18. Marias Geschichte

Sonntag, 04. März 1962

Nun sitze ich hier, im schwachen Licht meiner Leselampe und finde zum erstem Mal seit Jahren wieder ein paar Minuten für mich. Die letzten Jahre waren anstrengend und voll von harter Arbeit. Niemals hätte ich gedacht, dass es so aufwändig ist, einen eigenen Haushalt zu führen. Und dann ist da noch Giacomo. Ich wünschte mir so sehr, mit ihm wäre alles in Ordnung, er wäre wie alle anderen Kinder. Aber das ist er nicht. Schon seit der Geburt hatte er Probleme mit der Haut. In den letzten Monaten ist es so schlimm geworden, dass er nun in die Klinik musste. Ich darf über Nacht nicht bei ihm bleiben und ihn tagsüber nur für ein paar Stunden sehen. Es zerreißt mir das Herz. Wie viel würde ich nur dafür geben, dass er ein gesundes Kind ist.

Aber dafür habe ich nun endlich ein bisschen mehr Zeit gefunden, mich wieder mit den Elementen zu beschäftigen. Das scheint Bernardo zufrieden zu stellen. Was mir in letzter Zeit nicht wirklich gelungen ist, wie ich zugeben muss. Er wirkt immer gereizter, manchmal schreit er und wird handgreiflich.

Bei der Eliminierung der Elementträger, die Bernardo in den letzten Jahren durchführte, halte ich mich im Hintergrund. Fünf Mal ist er in den letzten Jahren ins Ausland gefahren, um Elementträger aufzuspüren und unschädlich zu machen. Nun sind nur noch die Elementträger des Geheimbundes übrig. Zehn Stück sind es. Ich will gar nicht tiefer darüber nachdenken, was das bedeuten mag.

Ein bisschen gebe ich Bernardos Professor die Schuld daran. Für Bernardo ist der Professor wie ein Vater gewesen. Nachdem Bernardos Eltern im Krieg gestorben sind, brauchte er einen Familienersatz. Oft hat er mir erzählt, dass er ihn in mir und dem Professor gefunden hat. Deshalb traf ihn der Tod des Professors letzten Frühling besonders hart. Er starb an Krebs. Laut Bernardo hätte man diese Krankheit mit der Macht des fünften Elements heilen können.

Seit der Professor tot ist, setzt er alles dran, dass er das fünfte Element findet. Der Legende nach wurde die Macht des fünften Elements in einem Stein gespeichert und wer diesen Stein besitzt, beherrscht auch das fünfte Element. Ob es so eine gute Idee ist, dieses Element zu finden und zu benutzen, bezweifle ich. Aber wenigstens ist Bernardo durch dieses neue Ziel davon abgekommen, anderen Menschen zu schaden.

Noch hat Bernardo den Stein nicht gefunden. Aber er arbeitet hart daran. Seit letztem Frühling mehr denn je. Manchmal habe ich das Gefühl, wir führen gar keine richtige Ehe mehr.

Dienstag, 06. März 1962

Heute habe ich Giacomo von der Klinik nach Hause geholt. Seine Haut sieht tatsächlich schon viel besser aus als noch im Januar. Ich habe die Hoffnung, dass er eines Tages wieder ganz gesund werden könnte und auch die Ärzte haben mir Hoffnung gemacht, dass er ein normales Leben führen wird.

Nachdem ich ihn abgeholt habe, sind wir zusammen auf den Wochenmarkt gegangen und Giacomo durfte aussuchen, was ich heute für uns kochen werde. Auf dem Markt sind wir Simone Belluco begegnet. Simone ist Mitglied des Geheimbundes der Elemente, da sein Schwager Matteo ein Elementträger ist.

Als er uns sah, kam er freudestrahlend auf uns zu und meinte, er habe uns ja schon lange nicht mehr gesehen, ob denn alles in Ordnung sei. Ich wusste nicht, wie ich auf diese Frage antworten sollte, also bejahte ich. Ich wusste, dass es mir nicht gelingen würde, eine oberflächliche Plauderei mit ihm zu führen, deshalb versuchte ich ihn abzuwimmeln. Doch er ließ nicht locker und so verabredeten wir uns schließlich zum Tennisspielen. Das haben wir früher öfter getan, als ich noch studierte und dem Geheimbund beitrat. Wie mir das nun gelingen soll, unbeschwert Tennis zu spielen, weiß ich nicht. Vielleicht werde ich Simone absagen.

