22. Äquinoktium

Das Eiscafé ist bei diesem Wetter mäßig gefüllt. Radiomusik dröhnt aus den Lautsprechern an der Decke und die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Fröstelnd reibe ich mir die Arme. Hätte ich gewusst, dass es hier drinnen so kalt ist, hätte ich eine Jacke mitgebracht.

Lucca sitzt an einem Tisch in der Ecke des Cafés. Bei ihm der kleine, schüchterne Serafino und zwei Jungs, die ich als seine Freunde identifiziere. Außerdem ein recht muskulöses, aber unscheinbares Mädchen mit etwa schulterlangem Haar und leichtem Bartschatten.

Als Lucca uns sieht, winkt er uns freudig zu und deutet auf zwei freie Stühle am Tisch. „Schön, dass ihr so kurzfristig kommen konntet", strahlt er.

„Klar, was gibt's denn?", fragt Kate neugierig.

„Also erst mal möchte ich euch meine Freunden vorstellen", meint er, „das sind meine Brüder Serafino und Ludo und meine Freunde Hector und Emma."

„Hey, ich bin Kate", sagt meine Schwester lächelnd in die Runde und schüttelt jedem einmal die Hand. Ich dahingegen lasse mich mit einem „Brionny" auf den Stuhl neben Lucca sinken.

„Bellucos Freundin", meint Hector abfällig und zieht die Augenbrauen hoch. Auch er ist sehr muskulös. Um sein Hals hängt ein Goldkettchen und aus dem V-Ausschnitt seines T-Shirts lugen dunkle, krause Brusthaare. Der Blick, mit dem er mich ansieht, ist so kühl, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Hier fühle ich mich ja richtig willkommen.

„Es ist doch egal, mit wem sie noch befreundet ist, Hector", antwortet Lucca und sieht ihn finster an, „bitte rede nicht so mit ihr." Wütend funkele ich Lucca an. Es ist zwar lieb, dass er für mich eintritt, aber gleichzeitig auch super unangenehm. Als könnte ich nicht für mich selbst einstehen.

Grummelnd wendet sich Hector wieder seinem Getränk zu. Dafür dass er so eine große Klappe hat, gibt er relativ schnell klein bei. Aufmerksam mustere ich Luccas Freunde. So wie sie aussehen, könnten sie tatsächlich gut in eine Gang passen. Alle von ihnen tragen dunkle Kleidung und Lederjacken. Hector und Emma sind beide ziemlich breit gebaut, während Luccas Brüder Serafino und Ludo eher schmal sind. Ludo ist richtig cool. Er hat blau gefärbtes Haar und in seinen Ohren stecken dutzende Ringe. Außerdem trägt er genau wie Lucca einen Diamantorring. Auch Emma, Hector und Serafino tragen denselben Ohrring. So etwas wie ein Bandenzeichen. Ach was. Schnell schiebe ich den Gedanken beiseite. Außerdem trägt Emma zwei Ohrringe. Auf jeder Seite einen.

„Ich denke, wir sollten anstoßen", meint Lucca und überreicht Kate und mir ein Glas Orangensaft, in dem eine Kugel Zitroneneis schwimmt.

„Erfahren wir den Anlass?", hakt Kate nach.

„Klar." Lucca strahlt, lässt sich mit der Antwort jedoch ein paar Sekunden Zeit. „Ich werde umziehen. In meine erste eigene Wohnung."

Im ersten Moment bin ich völlig perplex, dann bringe ich nur ein „Herzlichen Glückwunsch" heraus. Ein bisschen bin ich eifersüchtig auf Lucca. Ich würde auch gerne in meine erste eigene Wohnung ziehen. Natürlich würde ich Kate ziemlich vermissen, wenn wir nicht mehr zusammen leben, aber die Freiheit, die man dann hat, stelle ich mir unglaublich vor. Ich wäre nur für mich selbst veranwortlich.

„Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen und kann mir jetzt endlich die Miete für eine Wohnung in der Nähe der Berufsschule leisten." Lucca hebt sein Glas, das, genau wie die der anderen, schon zur Hälfte leer ist und meint: „Also, auf die erste eigene Wohnung."

Kate und ich stoßen mit ihm an und ich muss zugeben, das Getränk schmeckt nicht so schlimm, wie ich erwartet habe. Das süß-saure Zitroneneis vermischt sich mit dem markanten Aroma des Saftes und hinterlässt ein eigenartiges Geschmackserlebnis auf meiner Zunge.

