21. Neue Rätsel
„Elementträger?!" Vor lauter Entsetzen spreche ich das Wort laut aus. Alle drehen sich erschrocken zu mir um, sogar Mum und Kate. Ich spüre die Blicke der anderen auf meiner Haut wie kleine Insektenstiche.
„Was?", fragt Kate erschrocken und auch die Kinder der Bellucos sehen mich verständnislos an.
„Ich...da...", beginne ich und deute auf die Kommode. Doch, als ich mir die Seiten, die aus der Mappe lugen, genauer ansehen will, sind sie verschwunden, als wären sie nie da gewesen. Genau wie die Mappe. In der Luft liegt ein leises, magisches Knistern. Mir wird übel.
„Brionny... geht es dir nicht gut?", fragt Pietro besorgt und tritt von hinten an mich heran.
Ich schüttele mit dem Kopf. „Alles in Ordnung", lüge ich schnell, aber das klingt kein bisschen glaubwürdig. Ich merke, wie meine Stimme zittert und ein paar Halbtonschritte höher springt. „Ich dachte nur, ich hätte was gesehen."
„Was denn?", will Pietro wissen und sieht nun ebenfalls zu der Kommode hinüber. Immer noch fehlen die Mappe und die Seiten. Langsam beginne ich, an meiner Wahrnehmung zu zweifeln. Ruckartig gleitet mein Blick zu Signor und Signora Belluco herüber. Doch die stehen ziemlich entspannt vor dem Esstisch. Lediglich ihre Gesichtsausdrücke wirken ein bisschen besorgt, was ich ihnen nicht verübeln kann. Wenn ich so erschrocken aussehe, wie ich mich fühle, muss ich ziemlich durcheinander wirken.
„N...nichts." Meine Stimme zittert. Ich muss meinen Körper dringend wieder unter Kontrolle bringen. Langsam schließe ich die Augen und atme ein paar Mal tief durch, doch das hilft nicht. Mein Herz pocht noch immer stark in meinem Hals. „Ich muss nur mal kurz ins Badezimmer."
„Äh... klar... hier lang", meint Pietro und führt mich zu einer kleinen Tür, die vom Empfangsbereich wegführt. Dahinter liegt ein Gäste-WC.
Ich ziehe die Tür so fest ich kann hinter mir zu und schließe ab. Dann spritze ich mir erst mal kaltes Wasser aus dem Waschbecken ins Gesicht. Eigentlich zweifele ich nicht an meinen Sinnen, aber ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob ich mir die Seiten vielleicht doch eingebildet habe. Wenn, dann war es eine ganz schön reale Einbildung. Elementträger...
Ich betrachte mein nasses Gesicht im Spiegel und stelle fest, dass ich heute nicht unbedingt hübsch aussehe. Naja, was soll's? Es gibt wichtigere Sachen im Leben. Denn selbst wenn ich mir den Zettel mit den Elementträgern möglicherweise eingebildet habe, spüre ich doch, dass da mehr ist. Pietro und seine Familie wissen etwas über die Elemente und die Legenden von Pergula. Ebenso wie Lucca. Nur wie viel und was sie wissen, kann ich nicht sagen.
Mit Hilfe des Tagebuches werde ich die essentiellen Teile wohl nicht herausfinden, denn Maria ist tot und erzählt von der Vergangenheit. Lucca und die Bellucos leben jedoch im Jetzt, in der Gegenwart. Darüber, was heute ist, wird Maria nichts berichten können. Deshalb muss ich versuchen, mit geschickten Fragen Antworten zu erhalten. Denn das ist der einzige Weg, herauszufinden, inwieweit Lucca und die Bellucos etwas mit den Legenden zu tun haben.
Ich trockne mein nasses Gesicht mit dem Handtuch ab und atme noch ein paar Mal tief durch, bis mein Puls sich wieder beruhigt hat. Dann trete ich vor die Tür und gehe zu den anderen, die mittlerweile schon vor dem gedeckten Mittagstisch stehen.