Mittwoch, 07. März 1962

Ich war gestern mit Giacomo im Garten und hätte beinahe meinen Glauben verloren. Er kann das Element Luft bewegen. Eigenständig. Als ich ihn fragte, was er da mache, erklärte er mir, dass er das im Krankenhaus gelernt habe. Ich kann es nicht fassen. Ist er etwa ein Elementträger? Normalerweise sollten sich die Anzeichen für so etwas erst in der Pubertät zeigen, aber je mächtiger ein Elementträger ist, desto früher können die ersten Symptome auftreten. Giacomo ist doch noch ein Kind... Ich kann nicht glauben, dass er ein Elementträger sein soll. Nicht  er, nicht mein kleiner Sohn. Ich wünsche mir so sehr, dass ich mich geirrt habe. Doch falls nicht, darf Bernardo nichts davon erfahren. Er scheint zwar von seinem Plan, die Elementträger zu töten, abgekommen, doch ich habe trotzdem Angst. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wünschte mir, ich könnte mit jemandem darüber sprechen. Unfassbar, dass ich mir vor Kurzem noch Sorgen über Giacomos Gesundheit gemacht habe. Das hier ist so viel gewaltiger!

Donnerstag, 28. Juni 1962

Nicht nur Luft, sondern auch Erde. Ich habe es gemerkt, als wir gemeinsam die Erdbeeren in unserem Garten ernteten. Selten habe ich gesehen, dass diese Pflanzen so gut blühen und so viele Früchte tragen. Schließlich hat sich mein anfänglicher Verdacht bestätigt.

Ich schlich mich heimlich mit Giacomos Hilfe in das Archiv in den Ruinen und las dort nach, was ich wissen wollte. Zwei Elemente zu beherrschen, das ist selten, aber es ist nicht unmöglich. Das ist bereits ein paar Mal vorgekommen.

Ich wünschte, ich könnte mit Bernardo darüber reden, aber er ist im April in die Alpen gefahren, um dort nach dem Stein des fünften Elements zu suchen. Alte Schriften berichten, dass Podoeri dort gestorben sein soll. Vor Bernardos Abreise traute ich mich nicht, mit ihm darüber zu reden und nun möchte ich gerne warten, bis er zurückkommt. Ich muss es ihm persönlich sagen und er wird es verstehen, das weiß ich.

Freitag, 10. August 1962

Jetzt kommt auch noch Wasser dazu. Ich habe es beim Baden bemerkt. In mir breitet sich eine Befürchtung aus, die ziemlich groß ist, sich aber zum Glück noch nicht bewahrheitet hat. Nur ganz selten wird ein Kind geboren, das die Fähigkeiten zu allen vier Elementen besitzt. Es gibt Aufzeichnungen, die beweisen, dass das in der Geschichte der vier Elemente erst ein Mal vorkam. Und ich hoffe, dass es nicht noch ein zweites Mal vorkommt. Bernardo weiß immer noch nicht von den Kräften seines Sohnes. In seinem letzten Brief klang Bernardo ziemlich euphorisch. Er meinte, er stünde kurz davor, einen legendären Fund zu machen. Ich freue mich für ihn, dass er seinen Zielen so nahe gekommen ist, doch gleichzeitig hoffe ich, dass es niemals zu diesem legendären Fund kommen wird, denn benutzen können wir ihn nicht. Wir müssen doch Giacomo beschützen.

Samstag, 11. August 1962

Ich konnte das Geheimnis nicht länger für mich behalten. Es ist einfach zu gewaltig. Nach dem Tennisspielen heute habe ich mich Simone Belluco anvertraut. Wir treffen uns bereits seit vier Monaten jeden Samstag zum Tennisspielen. Es fällt mir viel einfacher, etwas mit ihm zu unternehmen, seit Giacomo verreist ist und die Stunden mit ihm genieße ich richtig. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich ein ganz normales Leben führen, ohne Elemente und Magie. Diese Illusion ist so schön, dass ich mich am liebsten öfter mit ihm zum Tennisspielen treffen würde.