„Wo ist deine Wohnung denn?", will ich wissen.

„In Grosseto, nicht weit von da, wo ich jetzt mit meiner Familie wohne", meint Lucca.

„Na und? Du verlässt uns trotzdem!", grummelt Serafino und blickt missmutig in sein Glas. Anscheinend gefällt es ihm nicht, dass sein Bruder wegziehen wird. Klar, ich will auch nicht ohne Kate leben, aber wenn ich nächstes Jahr in England studieren möchte, bleibt mir keine andere Wahl.

„Es ist nicht weit weg. Ich werde sogar weiterhin bei den Petersons kellnern können", sagt Lucca, dessen Lächeln selbst bei Serafinos Worten nicht von seinem Gesicht verschwindet, „außerdem liegt die Wohnung ideal, nicht weit vom Bahnhof entfernt."

„Und die Wohnung ist 'n sehr guter Platz, um Sachen zu lagern", wirft Emma ein.

„Denkst du, das interessiert mich?", grummelt Serafino weiter.

„Doch, glaub mir, das is 'n idealer Ort. Da wird nicht mal Fa..." Hector stößt sie unsanft von der Seite an und wirft ihr einen vernichtenden Blick zu, woraufhin sie verstummt und erst mal schwer schluckt.

„Wehe du redest weiter, wenn Unbeteiligte dabei sin'", zischt er ihr zu. Dabei wirft er einen Blick auf Kate und mich. Aha, Unbeteiligte sind wir also. Nun würde ich zu gerne wissen, von welchen Sachen Emma da redet und warum Hector uns als Unbeteiligte bezeichnet. Als wären wir Außenseiter und nur toleriert, weil Lucca uns eingeladen hat.

Fragen huschen durch meinen Kopf. Was wollen die fünf in Luccas neuer Wohnung lagern? Diebesgut? Drogen? Nun ja. Dann würde ich auch nicht wollen, dass jemand davon erfährt. Ach Mensch, ich sollte diesen Gerüchten mit der Gang wirklich nicht zu viel Bedeutung beimessen.

„Die leben im Haus von Signora Vecca, vergiss das nicht", raunt Hector Emma leise ins Ohr, „wer weiß, wie viel die wissen." Das sollten wir mit Sicherheit nicht hören, aber es ist gerade laut genug, als dass ich es verstehen kann und Kate auch. Mit hochgezogenen Augenbrauen wechseln wir einen Blick. Was haben Luccas Freund:innen mit Maria Vecca zu tun?

Bevor wir jedoch die Gelegenheit bekommen, das Thema anzuschneiden, redet Lucca wieder von seiner neuen Wohnung. Wie er sie einrichten wird und dass in seiner Straße ein Sportplatz liegt, auf dem er jeden Tag trainieren kann. Dann erzählt er von seinen beruflichen Plänen und davon, dass er seine Ausbildung in einem halben Jahr abschließen wird. Emma, Ludo und Hector gehen begeistert auf das Thema ein, nur Serafino bleibt mürrisch.

Trotzdem kann ich nicht vergessen, dass Emma und Hector sich irgendwie seltsam verhalten haben. Als ich mein Glas leergetrunken habe, stoße ich Kate unter dem Tisch mit dem Fuß an. „Ich muss aufs Klo. Kommst du mit?", wispere ich ihr zu. Obwohl ich ihr nicht verrate, was ich wirklich will, ahnt sie es. Sie nickt und wir stehen beide auf.

„Typisch Frauen. Die müssen immer zu zweit pissen gehn", grummelt Hector und wirft uns einen skeptischen Blick zu. „Halt die Klappe, Mann", fährt Emma ihn an. Sie lächelt uns entschuldigend zu. Hector kann das jedoch scheinbar nicht so auf sich sitzen lassen, denn zwischen ihm und Emma entbrennt eine heftige Diskussion über Toiletten und Pinkel-Gewohnheiten.

Von den beiden unbemerkt ziehe ich Kate mit mir auf die Damentoilette. „Was gibt's denn?", fragt Kate, kaum dass ich die Tür hinter uns geschlossen habe.

„Lucca und die anderen... sie haben irgendwas mit den Elementen zu tun", platzt es aus mir heraus, „warum hat er mir sonst von den Legenden von Pergula erzählt, wo doch niemand etwas davon weiß? Und warum haben Emma und Hector von Maria gesprochen?"