„Entschuldigung, tut mir leid. War ein kleiner Schwindelanfall, aber jetzt ist wieder alles in Ordnung", sage ich und sehe Signor und Signora Belluco dabei an. Sie sind beide schick angezogen und wirken, als hätten sie sich für ein fünf Sterne Restaurant zurecht gemacht und nicht bloß für Besuch von alten Bekannten.
„Das ist kein Problem, Brionna. Es freut uns, dich zu sehen. Herzlich Willkommen auf dem Weingut", begrüßt mich Signor Belluco und ich ergreife seine ausgestreckte Hand. Er hat einen ziemlich festen Händedruck.
„Guten Tag, Signor Belluco", antworte ich höflich und sehe ihm direkt in die Augen. Er wirkt nicht wie jemand, der etwas mit den Legenden von Pergula und den vier Elementen zu tun hat. Im Grunde genommen scheint er ein anständiger Unternehmer zu sein, der nicht an Übernatürliches glaubt. Aber ist das nicht immer so? Dass einen die Menschen am meisten überraschen, von denen man es am wenigsten erwartet? Die stillsten Gewässer sind ja bekanntlich die tiefsten.
„Es ist schön, dass du deine Mutter begleitest. Guten Tag, Brionna", meint nun auch Signora Belluco und schüttelt nach ihrem Mann meine Hand. Auch sie wirkt bodenständig. Mit ihrer eleganten, gutbürgerlichen Ausstrahlung passt sie perfekt zu ihrem Ehemann.
„Ich denke, dann können wir mit dem Essen beginnen", meint Signor Belluco und deutet auf den großen Esstisch.
Kate nimmt zwischen Davide und Vittoria Platz, ich setze mich neben Pietro. Das Motto des Essens lässt sich bereits am ersten Gang deutlich erkennen: Wein.
Zum Trinken gibt es entweder Weißwein oder Traubensaft und dazu Käsehäppchen mit Weintrauben. Darauf folgt in Traubenblätter eingewickelter Reis und Wildschweinbraten mit Rotweinsoße. Selbst der Nachtisch enttäuscht nicht: Mousse au Chocolat mit Rosinen.
„Etwas Ähnliches werden wir an der Segelregatta auch an die Zuschauer und auf dem anschließenden Fest verkaufen", erzählt Signora Belluco, „das ist sozusagen unser Probekochen."
„Es schmeckt super, so wie immer", schwärmt meine Mutter und verdreht dabei übertrieben genüsslich die Augen. Ich muss zugeben, das Essen ist nicht gerade schlecht. Trotzdem, das sind definitiv zu viele Trauben in einem Menü.
Kaum dass der Tisch abgedeckt ist, stehen Kate, Davide und Vittoria auf, um sich auf eines der Zimmer der Zwillinge zu verdrücken. Pietro und ich bleiben sitzen. Am liebsten wäre ich mit Kate aufgestanden, aber ich möchte mehr über Maria Vecca, Signor und Signora Belluco erfahren und ich habe das Gefühl, dass die Zwillinge mir in der Hinsicht nicht besonders weiterhelfen können.
„Ich finde es sehr schön, dass du mitgekommen bist, Brionna." Signora Belluco lächelt mich an. „Du und Pietro, ihr solltet ursprünglich Zwillinge werden."
„Wie bitte?", frage ich nach. Pietro und ich sind doch nicht mal verwandt. Wie können wir da Zwillinge sein?
„Vom Geburtstermin her", erklärt Mum, „der stand am selben Tag an. Aber Pietro kam zu früh."
„Ach so", entgegne ich. Das ist nicht wirklich das, was mich interessiert, aber die beiden Frauen scheint das prächtig zu amüsieren. So dürfen wir uns anhören, wie sie kichernd von ihrem gemeinsamen Schwangerschaftsvorbereitungskurs berichten. „Das war Schicksal", lacht Mum, „wir sind seit unserem letzten Schuljahr beste Freundinnen. Da mussten wir ja zur gleichen Zeit unser erstes Kind bekommen."