Simone zeigte sich verständnisvoll. Allerdings hat er nicht besonders viel zu meiner Situation gesagt. Er meinte lediglich, dass es vorerst besser sei, niemand von dem Geheimbund davon zu erzählen. Er versprach mir, dass mein Geheimnis bei ihm sicher sei.

Gleichzeitig warnte er mich jedoch ausdrücklich davor, Bernardo von Giacomos Fähigkeiten zu erzählen. Ich frage mich, wie viel er von Bernardos Machenschaften weiß. Aber ich kann ihn nicht danach fragen, denn damit würde ich ja meinen Mann verraten.

Montag, 13. August 1962

Meine Befürchtung hat sich bewahrheitet. Alle vier Elemente und damit auch die Macht, das Fünfte zu beherrschen, sollten alle vier gleichzeitig angewendet werden. Mein armer Giacomo. Wo sind wir da bloß hineingeraten? Wie bekommen wir das unter Kontrolle, damit nicht noch ein größeres Unglück geschieht?

Mittwoch, 26. September 1962

Ich ging mit Giacomo zu Simone Belluco und seinem Schwager Matteo. In den letzten Wochen blieb Simone stets beharrlich und wollte, dass wir uns mit ihm und seinem Schwager treffen. Matteo beherrscht das Element Erde und ist schon lange Teil des Geheimbundes der Elemente. Matteo war damit einverstanden, Giacomo in der Kontrolle eines Elementes zu unterrichten und mit niemandem über die unglaublichen Fähigkeiten meines Sohnes zu sprechen. Ich habe ihm gesagt, es sei mir lieber, wenn niemand etwas davon wisse, bevor ich nicht mit Bernardo gesprochen habe. Bernardo und ich sollen gemeinsam entscheiden, wie wir Giacomos Fähigkeiten unter Kontrolle kriegen. Bis dahin lasse ich meinen Sohn in Matteos Obhut, denn ich weiß, dass er dort gut aufgehoben ist.

Heute habe ich zum ersten Mal wieder etwas von Bernardo gehört. Er hat mir geschrieben. Er ist fündig geworden, meint er und möchte so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren. Ich erwarte ihn in ein paar Tagen. So viel Zeit bleibt mir allerdings noch, um zu überlegen, wie ich ihm beibringen werde, dass unser Sohn ein Elementträger ist.

Donnerstag, 27. September 1962

Bernardo ist zurück. Heute Mittag kam er mit einem Taxi zu Hause an. Er hat mir nicht geschrieben, wann er wieder hier sein wird, weshalb ich ihn nicht am Bahnhof abholen konnte. Auf einmal stand er einfach so da, vor der Haustür und kam mir vor wie ein Fremder. Abgenommen hat er und rasiert hat er sich schon lange nicht mehr. Der Blick in seinen Augen war fiebrig-glasig, beinahe verrückt. Es ist nicht das Wiedersehen, das ich mir in all den Monaten seiner Abwesenheit ausgemalt habe und das hat mich wohl am meisten enttäuscht. Bernardo ist nicht mehr der Mann, der er einmal war. Der Mann, in den ich mich verliebt habe.

Zuerst standen wir nur schweigend voreinander. Doch dann hat er mich umarmt und immer wieder geflüstert: „Maria. Oh, meine allerliebste Maria. Ich habe sie gefunden, die Lösung all unserer Probleme. Die Lösung für die Menschheit. Und ich glaube, noch vieles mehr. Wenn es uns gelingt, können wir reich und unsterblich werden."

Er führte mich zu dem Küchentisch, auf dem er einen Beutel ablegte, in dem sich ein Diamant befand. Groß wie eine Faust und im schwachen Sonnenlicht hell schimmernd. Ich wollte ihn berühren, doch Bernardos Hand fing meine ein paar Zentimeter vor dem Diamant ab. „Nicht", sagte er, „es ist der Stein des fünften Elements."

Ich glaube Bernardo, denn da ist eine gruselige Kälte, die von dem Stein ausgeht. Bernardo sprach weiter davon, dass man diesen Stein benutzen müsse und dass nichts mächtiger sei als das fünfte Element.