„Meinst du?", fragt sie skeptisch.

„Ja. Und denk mal an den Zettel, der bei den Bellucos lag. Der mit den Elementträgern. Hast du eine bessere Erklärung dafür?"

Bevor Kate etwas erwidern kann, geht die Tür zur Toilette auf und zwei Mädels kommen herein, die Kate scheinbar aus der Schule oder von ihrem Sommer am Strand kennt, denn sie begrüßt die beiden herzlich. Die zwei quetschen sich an uns vorbei in die freien Kabinen. So ein Mist. Jetzt können wir nicht weiterreden. Wenn wir hier von Elementträgern und Geheimbünden sprechen, denken Kates Freundinnen noch, wir haben einen an der Klatsche.

Ungeduldig trommele ich mit den Fingern auf dem Waschbecken, um so die Zeit zu vertreiben, bis die zwei fertig sind. Doch sie brauchen ewig. Schließlich stößt mich Kate von der Seite an und bedeutet mir, ihr nach draußen zu folgen. „Wir können zu Hause immer noch reden", flüstert sie mir zu.

Trotzdem bin ich etwas verärgert. Zurück in der Eisdiele versuche ich das Gespräch so unauffällig wie möglich auf die Legenden von Pergula und Maria Vecca zu lenken, doch wann immer ich dieses Thema auch nur hauchzart anschneide, wimmelt einer von Luccas Freund:innen ab. Schließlich zuckt Ludo nur mit den Schultern und meint: „Unsere Eltern haben einen Narren an alten Legenden gefressen. Keine Ahnung wieso. Ist doch aber auch egal."

Schade, da ist wohl nichts zu machen. Nachdenklich zerpflücke ich eine Papierservierte, die auf dem Tisch liegt und sammele die einzelnen Schnipsel in meiner Hand. Nachdem Lucca jedem von uns noch einen Eisbecher spendiert hat, begleitet er Kate und mich ein Stück des Wegs nach Hause, während die anderen vier in Richtung Strand schlendern.

„Sorry, dass Serafino und Hector so unhöflich waren", entschuldigt er sich.

„Halb so wild", meint Kate, doch Lucca schüttelt den Kopf, als müsse er nachvollziehbare Erklärungen für das Verhalten seiner Freunde finden. „Serafino ist sauer, weil ich wegziehe. Unser Vater ist vor fünf Jahren gestorben und jetzt fühlt er sich, als würde auch ich ihn und die Familie verlassen." Luccas Vater ist gestorben? Das wusste ich ja gar nicht. Ein leiser Schauer aus Mitgefühl überkommt mich. Für einen kurzen Moment sehe ich Lucca mit ganz anderen Augen.

„Das tut mir leid", sagt Kate und sieht Lucca traurig von der Seite an. Ich schweige. Die Situation ist mir unangenehm und ein das tut mir leid wird den Verlust, den Lucca erlitten hat, nicht geringer machen.

„Es ist lange her und man lernt, damit umzugehen", antwortet er und zuckt mit den Schultern, als wollte er bestimmte Gedanken oder Gefühle loswerden.

Man lernt damit umzugehen. Als würde er nicht von sich selbst, sondern von einer anderen Person sprechen. Trotzdem huscht ein trauriger Ausdruck über sein Gesicht, der mir verrät, wie sehr ihn der Verlust seines Vaters immer noch mitnimmt. Manche Wunden verheilen wohl nie so ganz.

„Und, hättet ihr Zeit und Lust mir beim Umzug zu helfen?", fragt er. Vermutlich, um das Thema schnell wieder zu wechseln.

„Und ob", entgegnet Kate mit einem breiten Grinsen, „ich hätte schon mega viele Ideen, wie man deine Wohnung einrichten könnte."

Darauf lacht Lucca nur und wirkt auf einmal wieder viel glücklicher. „Du weißt doch gar nicht, wie sie aussieht", gibt er zu bedenken. Trotzdem schlagen wir zum Abschied bei ihm ein und verabreden uns für die nächste Woche wieder mit ihm.

