2. Das Land hinter dem Regenbogen
Schillernd und strahlend spannt er sich über das dunkle Wasser des Ärmelkanals, der Regenbogen. Seine Farben leuchten in einem ganz eigenen, einzigartigen Licht. Am schönsten ist das Blau. Es erinnert mich an den Himmel, der sich hoch über unseren Köpfen erstreckt und vermittelt mir ein Gefühl von Freiheit. Schade nur, dass blau gerade die Farbe ist, die in einem Regenbogen am schwächsten leuchtet. Denn ein Regenbogen erscheint, von wo aus auch immer man ihn betrachtet, stets vor einem grauen und wolkenverhangenen Himmel.
Ich seufze. Freiheit. Ein bisschen mehr davon hätte meinem Leben nicht schlecht getan. Manchmal wünsche ich mir, wie die Möwen durch die Lüfte gleiten zu können. Losgelöst von all dem, was mich an den Erdboden fesselt. Als Möwe könnte ich für immer hier bleiben, in Brighton, in England.
Aber ich bin nun mal keine Möwe, sondern ein Mensch und somit an das Schicksal anderer Menschen gekettet. Allen voran an das Schicksal meiner Mum. Oder sollte ich es besser Liebesleben nennen?
„Hey Nini, Kopf hoch!", weist mich meine beste Freundin Maddie an und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Schon als Kinder sind wir unzertrennlich gewesen. Wir wissen beinahe alles über einander. Von meiner Schwester Kate abgesehen gibt es keinen Menschen, der allein an meinem Gesichtsausdruck so gut ablesen kann, was ich gerade denke. Dass wir uns nun für eine ziemlich lange Zeit voneinander verabschieden müssen, will noch immer nicht in meinen Kopf.
Langsam wende ich mich zu Maddie um. Dabei bläst mir der Wind die dunklen Locken ins Gesicht. Seufzend streiche ich sie hinter die Ohren. Obwohl ich den Wind, der meine Haare immer dorthin weht, wo ich sie gerade nicht haben will, oft ziemlich nervig finde, werde ich wahrscheinlich sogar ihn vermissen.
Maddie und ich stehen auf dem Brighton Pier und genießen die letzten Minuten, die wir hier miteinander verbringen dürfen. Die letzten Minuten, bevor ich England und meine Heimatstadt Brighton verlassen muss, um mit meiner Familie nach Italien zu ziehen.
„Von hier bis in die Toskana sind es nur 890 Meilen", versucht Maddie mich aufzuheitern.
„Das macht 1425 Kilometer", brumme ich. Alles da drüben ist anders. Die Längeneinheiten, die Währung und sogar die Fahrtrichtung der Autos.
Irgendwo dort, südlich des Regenbogens, der nun immer schwächer leuchtet, liegt das Land, das, wie Mum zu sagen pflegt, bald meine neue Heimat sein wird. Doch ich weiß es besser. Meine Heimat ist hier, in Brighton.
„Ich vergammele da", jammere ich, „dort ist nichts, außer verwinkelten Straßen, grünen Hügeln und dem Mittelmeer." Zugegeben, für einen Kurzurlaub klingt das vielleicht nach einem erholsamen Ort. Aber wenn man ein ganzes Jahr dort verbringen muss, kann das schon ganz schön langweilig werden. In dem Dörfchen, in dem ich bald wohnen werde, gibt es nicht mal Kneipen, sondern nur Restaurants. Das mit dem abends Weggehen und dem Feiern in Clubs kann ich im nächsten Jahr vergessen, obwohl ich Ende des Sommers achtzehn werde. Zugegebener Weise ist Brighton auch nicht gerade eine Metropole, aber von hier aus fährt man nur eine Stunde mit dem Zug und schon steht man im Zentrum Londons mit all den Pubs und Clubs, in denen die ein oder andere unvergessliche Geschichte entsteht.
„Du schreibst mir!", verlangt Maddie, „einmal pro Woche will ich ein Update!" Das hört sich schon fast wie ein Befehl an. Aber wie ein Befehl, dem ich gerne folge.
„Jeden Tag", versichere ich ihr und drücke ihre Hand, „und wir skypen."
„Ach Nini verdammt, du fehlst mir jetzt schon!" Schwungvoll umarmt sie mich. Ich erwidere ihre Umarmung und genieße den Duft ihres Parfums, der langsam in meine Nase kriecht. Sie trägt es oft viel zu stark auf. Deshalb fühle ich mich manchmal völlig benebelt, wenn ich ihr näher komme. Diesmal ist das jedoch nicht so.