Ich hätte ihm sagen können, dass Giacomo die Fähigkeit zu allen vier Elementen besitzt. Am besten noch in diesem Moment. Aber ich blieb stumm und nickte nur. Giacomo war noch bei Matteo und Simone und käme erst gegen Abend zurück. Vielleicht konnten wir Bernardo ja zusammen zeigen, wozu sein Sohn fähig war. Aber als Matteo und Simone Giacomo vorbei brachten, traute ich mich dann doch nicht. Ich wollte Matteo und Simone zum Abendessen einladen, doch Bernardo war strikt dagegen. Als die beiden weg waren, haben wir uns deshalb gestritten.

Oh Gott, sollte es dich geben, bitte hilf mir! Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich weiß nur, dass es so nicht bleiben kann, wie es jetzt ist. Bin ich mutig genug dazu, den nächsten Schritt zu wagen?

Freitag, 12. Oktober 1962

Als ich heute aus dem Garten kam, wo ich Äpfel pflückte, hörte ich, wie sich Giacomo und Bernardo im Haus unterhielten. Ich musste lächeln und mir wurde warm ums Herz. Seit Bernardo von seiner Reise zurück ist, verbringt er viel Zeit in der Universität. Ich dachte nicht, dass das möglich sei, aber er ist sogar öfter dort als vor seiner Abreise. Manchmal erscheint er tagelang nicht zu Hause. Es ist, als sei er gar nicht wirklich zu Hause angekommen. Auch seinen Sohn hat er kaum beachtet. Deshalb freute es mich umso mehr, dass die beiden nun scheinbar Zeit für einander gefunden hatten.

Schau, was ich alles kann", meinte Giacomo, woraufhin ein Rauschen ertönte. Der Korb mit den Äpfeln glitt aus meiner Hand, als ich begriff, was Giacomo gerade tat. Ich wollte verhindern, dass er seinem Vater seine Fähigkeiten zeigte, doch da hörte ich Bernardo schon sagen: „Du beherrschst die Elemente."

Augenblicklich stürmte ich in den Raum. In Bernardos Blick konnte ich Staunen lesen und vielleicht sogar so etwas wie Schrecken. Ihm war klar, dass ich längst Bescheid wusste und obwohl er nichts sagte, sah ich ihm an, dass er enttäuscht von mir war. „Alle vier?", fragte er tonlos und sah mich dabei an. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich nickte. „Alle vier." Nach einem Moment der Stille fügte ich hinzu: „Was wirst du jetzt machen?"

Daraufhin schüttelte Bernardo nur den Kopf und schwieg. Für eine unerträglich lange Zeit. Dann jedoch meinte er: „Gar nichts." Und er nahm seinen Sohn in den Arm. So wie er es noch nie getan hat.

Heute Abend blieb er zum Essen und fuhr nicht noch einmal ins Büro. Danach haben wir Giacomo zusammen ins Bett gebracht und Bernardo hat ihm vorgelesen. Als Giacomo geschlafen hat, nahm Bernardo mich in den Arm und küsste mich wie schon lange nicht mehr.

Trotzdem rumort noch so ein unbeschreibliches Gefühl von Übelkeit in meiner Magengegend. Ich habe das Gefühl, dass etwas Großes, Unaufhaltsames auf uns zurollt, aber ich bin zu feige, um Bernardo darauf anzusprechen.


Dienstag, 09. April 1963

Es ist erstaunlich, wie sehr sich mein Leben in den letzten Monaten verändert hat. Mehr, als ich es mir jemals vorgestellt oder gewünscht habe. Obwohl ich es ahnte. Die ganze Zeit über. Zum Glück habe ich noch Simone an meiner Seite, der mir zeigt, dass es im Leben schöne Dinge gibt, selbst wenn Angst, Sorgen und Reue meine ständigen Begleiter geworden sind.

Ich habe mich dazu entschieden, dieses Tagebuch zu benutzen. Diesmal richtig. Und sollte ich das Ziel, das ich mir gesetzt habe, in meinem Leben nicht mehr erreichen, werde ich es an jemanden weitergeben, der meine Geschichte versteht und der mein Ziel für mich weiterverfolgt.

Aber alles der Reihe nach. Angefangen hat es vor zwei Monaten, im Februar.

Bernardo fuhr zum ersten Mal für ein paar Tage fort, seit er im September wieder gekommen ist. Er müsse einige Dinge klären, sagte er und ich glaubte ihm. „Spätestens Ende der Woche bin ich wieder da", sagte und verabschiedete sich herzlich von uns.