~

Die Tage bis zum dreiundzwanzigsten September vergehen wie im Flug. In der Schule gibt es jede Menge zu tun. Durch den ganzen neuen Lernstoff und die ersten Klausuren, die im Oktober anstehen, bin ich ziemlich gut beschäftigt. Die Nachmittage sind meist mit Sport oder Hausaufgaben gefüllt. Ein paar Mal unternehme ich sogar etwas mit meinen neuen Klassenkammerad:innen. Nach den zähen Startschwierigkeiten verstehe ich mich sogar mit Stella ziemlich gut. Manchmal bin ich noch ein wenig überrascht, wie sehr mich die anderen in ihre Gruppe integrieren. Sie behandeln mich, als würde ich schon seit langer Zeit dazu gehören und ich komme mir gar nicht so fremd vor, wie ich es erwartet habe.

Außerdem helfen wir Lucca bei dem Umzug in seine neue Wohnung. Sie liegt mitten in der Stadt in einem etwas ärmeren Viertel im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Von dort aus hat man eine wunderschöne Aussicht über die Dächer und Straßen. Viel Platz hat Lucca nicht zur Verfügung, aber wir helfen ihm trotzdem, es sich gemütlich zu machen. Kate geht regelrecht darin auf, Luccas Wohnung nach ihrem Geschmack zu dekorieren. Sie schenkt ihm sogar zwei ihrer Bilder. Lucca schaut ihr lachend zu und lässt sie gewähren, als sie die Bilder an seine Wand hängt.

Nachdem alles fertig ist, bestellen wir zusammen mit seinen Brüdern Ludo und Serafino eine Pizza. Da Luccas Esstisch nicht genug Stühle hat, setzen wir uns in einem Kreis auf den Boden und essen dort gemeinsam. Anders als bei unserem ersten Treffen finde ich Ludo und Serafino nun sehr angenehm. Sie sind viel freundlicher und machen auch ab und an mal Witze.

Die Zeit vergeht ziemlich schnell und ist so voll von neuen Erfahrungen. Und dann ist er plötzlich da, der dreiundzwanzigste September, der Tag des Äquinoktiums. Schon am Vorabend bereiten wir uns ausführlich auf unseren Ausflug vor. Kate packt Rucksäcke mit Proviant und die Buchseite von die Alchemie der Elemente legt sie vorsichtig in eine Mappe. Weil wir nicht wissen, was genau uns erwartet, steckt sie noch ein Küchenmesser, eine Lupe, einen Kompass, einen Meisel und einen Hammer dazu, den sie im Keller gefunden hat. Kate schreibt uns Entschuldigungen für die Schule und perfektioniert vorher Mums Unterschrift.

Als die Sonne am Morgen des dreiundzwanzigsten September mit ihren ersten Strahlen die Stadt küsst, brechen Kate und ich auf. Ausgestattet und angezogen wie Archäologinnen oder Forschende auf einer Expedition. Ein bisschen fühle ich mich wie eine Abenteurerin aus einem Kinderbuch. Adrenalin rauscht durch meine Adern und Gedanken an den bevorstehenden Tag treiben mir ein Lächeln ins Gesicht. Auf der Straße ist es noch kühl, aber der azurblaue Himmel sieht vielversprechend aus.

Mit einem flauen Gefühl im Magen und kribbelnder Aufregung steige ich in das Auto, das ich mir extra von Mum geliehen habe. Sie denkt, ich möchte es benutzen, um in die Schule zu fahren. Dass wir nicht dorthin gehen, wird sie vermutlich nie erfahren. Als Gegenleistung für das Auto muss ich einen Abend lang im Restaurant kellnern. Davor graut es mir schon und hoffentlich ist dieser Tag die Mühe wert.

Neben mir trommelt Kate auf dem Beifahrersitz ungeduldig mit den Fingern auf ihren Oberschenkeln herum. Auch sie ist nervös. Was uns bei den Ruinen erwartet, wissen wir beide nicht. Außerdem haben wir den letzten Teil des Rätsels nicht gelöst. Was genau mit hinter den Rosen gemeint ist, ist uns immer noch nicht so ganz klar.

Auf den Straßen ist um diese Uhrzeit nicht viel los und ich finde ohne Probleme zu den Ruinen, obwohl ich erst ein Mal dort war. Die Steinchen des Schotterweges, der zu den Ruinen führt, knirschen unter den Reifen des Autos. Ich stelle es hinter einem kleinen Baum ab, der es vor Blicken von vorbeifahrenden Menschen verbirgt. Es ist mir lieber, wenn niemand weiß, dass wir hier sind.