„Außerdem habe ich das Gefühl, dass in Italien etwas Großes auf dich wartet", flüstert Maddie mir ins Ohr. Als sie das sagt, muss ich grinsen. Das ist typisch Maddie. Schon seit wir klein sind, ist sie begeistert von Vorhersehungen und einem vorbestimmten Schicksal. In diesem Punkt sind wir ziemlich unterschiedlich. Nur zu gerne ziehe ich sie mit dem Hokus-Pokus, an den sie glaubt, auf. Doch diesmal schlucke ich die Bemerkung herunter, die mir auf der Zunge liegt und lasse mich stattdessen tiefer in ihre Umarmung fallen.
Die Gischt der aufkommenden Wellen spritzt mir ins Gesicht und der kalte Wind, der vom Meer über den Pier weht, reißt an meiner Kleidung. Fröstelnd reibe ich mir die Arme. Es stimmt, die Sommer in Großbritannien sind ziemlich kühl und man kann das Klima in diesem Land als verregnet und wechselhaft beschreiben. Manche Leute beschweren sich heftig darüber, aber was erwarten sie denn? Wir befinden uns hier schließlich auf einer Insel.
Ich selbst verabscheue den Regen nicht. Im Gegenteil, ich liebe ihn und das raue Wetter. Anders als die meisten meiner Freund:innen bin ich der Meinung, bei Temperaturen jenseits der zwanzig Grad kann sich niemand so richtig wohl fühlen.
Einen Moment lang stehen Maddie und ich schweigend am Geländer des Brighton Pier und starren auf das graue Wasser hinaus, doch schließlich meint meine beste Freundin, ihr sei kalt, wir sollten jetzt lieber gehen. Das war so klar! Maddie gehört eindeutig zu den Leuten, die den englischen Sommerregen zur Hölle wünschen. Sie beneidet mich darum, dass ich in den Süden ziehe. Was daran beneidenswert sein soll, verstehe ich nicht wirklich. Wenn ich umziehe, verliere ich all meine Freund:innen, was zugegebenermaßen nicht sonderlich viele sind, und muss neue Kontakte knüpfen. Darin bin ich leider besonders schlecht. Es fällt mir nicht leicht, auf völlig fremde Leute zuzugehen und mit ihnen zu plaudern, als würden wir uns schon ewig kennen.
„Bye, bye", flüstere ich dem Meer zu, während Maddie und ich Arm in Arm über den Pier schlendern, vorbei an Fahrgeschäften und Fressbuden.
„Präg dir deine Umgebung gut ein!", zischt eine boshafte, giftige Stimme in meinem Kopf. „Du wirst all das hier für eine lange Zeit nicht mehr sehen!"
Gierig sehe ich mich um und obwohl ich diesem Pier so gut kenne wie kaum einen anderen Ort auf der Welt, gibt es immer wieder neue Dinge zu entdecken. Ich beobachte Tourist:innen, die mit ihren Kameras alles ablichten und ziehe die modrige Luft des Salzwassers ein.
Meine Augen fahren am Geländer des Piers entlang, dessen weiße Farbe bereits abblättert. Meine Ohren sind erfüllt vom Kreischen der Möwen und dem Rauschen der Wellen. Der Wind lässt einzelne Haarsträhnen um meine Nasenspitze tanzen. Er liebkost meine Haut und küsst meine Wangen.
Maddie läuft währenddessen schweigend neben mir her. Sie spürt, dass ich mich gerade nicht unterhalten will und meine letzten Minuten hier in Stille genieße. Am Ausgang des Piers steht in allen möglichen Sprachen der Welt Auf Wiedersehen.
Vor dem Pier reihen sich Imbissbuden aneinander. Auch hier muss ich Abschied nehmen. Fast ein Jahr lang habe ich in einem Donutstand gejobbt. Die Arbeit hat mir immer viel Spaß gemacht. Manchmal war es einfach nur gut, von zu Hause wegzukommen und etwas anderes zu machen.
Bei meinem ehemaligen Kollegen Ryan kaufe ich eine Tüte Donuts für fünf Pfund. Nach einer kurzen Unterhaltung verabschiede ich mich auch von ihm, reiße dann sofort die Tüte auf und stopfe die Hälfte der Donuts in mich hinein. Die Donuts füllen ein bisschen die Leere, die sich in mir ausgebreitet hat.
Obwohl das Fett an meinen Fingern hinunterläuft und Zucker an meinen Zähnen klebt, fühle ich mich zum ersten Mal seit Tagen wieder wohl. Für einen Moment vergesse ich sogar, dass ich in nicht weniger als zwanzig Stunden mit Mum und Kate nach Pisa fliegen werde.