„Ja, das war eine aufregende Zeit", fügt Signora Belluco hinzu. Als sie in Mums aufgedrehtes Gegackere mit einstimmt, muss ich mich regelrecht zusammen reißen, um nicht genervt die Augen zu verdrehen. Pietro und Signor Belluco scheint dieses Thema ebenfalls nicht sonderlich zu fesseln, weshalb uns Signor Belluco schließlich eine Führung durch das Weingut anbietet, worüber sich Mum besonders erfreut zeigt. Für meinen Geschmack zeigt sie ihre Euphorie ein bisschen zu übertrieben, aber Signor und Signora Belluco scheinen damit kein Problem zu haben. Im Gegenteil. Es wirkt so, als fühlten sie sich dadurch ernsthaft geschmeichelt.
Zunächst geht es in der prallen Mittagshitze mit einem Truck in die Weinberge, wo Signor Belluco uns stolz seine Rebstöcke zeigt und wo wir von den Trauben probieren dürfen. Völlig überwärmt kommen wir wieder an der Villa an, hinter der ein babyblauer Swimmingpool liegt, in den ich am liebsten reingesprungen wäre, hätte ich Badesachen dabei.
Von den Weinbergen geht es in das kühle Lagerhaus neben der Villa und in den Keller, der darunter liegt. Als wir die Treppen hinunter steigen, zündet Signor Belluco eine Kerze an. Ob sie tatsächlich als Vorsichtsmaßnahme und Warnung vor Gärgasen dient oder nur dazu, uns zu erschrecken, weiß ich nicht.
Der Weinkeller ist um einiges beeindruckender als die Rebstöcke. Hier unten lassen sich deutlich die Spuren der Familiengeschichte der Bellucos finden. Beinahe als würde das Gewölbe von jahrzehntealten Traditionen und Erlebnissen erzählen. Fässer reihen sich aneinander und in eines sind sogar die Initialen MIV eingeritzt. „Das war Ihre Mutter, oder?", frage ich Signor Belluco und zeige auf die Buchstaben.
„Ja, das Kürzel steht für ihren vollen Namen, Maria Iana Vecca", erklärt er mir, „ich habe das Weingut von ihr geerbt und sie wiederum übernahm es von ihrem Vater."
„Wenn sie Vecca hieß, warum heißen Sie dann Belluco?"
„Brionny, was ist das denn für eine Frage?", beschwert sich Mum, doch Signor Belluco winkt ab.
„Das fragen sich viele. Ich heiße Belluco nach meinem Vater, Simone Belluco", sagt er, „zum Zeitpunkt meiner Geburt waren meine Eltern nicht verheiratet und als sie schließlich heirateten, behielt jeder seinen Namen."
Simone, der Maria geholfen hat, Giacomo vor Bernardo Falcini zu beschützen. Wenn Signor Belluco der Sohn von Maria und Simone ist, kennt er mit Sicherheit die Legenden von Pergula. Immerhin beherrscht sein Halbbruder Giacomo dann alle vier Elemente. Sollte das Verhältnis zwischen ihm und Giacomo nur halb so gut sein wie das zwischen Kate und mir, weiß er über die Fähigkeiten seines Bruders Bescheid.
„Haben Sie Geschwister?", hake ich nach.
„Ja, einen Halbbruder." Aha. Wusste ich's doch.
„Heißt der auch Belluco?"
„Nein, er heißt Falcini. Nach dessen Vater." Falcini. Wie Bernardo Falcini. Ich kann gar nicht fassen, dass ich die Menschen aus Marias Tagebuch tatsächlich kenne. Oder naja, Verwandte dieser Menschen. Damit hätte ich nie im Leben gerechnet. Vor allem nicht, als ich angefangen habe, das Tagebuch zu lesen. Ein bisschen fühle ich mich, als wären die Figuren eines Romans, den ich gerade lese, tatsächlich real.