Abends brachte ich Giacomo ins Bett. Er fragte nach seinem Vater, aber ich musste ihn vertrösten. Dann habe ich mich selbst schlafen gelegt. Die Bettseite, auf der Bernardo sonst lag, war kalt und ich fror. In der Nacht bin ich wach geworden, weil ich Geräusche im Flur hörte. Ich dachte, es wären Einbrecher, also ging ich, um nachzusehen, aber niemand war da. Erst als ich mich wieder ins Bett legte, um weiterzuschlafen, hörte ich die Motorengeräusche. Also sah ich aus dem Fenster und merkte, wie ein Auto davon fuhr. Das Auto von Bernardo.

Mit einer unguten Ahnung ging ich zu Giacomo ins Zimmer, um nachzusehen, wie es ihm geht. Sein Bett war leer. Ich wusste sofort, dass Bernardo ihn mitgenommen hatte. Aber wohin? Und weshalb?

Ich war verwirrt, lief im Wohnzimmer auf und ab und rief dann in Bernardos Büro an. Doch niemand nahm ab. Was hätte ich auch anderes erwarten sollen, um diese Uhrzeit?

In meiner Unsicherheit durchsuchte ich Bernardos Sachen. Aber ich fand nichts, was mir auch nur den leisesten Hinweis darauf hätte geben können, wo er und Giacomo in diesem Moment waren. In meiner Angst überlegte ich, die Polizei zu rufen, als es plötzlich an der Tür klingelte.

Draußen standen Simone Belluco und Matteo. „Wir müssen reden", meinte Matteo, kaum dass ich ihm geöffnet hatte und lief mit Simone an mir vorbei ins den Wohnungsflur.

Was ist denn los?", fragte ich erschrocken. Da drehte sich Matteo energisch zu mir um und erklärte mir, dass er wisse, dass Bernardo den Stein des fünften Elements gefunden hatte und dass Bernardo beabsichtigte, ihn zu benutzen.

Die beiden vermuteten bereits seit ein paar Monaten, dass Bernardo hinter dem Verschwinden von Elementträgern steckt und damit nicht genug. Nicht alle, die die Fähigkeit zur Kontrolle eines Elements besitzen, müssen sterben. Manche von ihnen kann man auch paralysieren, wie Matteo es nennt. Das ist jedoch nur möglich, wenn sie in ihrem Leben einen großen Verlust erlitten haben oder traumatisiert sind. Dann verlieren sie nämlich die Kraft, ihr Element zu benutzen. Matteo erklärte mir, dass Bernardo den Elementträgern wohl schon seit längerer Zeit schadete. Allerdings hätte es nie genug Beweise dafür gegeben. Deswegen seien er und Simone an diesem Abend in Bernardos Büro eingebrochen.

Ihr seid was?!", fragte ich erschrocken, doch Simone beschwichtigte mich, in dem er mir Dokumente zeigte, laut denen Bernardo immer noch plante, die Elementträger zu eliminieren. Nur zehn von ihnen sind noch übrig. Mit Giacomo elf. Und die sollten alle eliminiert werden, damit Bernardo die Fähigkeit zum fünften Element gewinnen konnte. Denn die uneingeschränkte Kontrolle über das fünfte Element gelänge ihm nur, wenn alle Elementträger beseitigt wären. In seinen Dokumenten beschreibt Bernardo sogar, was er für das fünfte Element hält, aber ich fürchte mich, das niederzuschreiben, da das fünfte Element kein Element ist, das man benutzen sollte. Seine wahre Natur zu kennen, führt nur zu Problemen.

Viel mehr erschrak mich jedoch, dass Bernardo mich angelogen hat. Er hatte niemals auch nur eine Sekunde lang daran gedacht, seinen Sohn zu retten und ihn zu beschützen. Es ging ihm immer nur ums fünfte Element und die Herrschaft darüber. Und nun war er von seinem Ziel nur noch wenige Schritte entfernt.

Laut den Aufzeichnungen hatte er für diese Nacht ein heimliches Treffen mit den verbleibenden Elementträgern angesetzt, in dem er plante, sie alle zu eliminieren und damit die Herrschaft über das fünfte Element zu erlangen. Deshalb hatte er Giacomo geholt.