Unwillkürlich frage ich mich, was passiert wäre, wenn Mum und ihr Freund Andrew sich nicht getrennt hätten. Doch für die Antwort muss ich nicht mal lange nachdenken. Wir wären in England geblieben.
Auch der Gedanke an Andrew schmerzt. Er war ein Teil unserer Familie, hat Kate Fahrradfahren beigebracht, uns von der Schule abgeholt und mich auf Schwimmwettkämpfe begleitet. Dass er von einem auf den anderen Tag nicht mehr da ist, tut weh. Vor allem, weil ich nicht mal den Grund dafür kenne. Aber den wird meine Mutter mir wohl niemals verraten. Über so etwas reden wir in unserer Familie nicht. Das war schon damals so, als mein Vater uns verlassen hat.
Um mich abzulenken, plaudere ich mit Maddie über Mitschüler:innen, die nach den Sommerferien ihren achtzehnten Geburtstag feiern werden und über die Wettkämpfe, an denen das Schwimmteam unserer Schule in der kommenden Saison teilnimmt. Dann gleiten wir fast automatisch zu Maddies Lieblingsthema hinüber: Dating. „Du musst mir unbedingt sagen, ob die italienischen Jungs besser küssen können als die englischen, okay?", verlangt sie, woraufhin ich erst mal erschrocken zusammenzucke. Küssen? Die italienischen Jungs? Das habe ich eigentlich nicht geplant. Um ehrlich zu sein, sind Jungs und Küssen auch das Letzte, woran ich gerade denke. Nach allem, was in letzter Zeit passiert ist, brauche ich jetzt erst mal ein bisschen Abstand davon.
„Charmanter als die Engländer sind sie aber auf jeden Fall. Da wette ich meinen Arsch drauf", plappert Maddie weiter, „so eine Panne wie mit Jeremy wird dir in Italien bestimmt nicht passieren." Jeremy. Autsch! Da hat meine beste Freundin meinen wunden Punkt getroffen. Schnell versuche ich, das Thema zu wechseln.
„Weißt du eigentlich schon, wann die Abschlussprüfungen sind?", frage ich und hoffe, dass ich dabei so unbeschwert wie möglich klinge.
„Nope, aber ich hab mir schon einen Lernplan gemacht", erzählt Maddie. Ich bin erleichtert, dass sie so schnell auf den Themenwechsel anspringt. „Aber diesen Lernplan werde ich sowieso nicht durchziehen ohne dich. Verdammt... warum musst du mich ausgerechnet in unserem letzten Schuljahr verlassen?!"
Als Maddie davon erfuhr, dass Mum plante, nach Italien zu ziehen, setzte sie alles daran, dass ich vielleicht doch bleiben kann. Sie hat ihre Mutter regelrecht bekniet, damit ich im letzten Schuljahr bei ihr und ihrer Familie wohnen darf. Am Ende hatte sie ihre Mutter und ihren Stiefvater fast so weit, dass sie dieser Idee zugestimmt hätten, aber dann hatte ich deswegen einen riesigen Streit mit Mum, in den sich auch noch meine Schwester Kate einmischte und am Ende habe ich mich schweren Herzens dafür entschieden, mit meiner Familie zu gehen. Allein lassen konnte ich sie irgendwie nicht. Doch die Entscheidung hat mich letztendlich fast zerrissen.
Denn am liebsten würde ich auch noch dieses Jahr mit Maddie die Schulbank drücken. Vor allem, da sie so gut wie nichts für die Schule tut. Sie braucht einfach jemanden, der sie zum Lernen anstachelt und das bin meistens ich, die Überfliegerin, die Talentierte, deren gute Noten von allen bewundert werden. Meine Zensuren dienen jedoch nur einem Ziel: einem Stipendium. Ich will nämlich unbedingt in London Medizin oder Biologie studieren, aber dazu fehlt uns das Geld.
Dieser Traum rückt durch meinen Umzug nach Italien noch weiter in die Ferne. Nicht genug, dass Mum mir mit ihren sprunghaften Plänen meine Gegenwart versaut. Die Zukunft, die ich geplant habe, kann ich auch vergessen.
Maddie und ich laufen ein Stück an der Strandpromenade entlang und sie erzählt mir so eifrig von ihren Vorhaben fürs nächste Jahr, dass ich das Gefühl bekomme, sie spricht von dem, was wir beide gemeinsam machen werden und nicht sie allein.
Schließlich erreichen wir unseren Lieblingspub. Er ist etwas älter und sieht von außen ziemlich heruntergekommen aus. Außerdem schwebt im Schankraum eine dichte Rauchdunstglocke. Aber dieser Pub hat einen riesigen Vorteil: hier kontrolliert niemand das Alter der Anwesenden. Das bedeutet: Zutritt auch für Minderjährige. Früher haben wir immer gefälschte Schülerausweise mit hierher gebracht, bis wir gemerkt haben, dass das überflüssig ist, weil sowieso niemand nachsieht, ob wir achtzehn sind.