„Los geht's", sage ich, als ich den Motor abschalte. Wir lächeln uns beide aufmunternd zu, dann steigen wir aus dem Auto. Vorsichtig folgen Kate und ich dem gewunden Weg zwischen den Pfirsichbäumen hindurch, bis wir schließlich zu den Ruinen gelangen.

Genau wie bei meinem letzten Besuch hier fühlt es sich an, als würde ich eine völlig andere, fremde Welt betreten. Die sandigen grau-gelben Mauerreste heben sich deutlich von der Umgebung ab und es ist, als würde ein Hauch von vergessenen Zeiten zwischen ihnen hindurch wehen.

Noch immer ist ein rot-weiß gestreiftes Absperrband um die Ruinen gespannt, an dem ein verblichenes Metallschild hängt, das in großen Buchstaben BETRETEN VERBOTEN verlauten lässt. Das Band raschelt leise im Wind. Kate und ich wechseln einen Blick. „Fangen wir an?", fragt sie.

Ich nicke. „Am besten, wir trennen uns. Du suchst den rechten Teil der Ruinen nach Rosen ab, ich den linken."

„Okay", stimmt sie mir zu. Dann schlüpfen wir beide unter dem Absperrband durch. Behutsam setze ich meine Füße voreinander. Das Band trennt nicht umsonst die Ruinen von dem Rest der Welt. Ich habe keine Lust, irgendwo durch ein unter der Erde verstecktes Loch zu krachen.

Mit den Augen suche ich den sandigen Boden ab, doch alle Pflanzen, die hier wachsen, sind kleine Büsche mit tannennadelartigen, harten, grünen Blättern. Weit und breit keine Rosen. Je tiefer ich in die Ruinen vordringe, desto besser sind die alten Gebäude intakt. Manchmal ragen Mauern aus dem Boden hervor, die beinahe so groß sind wie ich. Überall sind abgetretene Treppenstufen und geschwungene Eingänge zu erahnen. Sogar die Überreste eines Brunnens erkenne ich.

Trotzdem, Rosen gibt es keine. Nachdem wir das ganze Areal untersucht haben, setzen Kate und ich uns erschöpft in die Schatten der Pfirsichbäume, um etwas zu trinken und unseren Proviant zu verspeisen.

„Die Rosen sind mit Sicherheit ein metaphorischer Ausdruck", überlege ich, „sonst hätten wir hier ja welche gefunden."

„Metaphorisch für was? Die Liebe?", fragt Kate.

Daraufhin zucke ich mit den Schultern.

„Podoeri und Pergula waren doch verliebt", überlegt Kate,  „falls sie tatsächlich mal hier gelebt haben, finden wir vielleicht den Platz, an dem sie sich früher immer getroffen haben. Das wäre doch romantisch!"

„Ich glaube kaum, dass Podoeri und Pergula jemals existiert haben. Zumindest nicht so wie in den Legenden", gebe ich zu bedenken, woraufhin Kate mürrisch verlauten lässt, dass ich überhaupt keinen Sinn für Magie, Legenden und Romantik habe.

Noch eine Weile sitzen wir unter den Bäumen und ich stiere auf den Bildschirm meines Handys. Hier draußen habe ich keinen Empfang, weshalb ich keine Nachrichten bekomme. Ich wische mit dem Finger ungeduldig über den Bildschirm und öffne wahllos meine Apps, nur um irgendetwas zu tun.

„Gibt's was Neues von Lucca oder Pietro?", fragt Kate interessiert.

„Nein, wieso?", sage ich und sehe vom Bildschirm meines Handys auf.

„Na, ich hab nochmal nachgedacht", erklärt sie, „und ich glaube, dass die beiden da irgendwie mit drin stecken." Ich nicke. Das ist ja wohl offensichtlich.

„Vielleicht sollten wir mit ihnen darüber reden, was meinst du?", fährt Kate fort. Daraufhin schüttele ich nur mit dem Kopf. Wann immer ich Lucca auf die vier Elemente abesprochen habe, hat er abgestritten, dass so etwas wie die Legenden tatsächlich wahr sein könnten. Und Pietro habe ich bisher meistens in einer Gruppe getroffen. Da wollte ich ihn nicht nach den Legenden fragen.

„Oh menno", mault Kate und zieht die Mundwinkel nach unten. Ich kann es nicht ertragen, sie so resigniert zu sehen.

