16. Wasser

Angespannt lege ich den Finger auf die Lippen, obwohl meine Schwester gar nichts gesagt hat. Vorsichtig lehnen wir uns vor und lauschen an der alten Haustür. Drinnen im Haus gibt jemand abscheuliche Geräusche von sich. Es kling wie ein Würgen und Spucken, aber gleichzeitig auch wie ein wütendes Fauchen.

„Mum?", frage ich besorgt, doch Kate schüttelt nur mit dem Kopf. „Sie ist im Restaurant", flüstert sie, als könnte uns jemand zuhören, „außerdem klingt das nicht wie ein Mensch."

Voller böser Vorahnungen öffne ich die Tür. Ein Schwall Wasser schwappt uns entgegen. Erschrocken schreit Kate auf, während ich verdattert stehen bleibe. Nach einem Moment nehme ich all meinen Mut zusammen und wate in den kleinen Fluss, der sich in unserem Flur angestaut hat. Winzige Wasserfälle fließen die Treppe, die nach oben führt hinunter.

Das Wasser im Flur reicht mir bis zu den Knöcheln, doch das ist noch nicht alles. Auch von der Decke und den Wänden tropft das Wasser. Alles ist nass. Manche Tapeten haben sich sogar schon gelöst. „Scheiße", fluche ich und versuche das Ausmaß der Katastrophe auszumachen. Hinter mir schliddert Kate ins Haus.

„Das ist ein Wasserrohrbruch", ruft sie mir zu. Ein Wasserrohrbruch. Wie kann sie sich da so sicher sein? Andererseits, was sollte sonst Schuld an dieser Katastrophe tragen? Na super! Dieser Wasserrohrbruch wird uns, wie es aussieht, das Obdach kosten. In meinem Magen entsteht ein ungebremstes Fallgefühl. Ich wusste es. Dieses bescheuerte alte Haus ist ja wohl mehr als baufällig. Ich atme ein paar Mal tief durch und überlege, was wir jetzt am besten machen.

„Wir müssen das Wasser abdrehen", stelle ich fest, „sonst hört das nie auf. Weißt du, wo der Haupthahn ist?"

„Im Keller." Kate schreit fast, so aufgewühlt ist sie. Ich bin ein bisschen verwundert, dass meine Schwester so etwas weiß, aber jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um nachzufragen. Sofort hasten wir auf die Kellertür zu. Dabei stolpert Kate und fällt hin. Schnell bin ich bei ihr und reiße sie wieder auf die Füße. Beinahe gleichzeitig erreichen wir die Tür und stoßen sie auf. Das Wasser fließt die Kellertreppe herunter und macht die Stufen glatt und rutschig. Um nicht hinzufallen, klammern wir uns am Geländer fest. Trotzdem verliere ich den Halt und segele die Stufen hinunter. Schmerzend reibe ich mir den Hintern, doch für mehr bleibt keine Zeit, denn im Keller reicht mir das Wasser bereits bis zu den Knien.

Zum Glück haben wir im Keller bis auf ein paar Umzugskartons nichts gelagert. So schnell wir können, kämpfen wir uns durchs Wasser zu der Wand, an der gleich drei Hähne hängen.

„Zur Hölle, welcher davon ist für das Wasser?", fluche ich.

„Der hier!" Kate zeigt zielsicher auf den rechten Hahn und beginnt dann, an ihm zu drehen. Ob das Wasser nun abgestellt ist, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall ebbt der Wasserfall auf der Treppe langsam ab. Erleichtert atme ich aus. Das ist schon mal geschafft, auch wenn sich die Katastrophe nicht leugnen lässt. Ein bisschen bin ich erstaunt über das Wissen meiner Schwester.

Plötzlich stößt Kate jedoch einen erschrockenen Aufschrei aus. Sie starrt entsetzt auf ihre Handflächen, die ganz nass sind, als würde sie Wasser in ihnen aufbewahren. Dann spüre ich, wie das Wasser, in dem wir stehen, langsam sinkt. Zuerst werden meine Knie wieder trocken, dann meine Unterschenkel und schließlich auch meine Füße. Die Härchen an meinen Unterarmen stellen sich auf. „Was...?" Die Frage bleibt mir im Hals stecken, denn das Wasser sinkt immer weiter in den Boden, bis der ganze Keller schließlich trocken ist.

Erneut setze ich zu einer Frage an: „Was...?", breche dann aber ab, als mein Blick auf Kate fällt. Sie ist blass und zittert. Entgeistert starrt sie auf ihre Hände und dreht sie vorsichtig im schwachen Licht. In unregelmäßigen Abständen schnappt sie nach Luft, bis ihr schließlich ein langgezogener Schrei entschlüpft.