Was machen wir jetzt?", fragte ich und begann wieder wie wild durch den Raum zu laufen.

Wir wissen, wo Giacomo und Bernardo sind", meinte Simone, Bernardo hat für heute ein Treffen der Elementträger einberufen im Namen des Geheimbundes. Es ist seine Gelegenheit, alle auf einen Schlag zu vernichten. Wenn wir Giacomo retten wollen, müssen wir zu diesem Treffen gehen."

Natürlich wollte ich nichts mehr als das und so fand ich mich wenig später mit Simone und Matteo in deren Auto wieder. Ich trug noch immer mein Nachthemd und hatte nur wenige Sachen zusammen gepackt (unter anderem dieses Tagebuch, ich weiß nicht, warum ich es mitnahm, aber ich muss wohl geahnt haben, dass ich nie wieder in die Wohnung von Bernardo und mir zurückkehren würde).

Matteo sagte, dass uns wenig Zeit blieb, deshalb wurde ich immer unruhiger. Auf der Fahrt erzählte mir Simone von ihrem Plan.

Bernardo hatte, ohne dass ich etwas davon bemerkt habe, Anhänger um sich gescharrt, die die Elementträger zur Strecke bringen sollten. Matteo wollte sich zu den Elementträgern gesellen, während Simone und ich mit Giacomo flüchten sollten. Er und die anderen Elementträger würden dann dafür sorgen, dass uns die Flucht gelingt.

Was wird mit den Elementträgern geschehen?", fragte ich an dieser Stelle.

Entweder wir können auch fliehen oder wir können es nicht", sagte Matteo knapp, „die Hauptsache ist, dass Giacomo überlebt. Er beherrscht alle vier Elemente. Er ist der Wichtigste von uns und er ist schließlich noch ein Kind." Bei dem Gedanken, die Elementträger könnten sich für Giacomo opfern, wurde mir schlecht. Genauso unerträglich fand ich die Vorstellung, Bernardo und ich könnten uns trennen. Ich wollte, dass er seinen Fehler einsah, dass er sich entschuldigte und Giacomo und mich zurücknahm.

Sei doch nicht so blind, Maria!", fuhr Simone mich an, „dieser Mann möchte dir das nehmen, was du am meisten liebst, und du stehst immer noch auf seiner Seite? Du musst dich entscheiden, wen du willst. Deinen Sohn oder deinen Mann." Da gibt es keine Entscheidung. Ich würde alles für Giacomo tun. Und trotzdem geht es mir dabei nicht gut. Es fühlt sich so richtig an, aber falsch zugleich.

Ungefähr zwei Stunden fuhren wir durch die Dunkelheit, bis wir schließlich in der Nähe eines kleinen Dorfes anhielten. Laut Simone war das Dorf verlassen, aber trotzdem brannten Lichter in den Straßen und Autos standen vor den Stadttoren. Wie groß war bloß die Gruppe von Anhängern, die Bernardo um sich geschart hatte?

Die letzten Meter mussten wir laufen. Es war eiskalt. Die Stadt wurde tatsächlich von Patrouillen bewacht. Während Matteo mit den Patrouillen am Stadteingang sprach, damit sie ihn als Elementträger einließen, kletterten Simone und ich unbemerkt über die niedrige Stadtmauer und versteckten uns zwischen den Häusern. Nur langsam schlichen wir uns zum Stadtkern vor.

Die meisten von Bernardos Leuten hatten sich auf dem Marktplatz versammelt, vor dessen hell erleuchteter Kirche Bernardo stand. Vor ihm knieten die zehn übrig gebliebenen Elementträger. Schwere Ketten lagen um ihre Hälse, die, wie Simone mir erklärte, die Macht der Elementträger unterdrücken. Neben Bernardo entdeckte ich Giacomo. Mit zerzausten Haaren und im Schlafanzug. Seine Kinderaugen blickten so unschuldig und verwirrt hin und her, dass es mir fast das Herz brach. Ich wäre bestimmt auf ihn zugerannt, hätte mich Simone nicht aufgehalten.

Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, doch in dem Moment ergriff Bernardo das Wort. Seine Stimme hallte beinahe unnatürlich laut über den Markplatz und seine Anhänger traten näher zu ihm.