„Meine Mutter zog nach dem Tod meines Vaters nach Castiglione della Pescaia ans Meer, woraufhin sie mir und meinem Bruder das Weingut überließ", fährt Signor Belluco fort, „aber Giacomo wollte nichts von dem Weingut haben. Er arbeitet als Vulkanologe in Sizilien, wo er mit seiner Familie lebt. Es gibt wenig, was ihn mit der Toskana verbindet. Das Haus, in dem meine Mutter lebte, vererbte sie deshalb nicht ihm, sondern deinen Großeltern."
„Warum ausgerechnet meinen Großeltern?"
Daraufhin zuckt Signor Belluco nur mit den Schultern. „Sie waren befreundet. Und es bot sich an, dass ihr nur wenig später eine Unterkunft brauchtet."
Wenn Maria meinen Großeltern das Haus vererbt hat, wollte sie dann, dass die beiden das Tagebuch finden? Besonders unauffällig war es immerhin nicht versteckt. Aber wenn es kein Zufall war, dass ich das Tagebuch entdeckt habe, was war dann noch Teil eines Planes? Der Wasserrohrbruch? Je intensiver ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen entstehen in meinem Kopf. Eine Antwort darauf finde ich nicht. Vermutlich könnte mir Signor Belluco nicht mal dann eine geben, wenn ich ihn direkt danach fragen würde.
Während der restlichen Führung folge ich Signor Belluco stumm und höre ihm kaum noch zu. Mum spielt weiterhin die Begeisterte. Lediglich Pietro wirkt etwas gelangweilt und abwesend.
„Sorry... meine Eltern sind ziemlich stolz auf das Weingut... sie können es nicht lassen, damit anzugeben", sagt er zu mir, nachdem die Führung beendet ist und wir uns zu zweit an den Rand des Swimmingpools setzen, um die Füße im Wasser baumeln zu lassen.
„Naja, es ist auch ziemlich beeindruckend", gebe ich zu und meine Augen fahren staunend jeden Meter der Villa ab, die sich vor uns erstreckt. In so einem Haus werde ich vermutlich nicht mal dann wohnen, wenn ich viel Geld verdiene und richtig Karriere mache.
„Ich verbringe jetzt ja schon mein ganzes Leben hier... für mich ist all das nichts Neues", gesteht Pietro.
„Also warst du bis jetzt nur in der Toskana?" Ein bisschen habe ich Mitleid mit ihm. Die Welt ist groß und es ist schade, wenn man nur einen von so vielen wunderschönen Orten kennt.
„Ja, und auf jedem Kontinent, den es auf diesem Planeten gibt", fügt er mit einem schwachen Lächeln hinzu.
„Wie bitte?!" Okay, dass man so gut vom Weinverkauf leben kann, dass man die ganze Welt bereist, hätte ich nicht gedacht.
„Ja, wir machen jedes Jahr zwei oder drei größere Familienurlaube."
Und bei uns hat es nur alle paar Jahre für einen kleinen Urlaub gereicht. Meist bin ich im Sommer oder über Ostern mit Maddie zu ihrer Tante nach Schottland gefahren und habe meine Ferien dort verbracht. Die Wochen mit Maddie waren immer schön, aber eben kein richtiges Urlaubsparadies wie man es aus dem Fernsehen oder von Katalogen kennt.
„Und, wo gefällt es dir am besten?" Ich überlege mir, von welchen exotischen Orten er mir wohl berichten wird. Australien? Thailand? Den Fidschi-Inseln?
„Hier... nach meinem Schulabschluss werde ich Weinbau studieren und danach hier mitarbeiten, um das Weingut eines Tages zu übernehmen."
„Oh. Okay." Kein ausgefallenes Land also. Nur Italien und die Toskana. Umso mehr erstaunt es mich aber, dass Pietro schon eine so genaue Vorstellung von seiner beruflichen Zukunft hat. Auf diesem Weg wird das Familienunternehmen also von Generation zu Generation weitergegeben. Von Maria zu Signor Belluco und schließlich zu Pietro.
„Und deine Großmutter hat hier auch zusammen mit deinem Großvater gearbeitet, oder?", frage ich.
