19. Zu Besuch bei Freunden

Fassungslosigkeit. Sprachlosigkeit. Entsetzen. Keine Ahnung, welches Gefühl es genau ist, das diese Einträge bei uns hinterlassen, aber es ist auf jeden Fall kein Gutes. Vielleicht ist es ein Kopfschütteln über Marias Naivität. Schließlich muss sie doch gewusst haben, worauf sie sich einließ, als sie Bernardo heiratete.

Auf einmal begreife ich, was Maria mit ihrem später hinzugefügten Eintrag am Anfang des Tagebuches meinte. Sie hat Entscheidungen getroffen, für die sie die Konsequenzen tragen musste. Auch wenn ich spüre, dass das noch nicht alles ist. Maria hat viel mehr verloren, als wir wissen. Und sie gibt sich die Schuld am Tod der Elementträger.

Nach diesem Eintrag wurde ein Blatt Papier in das Tagebuch gelegt. Es sind die Seiten vierundsiebzig und fünfundsiebzig eines Buches. Der Kopfzeile lässt sich entnehmen, dass es sich dabei um Die Alchemie der Elemente von Professor Bernardo Falcini handelt.

Ohne Grund wird Maria diese Seiten wohl kaum in ihr Tagebuch gelegt haben. Trotzdem stehen dort enttäuschend wenige Informationen. Das Einzige, was einigermaßen interessant ist, handelt von dem Weitergeben der Fähigkeit eines Elementes. Laut Falcini können die Elemente durch Blut von Mensch zu Mensch übertragen werden. Aber auch von Eltern auf ihre Kinder. Dabei müssen die Eltern selbst nicht Elementträger sein. Sie müssen bloß das genetische Erbe in sich tragen und –

„Kate, hier steht, dass Geschwister von demselben Elternpaar immer und ohne Ausnahme alle die Fähigkeit zu einem Element besitzen!", rufe ich erstaunt aus.

Daran, dass es spät ist und Mum womöglich schon schläft, denke ich nicht. Für einen Augenblick sieht meine Schwester mich entgeistert an, dann jedoch weiten sich ihre Augen. „Das bedeutet, dass du...", beginnt sie.

„Genau, wenn du ein Elementträger bist, muss ich es automatisch auch sein!"

„Aber du besitzt doch nicht die Fähigkeit zu einem Element."

„Nein, nicht so wie du." Damit hat Kate Recht. Ich verbringe meine Zeit zwar gerne im Wasser, aber so eine tiefe Verbundenheit zu dem Element wie meine Schwester sie mir beschrieben hat, spüre ich nicht. Und mit den anderen Elementen, Feuer, Erde und Luft, kann ich noch weniger anfangen.

„Du musst das Element von jemand anderem haben", schließe ich daraus.

„Oder in deinem Kopf ist eine Blockade", überlegt Kate, „schau mal, Giacomo konnte schon mit vier Jahren alle Elemente kontrollieren. Ich habe gerade mal mit vierzehn gemerkt, dass ich die Fähigkeit zu einem habe. Warum nicht schon vorher?"

„Weil sich die Fähigkeit zur Kontrolle eines Elements normalerweise erst im Jugendalter zeigt. Aber ich bin fast schon nicht mehr in der Pubertät. Sollte ich da nicht schon längst gemerkt haben, dass ich ein Elementträger bin?"

Die ungelösten Fragen fressen mich beinahe innerlich auf. Ich kann es nicht abhaben, wenn es für eine Sache keine plausible Erklärung gibt. So schlafe ich in dieser Nacht nicht besonders viel und der nächste Schultag rauscht nur so an mir vorüber, als wäre ich gar nicht anwesend.

Nachmittags bin ich mit Lucca verabredet. Der begrüßt mich grinsend mit einem: „Na, sind Augenringe jetzt in Mode?"

Fast schon automatisch finde ich zu einem unfreundlichen „Halt die Klappe" zurück.

Trotzdem gehen wir gemeinsam joggen. Die Strecke, die er sich ausgesucht hat, führt durch die toskanischen Hügel, immer wieder hoch und runter. Da ich nicht besonders viel geschlafen habe, zieht Lucca mich gnadenlos ab. Vermutlich wäre er ohnehin schneller gewesen als ich. So viel wie er raucht, finde ich es fast ein Wunder, dass er noch so gut in Form ist. In ein paar Jahren wird das vermutlich anders aussehen.