Er hieß alle Anwesenden willkommen und erklärte von seiner Suche nach dem fünften Element. Dann zog er ein Tuch von dem Stein des fünften Elements, den er in der Hand hielt. Für einen Moment hielt ich erschrocken die Luft an. Der Schein der Straßenlaternen verfing sich in dem Stein und ließ ihn übernatürlich hell in allen Farben leuchten. „Wir brauchen nur noch das Blut der Elementträger, denn wie ich bereits nachgewiesen habe, besitzt ihr Blut besondere Kräfte. Es kann die Fähigkeit zu einem Element auf andere Menschen und Gegenstände übertragen. Dazu muss nur genügend Blut fließen."

Die letzten Worte gingen in dem begeisterten Geschrei seiner Anhänger unter, doch ich konnte sie trotzdem von seinen Lippen ablesen.

Für einen Augenblick fühlte ich mich allein in dem Schatten der kalten Februarnacht. Ängstlich griff ich nach Simones Hand. Sie war warm und zitterte nicht, im Gegensatz zu meiner. Mir kam es damals vor, als hätte er keine Angst.

Mit einem Messer tötete Bernardo den ersten der Elementträger. Ich konnte mich zum Glück noch rechtzeitig abwenden, um nicht länger Zeugin dieser Grausamkeit sein zu müssen. Aber trotzdem war es ein furchtbarer Moment. Meinen Schrei erstickte ich gerade noch so mit der Faust, aber einigen der Elementträger gelang das nicht so gut. Ich hörte Giacomo schreien und bis heute weiß ich nicht, was dann genau geschah. Ich erinnere mich nur an Bruchstücke, die ich versuche, zu einem Ablauf zusammen zu fügen.

Mit einem Aufschrei stürmte ich zwischen den Häusern hervor auf den Marktplatz. Ich spürte, wie sich alle zu mir umdrehten, eine Ansammlung aus weißen Gesichtern, die mich anstarrte. Was dann genau geschah, weiß ich nicht mehr. Ich rannte bloß so schnell ich konnte auf Giacomo zu, doch bevor ich ihn erreichte, versperrte mir Bernardo den Weg. Seine starken Arme umklammerten mich, aber nicht Hilfe und Trost spendend, sondern schmerzend und grausam. „Maria nicht, lass mich machen und alles wird gut. Ich verspreche es dir", schrie er mir zu, „ich kann dir einen neuen Sohn schenken." Einen neuen Sohn? Als könnte man Menschen, die wir lieben, einfach so ersetzen. In mir erkaltete alles. Ich dachte, unser Sohn sei ihm wichtig. Ich dachte, er liebte seinen Sohn. Aber er tat es nicht.

Ich schrie Giacomos Namen, er rief nach mir. Woher ich die Kraft nahm, Bernardo von mir fortzustoßen, weiß ich nicht mehr. Ich rannte auf Matteo zu und befreite ihn von der Kette, die um seinen Hals lag. Sofort benutzte er sein Element, um Bernardo auf Abstand zuhalten. Pflanzen und Steine sprossen aus dem Boden, doch ich hatte nur noch Augen für Giacomo. Ich ließ Matteo hinter mir, nahm Giacomo auf den Arm, um mit ihm zu fliehen. Dabei schrie er und ich bemerkte, dass um seinen Hals ebenfalls eine Kette lag. Schnell riss ich sie weg und rannte mit ihm davon. Plötzlich stand Simone vor mir. „Komm!", rief er und drängte mich in die Lücke zwischen zwei Häusern. Bernardo kämpfte sich bereits zwischen dem Gestrüpp, das Matteo aus dem Boden sprießen ließ, hervor und hechtete uns hinterher. Schüsse fielen, doch ich konnte nicht sagen, aus welcher Richtung sie kamen. Durch das Gassengewirr rannten wir davon. Schließlich standen wir vor der Stadtmauer. Simone half mir, sie zu erklimmen, dann gab er mir Giacomo auf den Arm, der wie am Spieß brüllte und weinte. Simone selbst konnte nicht mehr auf die Mauer klettern. Dazu war es zu spät.