„Ja, sie hat das Weingut mit ihm von ihrem Vater übernommen. Also eigentlich hatte sie ja andere Pläne, ist an die Uni gegangen und hat studiert, aber dann ist sie zurückgekommen."
Das passt zu der Maria, die am Anfang des Tagebuchs erzählt. Eine junge, euphorische Frau, die ihr altes Leben hinter sich lassen und mit Plänen und Idealen in einer großen Stadt neu anfangen möchte. Letztendlich ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt, die sie ein paar Jahre zuvor am liebsten abgeschlagen hätte. Genau wie ein Baum, der tief im Boden verankert ist, können wir Menschen ohne unseren Ursprung nicht wachsen. Vor allem nicht in Zeiten, in denen es uns nicht gut geht.
„Weißt du, warum sie zurückgekommen ist?", frage ich. Von dem Tagebuch kenne ich den Grund dafür zwar genau, aber ich will ihn noch einmal von Pietro hören. Doch zu meiner Enttäuschung schüttelt er nur den Kopf und nimmt die Füße aus dem Wasser. „Ich habe keine Ahnung. Meine Großmutter hat nicht viel über ihr Leben gesprochen... besonders nicht mit uns Kindern. Und als sie dann vor ein paar Jahren krank wurde, hat sie sich ziemlich seltsam verhalten. Fast so, als bliebe ihr kaum genug Zeit, um etwas Wichtiges zu erledigen. Sie hat sich von uns abgekapselt und in ihren letzten Monaten nicht mal mehr besonders viel mit meinem Vater geredet. Es... es gab wohl einen Mann, der sie ab und zu besucht hat. Mein Vater, der schien ihn zu kennen oder zumindest kam er ihm bekannt vor, aber ich weiß weder, wer er ist, noch was er von ihr wollte oder sie von ihm."
An dieser Stelle hake ich nicht weiter nach. Alles Neue, was ich in Erfahrung bringe, verwirrt mich ohnehin nur noch mehr. Immer, wenn ich glaube, endlich mal eine Erklärung gefunden zu haben, tun sich nur neue Fragen auf.
Also lenke ich das Gespräch auf die Schule. Pietro und ich reden noch über ein paar unverfängliche, einfache Themen, bevor ich schließlich mit meiner Familie wieder nach Hause fahre. Ich bin verwirrter, als ich es zu Beginn der Woche war und zum ersten Mal spüre ich, dass ich das Rätsel um Maria Veccas Vergangenheit und die Elemente nicht nur aus Neugier lösen muss, sondern auch, um zu erfahren, wie wir zwei Schwestern, die Bellucos und Lucca da mit drin stecken.
~
Natürlich erzähle ich Kate von dem Zettel mit den Elementträgern und davon, dass er so plötzlich verschwand. Sie glaubt mir, kann sich jedoch auch nicht erklären, warum der Zettel auf einmal nicht mehr da war. „Das klingt ein bisschen nach der Eliminationsliste von Falcini! Aber das muss ja nicht bedeuten, dass die Bellucos auf Falcinis Seite stehen. Vielleicht haben sie den Zettel, um alle Leute, die daraufstehen, zu beschützen", überlegt Kate.
„Was uns zu der nächsten Frage führen würde: Warum steht Luccas Name auf dem Zettel?"
„Keine Ahnung."
„Glaubst du, dass er ein Elementträger ist?"
„Weiß ich nicht. Eigentlich nein, aber wir können ja versuchen, das herauszufinden!"
Und weil wir an diesem Samstagabend sowieso nicht mehr viel tun können, lesen wir einfach weiter in Maria Veccas Tagebuch. Dort lässt sich ab 1966 tatsächlich ein zweiter Sohn finden. Alessandro. Maria beschreibt auch, wie sie und ihre kleine Familie zu ihren Eltern auf das Weingut in der Toskana ziehen, um dort einen Neuanfang zu wagen.