„Was soll ich denn machen?", frage ich, „wenn ich einfach hingehe und sage: Hey übrigens, ich glaube die Legenden sind wahr und meine kleine Schwester kann zaubern, dann denkt doch jeder, ich sei verrückt." Auch wenn ich wirklich gern mehr über die Legenden erfahren würde, glaube ich kaum, dass Lucca und Pietro da die richtigen Ansprechpartner sind. Wenn, dann werden wir hier mehr erfahren. Grummelnd sieht auch Kate das ein.

So überlegen wir weiter, was mit hinter den Rosen gemeint sein könnte. Wenn es hier keine Rosen gibt, dann muss es eine andere Bedeutung haben. Irgendetwas Besonderes, so winzig und unwichtig es auch erscheinen mag.

„Also gut, aber wenn wir diesmal nichts finden, fahren wir wieder nach Hause", meckert Kate.

„Nein", erwidere ich darauf nur, „wir bleiben so lange hier, bis es dunkel ist. Aufgeben kommt überhaupt nicht infrage." Ich habe selten bei etwas aufgegeben, egal wie hoffnungslos die Situation auch ausgesehen hat. Bei dem meisten habe ich mich durchgekämpft bis zum Schluss und oft bin ich dabei erfolgreich gewesen.

Gestärkt machen Kate und ich uns wieder auf die Suche nach den Rosen. Diesmal durchkämmen wir die Ruinen auf jede noch so kleine Auffälligkeit. Ich reiße trockene Grasbüschel aus dem Boden, sehe unter Steinen nach und fahre mit den Fingern über alte Mauerreste. Bei der Suche vergesse ich meinen Körper und die Mittagshitze vollkommen. Es ist, als hätte ich nur ein einziges Ziel: Den Ort hinter den Rosen zu finden.

„Nini, ich hab's!", höre ich auf einmal meine Schwester rufen, während ich mit bloßen Händen in dem Sand auf dem Boden buddele, um dort eventuell Hinweise zu finden. Sofort bin ich auf den Beinen und springe über alte Mauerreste hinweg zu meiner Schwester. Sie steht am Rand der Ruinen vor einem kleinen Steinbruch, der vor tausenden von Jahren die Stadt Richtung Osten abgegrenzt hat.

Eine steile Wand ragt ungefähr einen Meter über unsere Köpfe in den Himmel hinauf. Nur an manchen Stellen klettern Pflanzen an ihr rauf und runter. Keine Rosen. Doch dafür hat jemand wie es aussieht erstkürzlich ein Stück aus diesem Steinbruch herausgeschlagen. In der Form einer Rose.

„Das muss es sein", sage ich und lächele. Das befriedigende Gefühl von Erfolg durchflutet mich. Es ist schön, ein positives Resultat zu erzielen.

Das erhebende Glücksgefühl, wird jedoch kurz darauf wieder zerstört. Wie sollen wir denn bitteschön nachsehen, was hinter dieser Rose liegt? Wir können ja schlecht Stellen aus dem Steinbruch herausbrechen. Der Hammer und den Meisel, den wir mitgenommen haben, werden dafür kaum geeignet sein. Am besten wir fahren wieder nach Hause und holen richtiges Werkzeug.

Doch Kate hat schon eine andere Idee. Wie in Trance schließt sie ihre Augen und presst ihre Handinnenflächen gegeneinander. Eine steile Konzentrationsfalte bildet sich auf ihrer Stirn. Ihre Hände werden feucht. Zuerst denke ich, sie schwitzt vor Anstrengung, doch dann spritzt Wasser zwischen ihren Fingern hervor. In der Luft liegt ein magisches Kribbeln wie immer, wenn sie mit ihrer Willenskraft das Element aufruft. Die Verbindung zwischen ihr und dem Wasser werde ich wahrscheinlich nie verstehen, aber von außen kann ich sie trotzdem spüren.

Langsam hebt Kate die Hände und lässt ein bisschen von dem Wasser über die Rose laufen, bis die Wand an dieser Stelle feucht ist. Dann bewegt sie ihre Hände voneinander weg. In diesem Moment schießt ein Wasserstrahl von ihren Fingerspitzen auf die Wand des Steinbruchs zu.

Als würde es ihr hier, bei den Ruinen von Pergula, an dem Ort, aus dem angeblich die ersten Elementträger stammen, leichter fallen, ihre übernatürliche Kraft anzuwenden.