Nach dem Sport gehen wir ein Eis essen in einer Eisdiele unten am Hafen. Schließlich hätten wir uns eine Belohnung verdient, behauptet Lucca. Luccas Mutter und sein jüngster Bruder Serafino arbeiten in der Eisdiele. Serafino ist sehr klein und schmal für sein Alter und über seine Wangen ziehen sich rote Eiterpusteln. Er kommt mir bekannt vor und als ich Lucca frage, ob ich seinen Bruder irgendwoher kenne, meint er nur, er sei bei der Auseinandersetzung zwischen Pietro und ihm an meinem Geburtstag dabei gewesen. Im Gegensatz zu damals finde ich Serafino jetzt eigentlich ganz nett. Er wirkt ziemlich schüchtern und ist nicht viel älter als Kate zu sein.

Nach dem Eisessen schlendern wir ins Restaurant meiner Großeltern, wo der mittlerweile schon ziemlich groß gewordene Berner Sennenhund uns freudig begrüßt. Lucca will mit ihm Gassi gehen, während ich von dem Tier lieber Abstand halte.

„Du musst wirklich keine Angst vor Hunden haben", meint Lucca, „John Lennon ist ganz lieb und zutraulich."

„John Lennon?" Am liebsten hätte ich gelacht.

„Ja, so heißt der Hund."

„Das ist doch kein Name für ein Haustier!", rufe ich empört. Wer kommt denn bitteschön auf die Idee, einen Hund nach einem verstorbenen Musiker zu benennen?

„Naja, deine Großmutter ist eben ein ziemlicher Fan von den Beatles", sagt Lucca und zuckt lachend mit den Schultern.

Meine Großmutter, ein Fan von den Beatles. Das ist mir neu. Aber andererseits weiß ich ziemlich wenig über meine Großeltern und meine Familie. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, mehr über sie herauszufinden oder Zeit mit ihnen zu verbringen. Jetzt jedoch fühle ich mich so, als sollte ich genau das tun. Lucca kennt Nonna und Grandpa viel besser als ich. Eigentlich müsste es umgekehrt sein.

„Okay, ich nehme den Hund", beschließe ich und ergreife die Leine mit klopfendem Herzen. Zu Beginn des Spazierganges ist mein Magen ziemlich verkrampft, doch je länger ich mit John Lennon unterwegs bin, desto besser geht es. Schließlich drücke ich Lucca jedoch die Leine in die Hand und wische mir den Angstschweiß von der Stirn. Für einen Tag ist das genug Fortschritt.

Das sieht auch Lucca ein, denn er nimmt den Hund ohne zu zögern. Bevor wir uns voneinander verabschieden und ich mich bei meinen Großeltern dusche und etwas esse, verabreden wir uns für den nächsten Tag. Wieder zum Joggen und Gassigehen. Mal sehen, wie gut ich dann mit dem Hund umgehen kann und wie sehr mich der Tag von den Legenden von Pergula ablenkt.

~

An den nächsten Tagen der Woche unternehmen Lucca und ich etwas zusammen. Meistens machen wir zuerst Sport (joggen oder schwimmen) und essen danach ein Eis bei seiner Mutter und seinem Bruder, die beide zwar ziemlich nett, aber sehr reserviert sind. Den Tag beenden wir dann mit einem Spaziergang, auf den wir John Lennon mitnehmen. Freitags will Kate jedoch mit dem Hund und ein paar Freund:innen rausgehen. Dafür skypen Lucca und ich mit Maddie, die absolut begeistert davon ist, ihn kennenzulernen. „Ich habe schon so viel von dir gehört", begrüßt sie ihn lachend. Zum Glück erzählt sie ihm nicht, was sie alles schon von ihm gehört hat, denn dann müsste sie all meine Lästereien der letzten zwei Monate aufzählen.

Am Freitagabend kellnert Lucca im Restaurant meiner Großeltern. Dafür treffe ich mich mit Pietro und meinen neuen Klassenkammerad:innen am Strand. Solange es noch hell ist, spielen wir Volleyball und als es dunkel wird, setzen wir uns mit einem Bier in der Hand auf Decken in den Sand.

Stella ist nicht dabei, dafür aber ihre Freundinnen Marietta und Ana. Insgeheim bin ich ziemlich froh darüber, dass Stella nicht da ist. Seit Dienstag ist sie nämlich wieder in der Schule gewesen und obwohl wir uns ganz normal miteinander unterhalten haben, hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass eine unangenehme Stimmung zwischen uns in der Luft liegt.

Wir quatschen alle laut und wild durcheinander. Obwohl ich noch nicht lange dabei bin, gelingt es Pietro und seinen Freunden, mit das Gefühl zu vermitteln, ich gehörte schon ewig zu ihrer Gruppe. Schließlich verabschiede ich mich allerdings mit einem lauten Gähnen und laufe durch die schwach beleuchteten Gässchen nach Hause.