Der Frieden hält jedoch nur, bis Giacomo achtzehn Jahre alt ist. Als er selbst auf die Universität zum Studieren geht, macht sein Vater Bernardo ihn ausfindig und Jagd auf Giacomo, den letzten lebenden Elementträger. Er spürt Giacomo und seine Freundin auf, als sie auf einem gemeinsamen Wochenendausflug sind. Die beiden können Bernardo entkommen, doch Giacomos Freundin bricht sich auf der Flucht vor Bernardo den Knöchel und muss operiert werden. Deshalb plant Giacomo Rache an seinem Vater. So beginnt er, den Geheimbund der vier Elemente neu zu beleben und ebenfalls Anhänger um sich zu scharen. Seine Mutter will sich aus all dem jedoch heraushalten und konzentriert sich deshalb fast gänzlich auf die Herstellung von Wein.
Ausführlich beschreibt sie ihre Arbeit auf dem Weingut. Darüber schlafen Kate und ich ein. Am nächsten Morgen wachen wir mit Buchabdrücken auf den Gesichtern und einem schlechten Geschmack in den Mündern wieder auf. So beginnt der Tag schon ganz seltsam, begleitet von einem Hauch von Schlaf und Müdigkeit, der selbst nach dem Aufstehen nicht weichen will. Gegen Mittag beschließen wir, mit John Lennon spazieren zu gehen. Kate nimmt den Hund, da ich mich mit ihm an meiner Seite noch immer nicht so ganz wohl fühle.
Wir laufen ein bisschen am Strand entlang, wo sich für einen Sonntag erstaunlich wenige Badegäste breit gemacht haben. Am Himmel hängen schwere, dunkle Wolken und ein eisiger Wind weht vom Land aufs Meer hinaus. Kein besonders geeignetes Badewetter. Nach den Wochen der grellen Sonne kommt es mir jetzt dunkel und trostlos vor.
Als wir den Rückweg antreten, beginnt es zu regnen und kaum dass wir im Restaurant ankommen, schüttet es in Strömen. Deshalb bleiben wirerst mal drinnen im Trockenen bei Nonna und Grandpa, die ein paar Gäste bedienen, die bei dem schlechten Wetter ein warmes, geschütztes Plätzchen suchen.
Als der Regen schwächer wird, treten Kate und ich über das nasse Kopfsteinpflaster den Heimweg an. Nachdem wir ein bisschen ferngesehen haben, beschließt sie, den Rest ihrer Hausaufgaben zuerledigen, die seit Freitag geduldig darauf warten, bearbeitet zu werden, während ich in mein Zimmer gehe. Dort angekommen treffe ich auf eine böse Überraschung.
Nicht, dass es in diesem alten, klapprigen Haus keine vernünftigen Wasserleitungen gibt, jetzt ist auch noch das Dach undicht. Mitten in meinem Zimmer steht eine kleine Pfütze und durch die Decke tropft Wasser.
„So eine Scheiße!", fluche ich laut und stürze sofort ins Badezimmer, um Handtücher und einen Eimer zu holen. Erst als ich wieder in meinem Zimmer bin und den Schaden beseitigen möchte, fällt mir auf, dass inmitten der Pfütze ein Blatt liegt. Es ist die Seite aus Falcinis Buch die Alchemie der Elemente, die Maria Vecca so sorgfältig in ihr Tagebuch gelegt hat.
Ich weiß nicht, mit welcher Tinte dieses Buch gedruckt wurde, aber auf jeden Fall ist die Schrift durch das Wasser komplett verwischt. Nur Autor, Titel und Seitenzahl sind noch zu erkennen. „Verdammter Mist!", rufe ich und ziehe die Seite aus dem Nassen. Dabei bin ich extrem vorsichtig, damit sie nicht zerreißt, so dünn und vollgesogen ist sie.
Auf der Seite standen zwar nicht viele wertvolle Informationen, aber unwichtig waren sie deshalb trotzdem nicht. Jetzt sind sie unleserlich verschwommen zu einem schwarzen Tintenfleck. Blödes Haus. Warum hat uns Maria bloß diese Bruchbude vererbt? Hätte sie nicht wenigstens dafür sorgen können, dass das Dach und die Wasserleitungen intakt sind?