„Kate!", rufe ich erschrocken und eile auf sie zu. Hoffentlich kippt sie nicht um. Sieht so aus, als stünde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

„Hey!" Ich reiße an ihren Schultern und ihr Schrei erstirbt. „Es ist alles okay!" Auch ich schreie fast, so sehr erschreckt mich das verschwundene Wasser. Noch mehr sogar, als der Schaden, den es verursacht hat. Es ist wie in einem Albtraum, in dem Dinge, die man nie für möglich gehalten hat und die man sich nicht erklären kann, plötzlich geschehen.

„Es ist alles gut. Ich hab keine Ahnung, was das eben war, aber wir finden das raus. Versprochen!" Behutsam lege ich einen Arm auf Kates Rücken, um sie nach oben führen zu können. Ohne Zweifel, es ist etwas Unerklärliches geschehen. Etwas, das gar nicht hätte passieren dürfen.

„Nini",  flüstert Kate mit dünner Stimme.

„Was denn?"

„Das mit dem Wasser, das war ich."

Ich streiche ihr über den Rücken und achte darauf, dass sie auf der Treppe nicht stolpert. „Das war ein Wasserrohrbruch, Kate. Du kannst nichts dafür."

„Das meine ich nicht. Ich habe das Wasser verschwinden lassen", gibt sie zurück. Am liebsten würde ich ihr widersprechen und ihr erklären, dass das gegen die Realität ist und deshalb niemals passiert sein kann. Aber ich habe es ja mit eigenen Augen gesehen. Kate hat das Wasser verschwinden lassen, so unmöglich es auch klingt. Verlieren wir jetzt beide den Verstand?

Im Erdgeschoss ist das Wasser ebenfalls getrocknet. Es hat nicht mal Schäden hinterlassen, bis auf die Tapeten, die immer noch auf dem Boden liegen und die verraten, was geschehen ist.

Ich führe Kate ins Wohnzimmer, wo ich sie erst mal in eine Decke einwickele. Dann gehe ich in die Küche, um ihr einen warmen Orangensaft zu machen. Als ich mit dem dampfenden Getränk zurückkomme, sitzt sie immer noch so da, wie ich sie verlassen habe. Trotzdem sieht sie auf, während ich über die Türschwelle trete. Gierig streckt sie die Hände nach der Tasse aus und testet mit dem Finger, wie warm der Saft ist. Mit einem überraschten „Oh!" zieht sie die Hand wieder zurück.

„Was ist?", frage ich und beuge mich über ihre Schulter. Gerade noch rechtzeitig, um zu erkennen, dass der vor wenigen Sekunden noch heiße Saft mit einer Eisschicht überzogen ist, die kurz darauf auch schon wieder schmilzt. „Was ist?", wiederhole ich mich, ohne jedoch ernsthaft eine Antwort auf diese Frage zu erwarten. Daraufhin zuckt sie nur mit den Schultern.

„Wie hast du das gemacht?", frage ich erstaunt. Ohne Zweifel, das mit dem Eis war meine Schwester. Sie hat den Saft eingefroren, so wie sie das Wasser im Haus verschwinden ließ.

„Na so!", behauptet Kate und dreht die Hand ein bisschen, woraufhin der Saft in einer vertikalen Säule aufsteigt und auf den Boden platscht.

„Sorry... ich kann mir nicht so wirklich aussuchen, wann etwas geschieht und wann nicht oder was geschehen soll. Da war schon immer so eine Verbindung zwischen mir und dem Wasser. Ich hab mich im Meer oft wohler gefühlt als an Land, aber so richtig intensiv ist es erst, seit wir wieder in Italien sind", sprudelt es aus ihr heraus.

Das hört sich verrückt an. Eine Verbindung zwischen Kate und dem Wasser? Niemals!

Aber es ist wahr. Nichtsdestotrotz würde das wohl kein Mensch glauben. Auch ich würde denken, Kate lügt, wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wozu sie fähig ist. Auf einmal bekomme ich ein bisschen Angst vor meiner Schwester. Niemand kann das Wasser kontrollieren. So etwas sollte es eigentlich gar nicht geben.

Es sei denn... „Die Legenden von Pergula sind wahr!", rufe ich erstaunt aus.

„Das ist nur eine Geschichte", meint Kate und ich glaube, ein bisschen äfft sie mich nach.

„Es ist die einzige Erklärung, die wir haben", erwidere ich, „wir stammen von einem der vier Kinder hab, denen Podoeri die Fähigkeit geschenkt hat, über Elemente zu herrschen."

„Von demjenigen, der Wasser als Element hatte", meint Kate.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand aus der Peterson Familie der Nachfahre von Sagengestalten ist", gebe ich zu bedenken.