Maddie und ich bestellen fish&chips. Man sieht es dem Schuppen von außen nicht an, aber das Essen schmeckt köstlich. Die Pommes sind extrem knusprig und der Fisch ist gold-gelb gebacken.
Wir futtern alles viel zu schnell auf und drücken uns noch ein bisschen länger in der Kneipe herum als unbedingt nötig, während es draußen anfängt zu regnen. Schließlich ist es jedoch Zeit, sich voneinander zu verabschieden. Maddie muss auf ihre kleinen Brüder Brad und Matthew aufpassen. Die beiden sind erst fünf Jahre alt und total anstrengend. Wenn man sie länger als zehn Minuten aus den Augen lässt, ist das Chaos vorprogrammiert. Manchmal könnte man meinen, sie legten die Welt in Schutt und Asche. Teufelszwillinge nennt Kate sie immer.
„Mach's gut Nini", schluchzt Maddie, als wir uns vor der Kneipe ein letztes Mal umarmen. Ich weine nicht.
Klar, der Abschied ist traurig und er geht mir unter die Haut, aber nicht so tief, dass ich eine Träne verliere. Ich fange nicht an zu heulen, wenn es mir schlecht geht. Wann ich das letzte Mal geweint habe, weiß ich schon gar nicht mehr.
„Ich hab noch was für dich... als kleines Trostpflaster", meint Maddie, nachdem wir uns voneinander gelöst haben und sie sich die Tränen mit einem Taschentuch wegwischt. Sie greift in ihre Jacke und zieht ein kleines, rotes Päckchen hervor. Zögernd nehme ich es entgegen. Es fühlt sich schwer an in meiner Hand. Bestimmt ist das, was auch immer in dem Päckchen sein mag, teuer gewesen.
Na super! Ich habe nicht mal ansatzweise an ein Abschiedsgeschenk für Maddie gedacht. Ich atme tief ein und schlucke schwer.
„Danke", antworte ich und lasse das Päckchen in die Tasche meiner Regenjacke gleiten, „dafür schick ich dir 'ne Postkarte." Schwacher Trost! Den letzten Satz hätte ich mir verkneifen sollen.
Doch Maddie nimmt mir das nicht übel. Sie lacht sogar darüber. „Ich bin immer noch davon überzeugt, dass in Italien etwas Großes auf dich wartet", meint sie leichthin, „und nach einem Jahr kommst du wieder und dann studieren wir hier zusammen."
„Darauf kannst du wetten", antworte ich, „auf jeden Fall!"
„Freundschaft für immer?", schlägt Maddie vor. Auffordernd streckt sie mir ihre Hand entgegen. Nur zögernd ergreife ich sie. „Freundschaft... für immer." Die Worte für immer kommen nicht so richtig über meine Lippen. Mein Vater hat Mum auch ewige Liebe geschworen und hat er sein Versprechen gehalten? Nein.
Freundschaft und Liebe sind schön. Sie erhellen unser Leben und erfüllen uns mit Freude, wenn wir leer und kraftlos sind. Trotzdem sind sie nicht für die Ewigkeit gemacht. Sie werden schwächer mit der Zeit, bis sie vollkommen verblassen oder zerbrechen. Das ist normal.
Noch einmal umarme ich Maddie, dann muss sie auch schon los. Ich bleibe einen Moment stehen und sehe ihr hinterher, doch schließlich wende ich mich kopfschüttelnd ab.
Mit schnellen Schritten laufe ich die Strandpromenade entlang und springe dann mit einem Satz auf die dunklen Kieselsteine, die an der Küste aufgeschüttet werden. Sie knirschen unter meinen Füßen und es ist, als hießen sie mich willkommen. Es tut weh, nun ein letztes Mal am Strand entlang zu laufen. An diesem Ort hängen so viele meiner Erinnerungen. Ich will sie nicht einfach hier zurücklassen. Aber das muss ich vielleicht auch gar nicht, überlege ich mir, während ich auf eine schneckenhausartigen Muscheln hinunter sehe.
Lächelnd beuge ich mich zu ihr herab und stecke sie zu Maddies Geschenk in meine Jackentasche. Dabei spuken die Worte meiner besten Freundin in meinem Kopf herum. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass in Italien etwas Großes auf dich wartet. Wer weiß, vielleicht hat sie damit ja sogar Recht und in Italien wartet tatsächlich etwas Großes auf mich.
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