Hoffnungsvoll halte ich die Buchseite gegen das Licht, aber es ist nichts mehr zu retten.
Gerade, als ich sie resigniert wieder sinken lassen will, bewegt sich auf einmal die schwarze Tinte auf dem Blatt. Erschrocken reibe ich mir über die Augen, da ich denke, dass meine Sinne mir einen Streich gespielt haben, aber dann formen sich tatsächlich neue, feine Buchstaben.
„Zwölf Stunden Licht,
Zwölf Stunden Dunkelheit.
Hinter den Rosen
Liegt das Wissen
Nach den Legenden
In den Ruinen
Der Elemente."
Ich lese die Zeilen laut vor. Dann überfliege ich sie noch mal mit den Augen. Ein neues Rätsel. Unterzeichnet ist es mit MIV. Maria Iana Vecca. Also hat sie das Rätsel absichtlich auf der Buchseite versteckt. Aber wie um alles in der Welt hätten wir auf die Idee kommen sollen, die Seite in Wasser zu tauchen, damit die geheime Botschaft sichtbar wird?
„Nini, ist alles in Ordnung?" Kate steht im Türrahmen und sieht mich fragend an. „Du hast mega laut geflucht, deshalb wollte ich nachsehen, was los ist", erklärt sie.
Da bemerkt sie die Pfütze in meinem Zimmer. „Ach du Scheiße!", entfährt es ihr und sie hebt sofort die Hand, um das Wasser zutrocknen. So ganz gelingt es ihr erst nach dem dritten Anlauf, aber trotzdem ist das ein kleiner Erfolg, wenn man bedenkt, dass sie gerade zum ersten Mal bewusst ihr Element benutzt hat. Bisher hat es sich immer nur einfach so gezeigt. Diesmal jedoch hat sie versucht, es mit ihrem eigenen Willen zu kontrollieren.
„Ich glaube, ich sollte mal anfangen, ein bisschen zu experimentieren. Dann werde ich immer besser", überlegt sie grinsend. Kates Begeisterung bezüglich der Elemente kann ich leider nicht teilen. Dazu bin ich viel zu sehr von etwas anderem abgelenkt. „Schau", sage ich und halte ihr die noch immer triefende Buchseite unter die Nase.
„Zwölf Stunden Licht,
Zwölf Stunden Dunkelheit.
Hinter den Rosen
Liegt das Wissen
Nach den Legenden
In den Ruinen
Der Elemente." Nun liest auch Kate die Worte vor. Erstaunt sieht sie mich an. „Was ist das?"
„Scheinbar ein neues Rätsel."
„Wie lange existiert es schon?"
„Seit ich es aus dem Wasser gezogen habe."
„Und was bedeutet es?"
„Keine Ahnung." Mir ist ja nicht mal klar, wie Maria dieses Rätsel hier versteckt hat. Scheinbar zeigt es sich nur, wenn die Buchseite nass wird. Schnell schreibe ich das Rätsel ab, da ich Angst habe, es könnte verschwinden, sobald das Papier trocknet.
Dann versuche ich, es Schritt für Schritt zu lösen. „Zwölf Stunden Licht, zwölf Stunden Dunkelheit", murmele ich leise vor mich hin.
„Macht insgesamt vierundzwanzig", sagt Kate, nur unendlich lauter als ich. Ärgerlich drehe ich mich zu ihr um. Ich kann es nicht leiden, wenn sie dazwischen quatscht. Selbst wenn ich in Ruhe lernen möchte und sie im selben Zimmer ist wie ich, kann sie oft nicht leise sein und will sich ständig unterhalten. „Kate, bitte! So kann ich mich nicht konzentrieren", fahre ich sie an.
Murrend verzieht sie sich auf mein Bett und bleibt dort mit verschränkten Armen sitzen. Aber mir ist egal, ob sie beleidigt ist.
„Am Äquator ist es jeden Tag genau zwölf Stunden hell und dann wieder zwölf Stunden dunkel", überlege ich laut. „Hier geschieht das nur zwei Mal pro Jahr. An der Tag- und Nachtgleiche."