Während ich Zähne putze, fallen mir immer wieder die Augen zu, so müde bin ich. Trotzdem bin ich irgendwie glücklich. Seltsam, wie sehr sich doch mein Leben hier innerhalb von nur einer Woche verändert hat. Damals war alles noch trist und langweilig. Jetzt habe ich das Gefühl, hier angekommen zu sein und zu meiner Überraschung ist es nicht mal so schlecht wie ich immer gedacht habe.

~

Am Samstagmorgen stehe ich früh auf, damit Lucca und ich uns am Strand zum Schwimmen treffen können, wenn noch nicht so viel Badebetrieb herrscht. Nachdem wir im Kraulstil durch die seichten Wellen geprescht sind, legen wir uns auf Handtücher in den Sand, um uns trocknen zu lassen. Dabei unterhalten wir uns über unsere Interessen und ich muss feststellen, dass Lucca tatsächlich jemand ist, den ich richtig gerne habe. So etwas wie ein guter Freund.

Als ich nachmittags nach Hause komme, klebt Salzwasser an meinen fettigen Haaren und die Haut auf meiner Nase schält sich sogar vom Sonnenbrand. Trotzdem fühle ich mich glücklich und vollkommen. Vielleicht hat Kate heute ein bisschen Zeit. Dann können wir uns mal wieder über die Legenden von Pergula oder Maria Vecca unterhalten. In den letzten Tagen hat Kate ihr Element nicht mehr benutzt, aber dieser Samstag eignet sich perfekt zum Experimentieren.

Doch daraus wird nichts. Kaum dass ich die Haustür öffne, fällt mein Blick nämlich auf Mum, die im Flur vor dem Spiegel steht und sich bewundernd hin und her dreht. Sie steckt in einem geblümten Sommerkleid. Dazu trägt sie ein grelles Makeup.

„Was ist denn hier passiert?", frage ich und lege die Stirn in Falten.

„Brionny, da bist du ja", sagt Mum, als sie mich bemerkt, „zieh dich schnell um, wir gehen Freunde von mir besuchen."

„Seit wann hast du Freunde hier?", frage ich skeptisch. Auch in Großbritannien hat es selten jemanden gegeben, mit dem sie sich traf. Außer Tante Margret (die Cousine meines Großvaters) wäre mir spontan niemand eingefallen, mit dem sie sich verabredet hätte.

„Ach, ich kenne sie schon ewig", gibt sie strahlend zurück.

„Nein, ich bleibe lieber hier", meine ich nur dazu.

„Och Brionny", jammert Mum, „wir haben schon lange nichts mehr zusammen unternommen, so zu dritt, als Familie."

„Weil das ja in letzter Zeit so wichtig für dich ist", zische ich Mum zu und quetsche mich an ihr vorbei zur Treppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend spurte ich in mein Zimmer hoch. Dort werfe ich die Schwimmtasche in die Ecke und binde mein nasses Haar mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zurück. Dann schlüpfe ich aus meinen Klamotten und ziehe mir neue über. Mein T-Shirt ziert ein Totenkopf und die Shorts sind an den Rändern zerfranst.

Wenige Minuten später stehe ich neben meiner Mutter im Flur. Verwundert sieht sie mich an, sagt aber nichts, sondern ruft nach meiner Schwester, die nicht weniger bunt und fröhlich als sie die Treppe hinunter gepoltert kommt.

„Also begleitest du uns doch?", fragt Mum schließlich zaghaft. Ich nicke und bemühe mich, sie dabei nicht anzusehen. Erst als sie mir den Autoschlüssel entgegen hält, wende ich mich ihr zu.

„Kannst du heute fahren?", will sie wissen, „ich hab Sekt gefrühstückt." Fluchend reiße ich ihr den Schlüssel aus der Hand. Aber vielleicht ist es sogar besser, wenn ich fahre. Mit Mum am Steuer bauen wir am Ende noch einen Unfall.

Auf der Fahrt spielt Mum das Navigationsgerät, weshalb wir gleich fünf Mal die falsche Abzweigung nehmen und dann immer wieder wenden müssen.

Irgendwann, nachdem wir beinahe eine ganze Stunde unterwegs sind, fahren wir durch Weinberge, bis wir schließlich eine große, prächtige Villa erreichen und Mum originalgetreu im Tonfall eines Navis verkündet: „Wir haben unser Ziel erreicht."

Das ist doch nicht ihr Ernst! Nie im Leben hat sie Freunde, die in diesem Ding, diesem Luxushaus, wohnen. Warum hat sie denn nicht früher erzählt, dass ihre Freunde reich sind?