Im ersten Moment geschieht nichts, bis auf dass Wasserströme an dem Felsen herunterlaufen und ihn dunkler färben, doch schließlich verwandelt sich die Steinwand ganz langsam in einen Wasserfall. Zuerst wird der raue Stein weicher und seine Konturen verlaufen langsam ineinander. Dann verliert die Wand ihre Farbe. Das helle Braun wird zu einem schlammigen Gelb und letztendlich zu einer durchsichtig fließenden Oberfläche, die nur erahnen lässt, was hinter ihr liegt.

Ganz vorsichtig strecke ich die Hand aus und berühre das Wasser. Es ist warm, aber überhaupt nicht nass. Als ich die Hand zurückziehe, ist sie trocken. „Was machen wir jetzt?", frage ich.

„Hindurchtreten", meint Kate und geht auf den Wasserfall zu. Die Fluten umgeben sie, machen ihrem Körper Platz und verschlucken sie schließlich vollkommen.

„Kate!", rufe ich erschrocken und stürze meiner Schwester hinterher. Dass ich durch einen Wasserfall gehe, bemerke ich gar nicht, denn das Wasser berührt meine Haut nicht einmal. Um mich herum wird es lediglich ein bisschen wärmer und danach angenehm kühl.

Da erst fällt mir auf, dass ich beim Durchtreten des Wasserfalls die Augen geschlossen habe. Zaghaft öffne ich sie wieder und hätte um ein Haar geschrien. Ich stehe in einem kleinen Raum, der bis unter die Decke mit Bücherstapeln gefüllt ist. Es gibt keine Regale, dafür aber Stühle und Tische, auf denen Papier und Stifte liegen. Ab und zu lugt eine Statue aus Marmor zwischen den Bücherstapeln hervor und an einer Wand hängt das Zeichen der vier Elemente, eine Flamme, eine Welle, ein Baum und eine Wolke

Erstaunt drehe ich mich zu dem Wasserfall um. Durch die Fluten scheint schwach das Licht der Sonne, aber trotzdem verwehrt es den Blick auf die Ruinen. Ich fühle mich von der Außenwelt abgeschnitten, in diesem kleinen, sonderbaren, und - so seltsam es sich auch anfühlt, das zu denken - magischen Raum.

„Was ist das hier?", fragt Kate erstaunt. Erst da bemerke ich, dass sie neben mir steht und diesen Ort mit offenem Mund bewundert.

„Ich weiß es nicht", sage ich und mache einen kleinen Schritt nach vorne auf den nächsten Bücherstapel zu. Ich nehme das oberste Buch des Stapels in die Hand. Es ist nicht besonders dick und fühlt sich leicht, aber alt an. Vorsichtig blättere ich in dem Buch und überfliege die Seiten.

„Das sind die Legenden von Pergula!", rufe ich erstaunt aus. In diesem Buch lässt sich eben die Geschichte wieder finden, die Lucca mir erzählt hat. Ausführlicher und illustriert, aber im Grunde genommen genau dieselbe Geschichte.

„Vielleicht ist das der Ort, an dem alle Informationen über die Legenden und die Elemente aufbewahrt sind", überlege ich, „wenn man sonst schon nichts über sie findet, dann wenigstens hier."

Nun löst sich auch Kate aus ihrer Trance und tritt weiter in den Raum hinein. Angezogen wird sie von einem Gemälde, das zwei Jungs und zwei Mädchen in bunten Klamotten zeigt. Umgeben werden sie von einer Flamme, einer Welle, einer Wolke und einem Baum. Sieht so aus, als sollten das die ersten vier Elementträger sein.

Mit großen Augen betrachtet Kate das Mädchen, das über das Element Wasser herrschte. Sie ist komplett in blau gekleidet und hat kurzes, schwarzes Haar. Genau wie meine Schwester. Ich lege das Buch, das ich in der Hand gehalten habe, zurück auf den Stapel und trete ebenfalls weiter in den Raum hinein. Vielleicht lässt sich ja auch die Alchemie der Elemente von Falcini finden. Dieses Buch bringt uns, glaube ich, am meisten weiter.

„Brionny, hier stehen unsere Namen!", ruft Kate erstaunt aus und deutet auf das Bild der Elementträger. „Wie bitte?", frage ich erstaunt.

„Ja, Brionna, Caterina, Arno und Pippo", liest Kate die Bildunterschrift vor. Doch bevor ich zu ihr gehen und mir das Bild ebenfalls anschauen kann, verschwindet der Wasserstrahl in meinem Rücken und es wird stockdunkel in dem kleinen Raum.

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