„An der was?", fragt Kate, als hätte sie noch nie etwas davon gehört.
„Die Tag- und Nachtgleiche, auch Äquinoktium genannt, liegt zwischen Winter- und Sommersonnenwende. Im September und im März. Tag und Nacht sind dann genau gleich lang. Jeweils zwölf Stunden. Also ist es zwölf Stunden hell und zwölf Stunden dunkel", schlussfolgere ich. Die erste Zeile des Rätsels bezieht sich auf die Tag- und Nachtgleiche. Das ist eigentlich ziemlich offensichtlich.
„Wann genau im September?", will Kate wissen.
„Am dreiundzwanzigsten." Laut Kalender bleiben uns noch knapp zwei Wochen bis dahin. Zwei Wochen, in denen wir den Rest des Rätsels gelöst haben müssen. „Hinter den Rosen liegt das Wissen", fahre ich fort.
„Nun, nach der Zeitangabe kommt eine Ortsangabe", schlägt Kate vor.
„Aber ich habe keine Ahnung, was diese Ortsangabe bedeuten soll."
„Hinter den Rosen, welche Rosen auch immer damit gemeint sind, liegt das, was wir wissen wollen", erklärt meine Schwester, als wäre das alles ganz einfach. Und vielleicht ist es das auch. In Mathe habe ich mir manchmal an einigen Aufgaben den Kopf zerbrochen, weil ich nicht glauben wollte, dass die Lösung offensichtlich und einfach ist.
„Gut möglich", gebe ich zu, „der Rest dürfte dann ganz leicht sein." Erneut lese ich die letzten Sätze des Rätsels vor. „Nach den Legenden, in den Ruinen der Elemente."
„Ach ja? Für mich klingt das verwirrender als der erste Teil!"
„Glaub mir, es ist einfach. Wir müssen in den Ruinen von Pergula nachschauen. Ich war schon mal dort", stelle ich fest. Diese Tatsache ermutigt mich, wie sie mich gleichermaßen entmutigt. In den Ruinen wächst nichts außer ein paar Büscheln trockenem Gras. Rosen gibt es da auf keinen Fall. Aber vielleicht ist mit den Rosen ja auch etwas anderes gemeint. Sonst wäre es doch zu offensichtlich, oder?
Wie dem auch sei, Kate und ich beschließen an der Tag- und Nachtgleiche zu den Ruinen zu gehen und dort nach dem Wissen hinter den Rosen zu suchen. Der dreiundzwanzigste September fällt dieses Jahr unglücklicherweise auf einen Dienstag. Also müssen wir uns nur noch einfallen lassen, was wir mit der Schule machen. Kate schlägt vor, zu schwänzen und eine Entschuldigung von unserer Mutter zu schreiben. Sie hat es mittlerweile perfektioniert, ihre Unterschrift zu fälschen.
Von dem Gedanken, in meinem Abschlussjahr die Schule zu schwänzen, bin ich nicht besonders begeistert. Deshalb widerspreche ich zunächst heftig, doch Kate lässt nicht locker. Schließlich willige ich mit einem unguten Gefühl bei ihrem Vorschlag ein.
Gerade als wir schwesterlich miteinander einschlagen, klingelt mein Handy. Ich nehme ab. Am anderen Ende der Leitung ist Lucca, der fragt, ob Kate und ich vielleicht Lust hätten, mit ihm im Eiscafé am Hafen etwas zu trinken. Da wir sowieso nichts anderes vorhaben und es aufgehört hat zu regnen, verabreden wir uns dort mit ihm.
Vorher gehe ich jedoch erst bei Grandpa vorbei und erzähle ihm von dem undichten Dach und frage ihn, was wir da am besten machen können. Vielleicht finden wir ja einen Handwerker, der das schneller reparieren kann als unsere Wasserleitungen, die im Übrigen noch immer nicht wieder richtig funktionieren. Da der Herbst und Winter vor der Tür stehen, kann ich dafür nur beten.
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