Staunend lenke ich das Auto in die Einfahrt und wäre dabei um ein Haar über eine Katze gefahren, die mitten auf dem Weg liegt und sich sonnt, so abgelenkt bin ich von der Villa. Seufzend zwinge ich mich zu mehr Konzentration und parke unser altes klappriges Auto mit gehörigem Abstand zu dem Mercedes und dem Porsche, die auf dem Vorhof stehen.

Noch bevor ich den Motor abgestellt habe, kommt auch schon ein Mann mit dunkler Sonnenbrille und Sonnenkappe auf uns zu gestürmt. Er reißt die Fahrertür unseres Autos auf und streckt mir seine Hand entgegen.

„Herzlich Willkommen in der Villa Belluco", sagt er. An seiner Stimme erkenne ich ihn.

„Pietro", flüstere ich tonlos, ohne Spucke.

„Brionny", antwortet er, „und, habt ihr gut hergefunden?"

„Über Umwege, ja."

„Oh Pietro." Mum steigt mit einem begeisterten Grinsen aus dem Auto und läuft zu ihm. „Lass dich umarmen!", ruft sie und drückt ihn fest an sich, bevor er protestieren kann.

„Wusstest du, dass wir zu den Bellucos fahren?", frage ich und drehe mich zu Kate um, die auf der Rückbank sitzt, doch meine Schwester zuckt nur mit den Schultern. „Es hieß nur, wir besuchen Freunde von Mum."

„Wo sind deine Eltern?", will Mum von Pietro wissen.

„Sie sind drinnen und bereiten das Essen vor. Folgen Sie mir einfach."

Wie ein Angestellter führt er uns ins Haus, in dem es kühler und dunkler ist, als ich angenommen habe. Vor allem nach der grellen Mittagshitze scheint der Raum hier düster und kalt. Ich fühle mich, als hätte mich jemand um ein Jahrhundert in der Zeit zurückversetzt. Von der Decke hängt ein Kronleuchter und der Boden ist mit Teppichen ausgelegt. Prachtvolle Kommoden lehnen sich an die Wände. Ein paar Stufen führen vom Eingangsbereich hinab ins Esszimmer, in dem eine große, gedeckte Tafel steht. Eine offene Glasfensterfront erlaubt den Blick auf eine Terrasse und spendet Licht. Warme Luft weht durch diese Fensterfront herein und bauscht die weißen Vorhänge auf, die von der Decke bis zum Boden reichen und die die Sicht nach draußen einschränken.

Obwohl ich es nicht will, kann ich nicht anders, als staunen. Mit offenem Mund bleibe ich stehen. Im ersten Moment fühle ich mich, als würde ich das Anwesen eines Adeligen betreten.

Laute, polternde Schritte auf der Treppe, die nach oben führt, reißen mich aus meinem Staunen. Wenig später stehen Davide und Vittoria vor uns. Sie begrüßen mich freundlich, stürmen dann aber an mir vorbei, um Mum die Hand zu schütteln und Kate schwungvoll zu umarmen. Signor und Signora Belluco stehen im Esszimmer und decken den Tisch. Trotzdem empfangen sie uns freundlich und herzlich und lassen nicht mal erahnen, dass wir zu spät sind.

Bevor wir uns zum Essen hinsetzen, lasse ich meinen Blick über die Fotos schweifen, die an den Wänden aufgehängt wurden. Allesamt Familienbilder. Die meisten zeigen die drei Kinder der Bellucos, aber auf einigen ist auch eine Frau zu erkennen, die ich als Maria Vecca identifiziere. Staunend trete ich näher an die Fotos. Man sieht Maria beim Arbeiten in den Weinbergen, Maria mit einem Mann, Maria mit ihren Eltern, Maria beim Tagebuchschreiben und Maria mit ihren Söhnen. Giacomo und Alessandro.

Auf einer Kommode steht ein relativ aktuelles Bild von Maria in einem schwarzen Rahmen. Daneben liegen jede Menge Prospekte, eine Fernsehzeitung, aber auch eine Mappe, aus der ein paar Seiten herauslugen. Eigentlich will ich dem Ganzen nicht besonders viel Aufmerksamkeit schenken, doch dann erkenne ich, dass ein Foto von Luccas Gesicht auf dieser Seite abgedruckt ist. Persönliche Daten über ihn stehen direkt daneben.

Die Überschrift der Seite lautet Elementträger. Elementträger? Bedeutet das etwa, dass Lucca ein Element beherrscht. Genau wie Kate? Das erscheint mir unmöglich und vor lauter Schreck schlägt mein Herz schneller.

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