20. Zwei
Das Wartezimmer der Ambulanz war ein kleiner, quadratischer Raum. Er war gemütlich eingerichtet mit Pflanzen in den Ecken, bunten Bildern an den Wänden und Sofas oder Sesseln, auf denen die Patienten Platz genommen hatten. Alle von ihnen warteten auf eine Diagnose oder Beratungen zu ihrer Krankheit. Die meisten kamen regelmäßig zu Vorsorge- oder Routineuntersuchungen. Aber einige schauten nur selten vorbei, sowie die Frau mit dem geblümten Kopftuch, die in einem Sessel in der Ecke des kleinen Raumes saß.
Sie sog die klinisch frische Luft ein, die mit dem Geruch von Desinfektionsmitteln erfüllt war. Trotz der gemütlichen Einrichtung wollte hier keine behagliche Atmosphäre aufkommen. Nachdenklich ließ die Frau den Blick über die Wartenden schweifen. Junge und alte Gesichter schauten hinab auf Bücher, Zeitschriften oder aus dem Fenster. Manche von ihnen haarlos und eingefallen, sowie das ihre, andere traurig und erschöpft und wiederum andere gesund und hoffnungsvoll. Nicht jeden der Patienten hatte das Schicksal in eine aussichtslose Lage gebracht.
Ganz anders als die Frau. Aber sie hatte auch nie ernsthaft versucht, wieder gesund zu werden. Das Leben und die Hürden, die es ihr in den Weg gestellt hatte, hatten sie ermüdet und ihr einen großen Teil der Kraft geraubt, die sie jetzt gut hätte gebrauchen können. Die Frau wusste, dass sie nicht gegen die Krankheit gewinnen konnte, die sich in ihrem Körper eingenistet hatte und sie wollte es auch gar nicht. Alles hatte irgendwann ein Ende. Auch das Leben.
Seufzend wandte sie sich wieder dem Brief zu, den sie gerade schrieb. Den Stift führte sie mit zitternder Hand. Ihr blieb nicht viel Zeit, um Vorkehrungen zu treffen, das wusste sie. Sie las es in den besorgten und traurigen Blicken ihrer Ärzte. Bei manchen hatte sie das Gefühl, dass sie ihr gegenüber nicht so ganz ehrlich sein konnten, während andere ihre Lage in den gemeinsamen Gesprächen unverblümt darstellten.
Sie hatte kein Problem mit der Wahrheit, ebenso wenig hatte sie ein Problem mit dem Tod. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die im Wartezimmer dieser Praxis saßen, hatte sie ein langes, erfülltes, wenn auch nicht besonders erfolgreiches Leben geführt und sich schon vor einiger Zeit mit dem Ende abgefunden.
Sorgen machte sie sich nur um ihr Geheimnis und die Aufgabe, zu der sie sich verpflichtet fühlte: die Herrschaft der Menschen über das fünfte Element zu beenden. Diese Aufgabe würde sie zu ihren Lebzeiten nicht mehr vollenden können, das wusste sie. Deshalb musste sie jemanden finden, der dieses Ziel für sie verfolgte. Jemand, in dessen Interesse es lag, dass die Menschen die Macht über das fünfte Element verloren, denn sonst würde die Person, an die sie die Aufgabe weitergab, schnell den Mut verlieren.
Ein schrilles Klingeln unterbrach ihre Gedanken und schnitt scharf durch die Stille, die im Wartezimmer herrschte. Ein paar der Patienten zuckten erschrocken zusammen, aber niemand sah sich verärgert um.
Nur die Frau seufzte erneut und beugte sich zu ihrer Handtasche hinab, die sie neben dem Sessel positioniert hatte. Mit ungelenken Bewegungen fischte sie ihr Handy dort heraus, was, kaum dass sie es in der Hand hielt, erneut ein schrilles Klingeln von sich gab.
Handys. So ein neumodischer Quatsch. Ihr jüngster Sohn hatte ihr das Handy gekauft, weil er glaubte, so etwas brauche man heutzutage, um, wie er es ausdrückte, up-to-date zu sein. Er hatte Wochen gebraucht, bis er ihr erklärt hatte, wie man das Gerät benutzte.
Sie erwartete, seine Nummer auf dem Display zu sehen, weil er immer anrief, wenn sie eine Untersuchung hatte und wissen wollte, wie es gelaufen war. Zum Glück hatte sie ihm wenigstens ausreden können, sie zum Arzt zu begleiten. Doch der Name, der blinkend über den Bildschirm surrte, war nicht der ihres Sohnes, sondern ein anderer. Ernesto Lombardini.
„Wurde aber auch Zeit", knurrte sie und stemmte sich hoch. Erleichterung durchflutete sie wie ein Sonnenstrahl, der nach dem Winter endlich wieder zwischen der grauen Wolkendecke hindurchlugte. Schon lange hatte sie nichts mehr von Ernesto gehört, ihn in den letzten Monaten aber mehrmals gebeten, sich bei ihr zu melden. Sie brauchte seine Hilfe. Dringend.
So schnell sie konnte, schlurfte sie hinaus in den Flur. Dann nahm sie ab.
„Vecca." Obwohl sie ein zweites Mal geheiratet hatte, benutzte sie ihren Mädchennamen. Er gefiel ihr gut und drückte Selbstständigkeit aus. Außerdem erinnerte er sie an ihre Kindheit, eine lang vergangene, aber wunderschöne Zeit. Eine Zeit, in der die Realität des Lebens sie noch nicht eingeholt hatte und in der sie sich viel weniger Sorgen hatte machen müssen.
„Maria?", hörte sie eine dunkle Stimme am anderen Ende der Leitung fragen.
„Ernesto." Seine Stimme war unverkennbar und unnachahmbar. Sie war sich vollkommen sicher, mit ihm zu sprechen.
„Was soll ich tun?" Gut, er wusste also, dass sie etwas von ihm wollte.
„Du musst dafür sorgen, dass deine Töchter und ihre Mutter wieder hierher zurückkehren", flüsterte sie. Der Gang war völlig ausgestorben. Weder Pfleger, noch die Ärzte und Ärztinnen oder die Patienten wuselten hier draußen herum, doch sie war lieber vorsichtig. Noch vor ein paar Wochen hatte sie einen Bericht im Fernsehen darüber gesehen, dass Handys abgehört werden konnten. Sie war sich sicher, dass ihr Feind wusste, wie man sich dieser Techniken bediente.
„Wie bitte? Vor elf Jahren noch sollten sie schleunigst in Sicherheit gebracht werden und jetzt sollen sie zurück?! Das geht nicht!" Natürlich, sie hatte mit Widerspruch gerechnet. Ernesto war ein störrischer Mann. Es gefiel ihm nicht, mit ihr zusammen zu arbeiten und ihre Anweisungen entgegen zu nehmen.
„Ich weiß, aber ich brauche sie. Ich bin krank und weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe..." Bevor sie fertig sprechen konnte, unterbrach Ernesto sie. „Und jetzt sollen sie deine Aufgabe zu Ende bringen?"
Die Frau antwortete nicht. Genau das war es, was sie wollte, aber aus welchem Grund auch immer, konnte sie es nicht laut sagen. Schließlich brachte sie schweren Herzens hervor: „Mit deiner Hilfe." Dann schwieg sie wieder. Mehr musste sie nicht sagen. Ernesto kannte sie gut genug, um zu wissen, was das bedeutete.
Auch am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen und dann ein monotones Tuten.
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