„Vielleicht hat es was mit Dad zu tun." Kates Augen leuchten begeistert auf, doch ich schüttele energisch den Kopf. Wie immer jagt mir das Wort Dad einen Schauer über den Rücken. Selbst wenn ich wollte, ich könnte niemanden als meinen Vater bezeichnen. „Lass unseren Erzeuger da raus", sage ich und sehe meiner Schwester dabei fest in die Augen, „laut den Legenden überspringt die Fähigkeit zur Kontrolle über ein Element... oder wie auch immer du das nennen willst... manchmal Generationen. Wir werden vermutlich nie erfahren, von wem du es hast."

„Aber...", beginnt Kate. Dann verstummt sie jedoch und sieht in ihre leere Tasse. In diesem Moment tut sie mir so unglaublich leid. Selbst wenn sie schon immer gespürt hat, dass da eine besondere Verbindung zwischen ihr und dem Wasser ist, ist es für sie bestimmt nicht leicht, mit der neuen Situation umzugehen. Schließlich erfährt man ja nicht jeden Tag, dass man die Kontrolle über eins der vier Elemente in sich trägt.

„Komm her!", weise ich sie an und nehme meine kleine Schwester in den Arm. Noch immer zittert sie. „Ich bin ein mega komischer Freak, oder?" Ihre Stimme schwankt leicht und ich habe das dringende Gefühl, sie beruhigen zu müssen. „Nein, das bist du nicht. Du kannst bloß etwas, das andere nicht können. Es gibt bestimmt auch Leute, die neidisch sind auf dich", versuche ich, sie zu beschwichtigen. Doch so einfach lässt sich Kate nicht überzeugen.

„Ach echt?", erwidert sie trocken, „ich glaube nicht. Wer denn?"

„Naja, jeder wünscht sich doch ein bisschen, Superkräfte zu haben. Stell dir mal vor, was du damit alles machen kannst. Du kannst Leute ärgern, ohne dass sie dich für den ganzen Schabernack verantwortlich machen. Oder du kannst Leben retten, so wie das von Stella", beginne ich. Es gibt so viel, was man mit der Kontrolle über Wasser anstellen kann. Aber um ehrlich zu sein, beunruhigt mich diese Fähigkeit auch mehr, als ich mich darüber freue. Trotzdem müssen wir versuchen, das Beste aus dieser Tatsache zumachen.

„Denkst du, es kann jetzt einfach ganz normal weiter gehen?", fragt Kate.

„Ja, das denke ich", antworte ich ehrlich, „dein Leben verändert sich zwar dadurch, dass du diese besondere Fähigkeit hast, aber das schränkt dich ja nicht ein. Du kannst trotzdem noch ganz normal schwimmen gehen, im Regen spazieren und was man sonst noch so alles mit Wasser macht."

„Das hoffe ich wirklich", meint Kate, doch als sie mich ansieht wirkt sie um einiges zuversichtlicher. Außerdem hat sie aufgehört zu zittern.

„Ja, und zu aller erst sollten wir versuchen, mehr über deine Kräfte herauszufinden", beschließe ich.

„Und wie?"

„Mit Marias Tagebuch. Wie sonst?" Seufzend umarme ich Kate noch ein bisschen fester. Was auch immer passiert, sie ist mit den übernatürlichen Kräften, die sie besitzt, nicht allein. Zusammen werden wir herausfinden, wie wir jetzt am besten vorgehen können.

„Aber ich denke, das sollte unser Geheimnis bleiben, oder?", frage ich.

„Natürlich." Kate sieht mich ernst an. „Wenn das jemand herausfindet, denken die Leute entweder, dass wir verrückt sind oder sie missbrauchen mich als Versuchskaninchen oder so was."

„Außerdem haben Menschen manchmal eine sehr grausame Einstellung gegenüber Dingen, die sie nicht kennen", gebe ich zu bedenken. Sofort muss ich an Hexenverfolgungen im Mittelalter denken. Selbst wenn Kate in diesem Zeitalter mit Sicherheit nicht auf dem Scheiterhaufen landet, wird sie trotzdem zum Außenseiter, sollte jemand etwas von ihrem sonderbaren Talent erfahren.

Zudem gibt es laut Marias Tagebuch noch Bernardo Falcini, der alle Elementträger eliminieren möchte. Wie genau Marias Geschichte weitergeht und ob Falcini heute noch lebt oder eine Gefahr darstellt, weiß ich nicht, aber ich möchte es darauf nicht ankommen lassen.

„Also haben wir jetzt noch ein Schwesterngeheimnis", meint Kate ernst und streckt mir ihre Hand entgegen.

„Schwesterngeheimnis", antworte ich und schlage bei ihr ein.

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