich die Pfirsichbäume hinter mir und erreiche das Auto, wo Kate bereits keuchend auf mich wartet.
So schnell es geht schließe ich auf und wir quetschen uns auf die Sitze. Dann starte ich den Motor. Vor lauter Zittern fällt es mir schwer, den Fuß von der Kupplung zu heben. Ruckelnd holpert das Auto über den Kiesweg und schließlich auf die Landstraße, wo ich das Gaspedal voll durchdrücke. Das Fahrzeug heult laut auf und scheint vor Anstrengung zu keuchen. Trotzdem kommt mir das Auto unglaublich langsam vor und ich flehe den Motor an, mich jetzt bitte nicht im Stich zu lassen. Erst als das Auto Höchstgeschwindigkeit erreicht, werde ich ruhiger.
Da fällt mir auf, dass wir mein Handy und das Küchenmesser verloren haben. Zurück will ich aber auf keinen Fall, ganz egal, ob etwas fehlt oder nicht.
„Mega Krass! Was war das?!", entfährt es Kate, nachdem wir eine Weile lang schweigend und schwer atmend nebeneinander gesessen haben, „der Kerl in dem Militäranzug hat unser Leben gerettet!" Erstaunt sehe ich meine Schwester an und stelle fest, dass sie Recht hat. Wäre der Typ im Militäranzug nicht gewesen, hätten uns die Gestalten mit den Pestmasken erwischt und uns möglicherweise sogar getötet. Wir wurden gerettet.
„Wer war das?", flüstere ich fragend, aber eher zu mir als zu Kate, „wer waren die Gestalten? Und woher kamen sie?" Auf diese Fragen wissen weder Kate, noch ich eine Antwort. Nur eine Sache ist klar. Die Gestalten mit den Pestmasken sind gefährlich und was auch immer sie in den Ruinen zu suchen hatten, sie haben uns angegriffen. Folglich müssen sie in uns eine Bedrohung sehen. Vielleicht haben sie ja auch etwas mit den Elementen zu tun. Die Gedanken in meinem Kopf rasen und scheinen ziellos in alle möglichen Richtungen zu laufen.
In Castiglione della Pescaia angekommen, drossele ich die Geschwindigkeit des Autos. Die Straßen sind mit Menschen gefüllt, die uns jeder Zeit zur Hilfe eilen könnten. Außerdem trennen uns von den Ruinen und den seltsamen Gestalten ein paar Kilometer. Gefahr droht uns vorerst scheinbar keine mehr.
Trotzdem stelle ich das Auto so weit entfernt von unserem Haus wie möglich ab. Falls eine der Gestalten uns tatsächlich gefolgt sein sollte, wird sie uns schon mal nicht beim Auto finden.
Durch die verschlungenen Gassen rennen Kate und ich nach Hause. Immer wieder drehen sich die Passanten verwundert zu uns um. Wir geben ja auch nicht gerade einen beruhigenden Anblick ab. In meinen Haaren haben sich Äste und Blätter verfangen und wir sind beide total verstaubt. Kates Knie blutet immer noch und die Wunde müsste dringend gereinigt werden.
Zu Hause schließe ich zuallererst die Haustür ab und die Klapprolläden an den Fenstern ziehe ich fest zu. Dann lassen wir uns in Kates Zimmer auf das Bett sinken. Jetzt, als alle Anspannung von uns abfällt, umarmen wir uns lange und fest. Kate beginnt zu schluchzen. Ob vor Erleichterung oder Erschöpfung, kann ich nicht sagen. Im Gegensatz zu meiner Schwester verliere ich keine Träne. Schon aus Prinzip nicht, aber auch weil mir die Geschehnisse des Nachmittags so unendlich weit weg und irreal erscheinen. Wie eine Szene aus einem Buch oder Film, aber nicht wie ein Teil meines Lebens. In den Ruinen habe ich meine Gefühle so gut es ging zurückgedrängt, um einen klaren Kopf zu behalten und selbst wenn ich es wollte, könnte ich die Emotionen jetzt nicht mehr zurückholen. Sind die Gefühle einmal weg, kann ich sie nie wieder in mir hervorrufen.
Fast schon mechanisch streiche ich über den Rücken meiner Schwester, um sie zu beruhigen. „Ich bin bei dir, ich lasse dich nicht los. Niemand kann dir etwas anhaben", flüstere ich.
Früher hat es immer geholfen, wenn ich ihr so etwas gesagt habe, aber Kate ist schon lange nicht mehr acht Jahre alt und mit Worten lässt sie sich nicht beruhigen.
„Nini, das sind keine Albträume, die du mit Worten verscheuchen kannst", antwortet sie verzweifelt, „das ist real. Diese Gestalten, die gibt es wirklich und sie sind auch in der Wirklichkeit hinter uns her." Was ich darauf erwidern soll, weiß ich nicht. Kate hat Recht. Aber was auch immer diese Gestalten sind, wir haben sie hinter unsgelassen. Bis jetzt sind sie uns noch nicht gefolgt und wer weiß, vielleicht hat unser anonymer Retter sie ja auf irgendeine Art und Weise unschädlich gemacht. Außerdem gibt es da noch einen entscheidenden Vorteil, den wir haben.
„Kate, du beherrschst ein Element", erwidere ich, „das macht dich stärker als diese Gestalten. Überleg' mal, du könntest das Element auch zur Selbstverteidigung einsetzen."
„Wie... Selbstverteidigung?" Meine Schwester klingt so, als wäre Selbstverteidigung ein Fremdwort für sie. Wahrscheinlich kann sich Kate auch gar nicht vorstellen, andere zu verletzen, selbst wenn es nur dazu dient, sich selbst zu retten. Nicht mal Spinnen oder Insekten macht sie platt, obwohl sie sich unglaublich vor den kleinen Viechern ekelt.
„Du greifst die anderen mit deinem Element an. Wie sonst?", helfe ich ihr auf die Sprünge.
„Andere... angreifen? Mit dem Element? Wie soll ich das denn machen?", fragt sie. Um Himmels Willen! Wie kann man nur so unschuldig sein?
„Wenn diese Leute wiederkommen, willst du dann, dass sie mit dir einfach machen können, was sie wollen?"
„Nein", antwortet Kate betreten und blickt zu Boden. Trotzdem sieht sie um einiges entspannter aus als noch vor ein paar Minuten. Im Grunde genommen fühle ich mich nach der Erkenntnis, dass Kate mit ihrer Magie Angreifer auf Abstand halten kann, ebenfalls viel besser.
„Aber wir können uns trotzdem auch anders darauf vorbereiten, dass diese seltsamen Gestalten wieder kommen und wenn sie das tun, zeigen wir ihnen, dass man sich mit uns besser nicht anlegt", schlage ich vor, worauf Kate sofort einwilligt. Gemeinsam hecken wir einen Schlachtplan aus, mit dem unser Haus zu einer uneinnehmbaren Festung wird.
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