Bernardo erreichte ihn, bevor er auch nur anfangen konnte, zu klettern. Ich ergriff einen der Steine, die auf der Mauer lagen und schleuderte ihn in die Tiefe. Wie durch ein Wunder traf er Bernardo am Kopf. Nicht sehr fest, aber fest genug, um Simone einen Vorteil zu verschaffen. Er überwältigte Bernardo und schaffte es, zu mir auf die Mauer zu klettern. Gerade rechtzeitig, denn hinter Bernardo erschienen seine Anhänger.

Maria nicht!", hörte ich Bernardo schreien, „gib mir Giacomo. Ich tue das alles doch nur für dich, für uns und für unsere Zukunft! Denk an meinen Professor. Er hätte nicht sterben müssen. Denk daran..." In diesem Moment drehte ich mich noch einmal zu Bernardo um, doch ich erkannte nicht den Mann, den ich liebte, sondern ein schreckliches Monster und das zerriss mir das Herz.

Es gibt Wichtigeres im Leben!", schrie er.

Was gibt es Wichtigeres als deine Familie?" Er war so eiskalt. Wie konnte ich ihn nur lieben? Hat er mich jemals geliebt? Oder hat er mir nur etwas vorgespielt? War ich für ihn letztendlich nur Mittel zum Zweck? Eine dumme, naive Frau, die einen Teil der Drecksarbeit für ihn erledigt.

Wir müssen springen!", rief Simone mir zu. Bevor wir sprangen, rief ich Bernardo zu: „Du tust mir leid." Das war das letzte, was ich zu ihm sagte. Dann sprangen wir. Ich mit Giacomo auf dem Arm. Zum Glück wuchs unterhalb der Mauer ein Gebüsch, das uns leicht abfederte. Trotzdem knickte mein Fuß um, doch das bemerkte ich erst viel später. Bis heute kann ich deshalb nicht richtig auftreten.

Wir schafften es bis zum Auto, aber wie genau, kann ich nicht mehr sagen. Nur einmal blickte ich zur Stadt zurück und was ich sah, ließ mich schaudern. Die Häuser standen in Flammen, dunkle Wolken bäumten sich am Himmel auf. Es sah so aus, als wäre es den anderen Elementträgern ebenfalls gelungen, sich von ihren Ketten zu befreien und nun kämpften sie gegen Bernardo.

Trotzdem weiß ich nun, dass es niemand von ihnen lebend aus der Stadt hinaus schaffte, auch Matteo nicht, Simones Schwager. Sie sind alle gestorben. Jeder einzelne von ihnen. Um Giacomo zu beschützen. Was aus Bernardo wurde, weiß ich nicht.

Nachdem das passiert ist, war der Geheimbund der Elemente ausgelöscht. Simone, Giacomo und ich sind untergetaucht unter falschen Namen. Simone möchte trotz allem, was passiert ist, nicht von meiner Seite weichen. Seine Sturheit überrascht mich, denn immerhin bin ich Schuld am Tod seines Schwagers. Das sieht er jedoch nicht so. Für ihn liegt die Schuld ganz allein bei Bernardo.

Letzte Woche war er zu Besuch bei seiner Schwester, der trauernden Witwe. Er hat mich gefragt, ob ich ihn begleiten möchte, aber ich brachte es einfach nicht über mich. Ich bin verantwortlich für den Tod ihres Mannes. Wie kann ich ihr da in die Augen schauen oder gar mir selbst?

Wenn Simone nicht wäre, würde ich glaube ich den Verstand verlieren.

Simone heitert mich auf. Jeden Tag zeigt er mir aufs Neue, dass mein Leben nicht sinnlos geworden ist, obwohl ich so viel von dem verloren habe, was mir einst wichtig war. Ich brauche ihn. Nur so können wir Giacomo beschützen und gegen Bernardos Anhänger bestehen, von denen es einige lebend aus der brennenden Stadt schafften und die wir die Cinquenti nennen.

Simone schlug vor, dass wir zum Weingut meiner Eltern in die Toskana zurückkehren und dort versuchen, ein neues Leben zu beginnen. Aber ich habe Angst. Um ins Leben zurück zu kehren müssten wir unsere Tarnung aufgeben. Aber es scheint der einzige Weg, um ohne Angst sein zu können. Oh Gott, bitte hilf mir!

Alles, was ich habe, sind Simone und Giacomo. Ohne sie wäre mein Leben sinnlos.

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