14. Die Legenden
Die Legenden von Pergula, über die es keine auch nur so winzig kleine Information im Internet gibt und ohne die man Maria Veccas Tagebuch nicht versteht. Die Legenden, nach denen Kate und ich suchen.
„Ja, hab ich. Aber das dürfte dich kaum interessieren. Es ist ja nur Lügenmärchen, das mir meine Eltern erzählt haben, die übrigens, so wie ich, ganz schön einen an der Klatsche haben müssen", entgegnet Lucca und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Tut mir echt leid, dass ich das gesagt habe", nuschele ich. Wenn ich Lucca jetzt nicht davon überzeugen kann, dass ich meine Worte von damals bereue, wird er mir nicht verraten, was es mit den Legenden von Pergula auf sich hat. Falls er überhaupt etwas Brauchbares darüber weiß.
„Ach schon gut. Tut mir auch echt leid, dass ich teilweise so gemein war", entschuldigt er sich. Ja, das kann er laut sagen.
Grinsend streckt er mir seine Hand entgegen. „Neuanfang?", fragt er. Obwohl ich weiß, dass das nicht möglich ist, da in meinem Kopf bereits ein erster Eindruck von ihm existiert und ich vermutlich schon voll von Vorurteilen bin, schlage ich bei ihm ein. „Neuanfang", erwidere ich.
Beim Händeschütteln fällt mir erneut auf, dass sich seine Haut ganz rau und runzelig anfühlt. So wie die eines alten Mannes. Vorsichtig schiele ich auf seine Hand hinab. Die Haut an den Fingern ist aufgeplatzt und faltig. Außerdem zieht sich ein langer Kratzer über seinen Handrücken, dessen verkrustetes Blut in der Abendsonne glänzt. Wo er sich den wohl zugezogen hat? Vermutlich bei der Rettungsaktion heute.
„Also, die Legenden von Pergula...", sagt Lucca und reißt mich damit aus meinen Gedanken, „das interessiert dich also?"
„Ein bisschen", gestehe ich.
„Woher kennst du die Legenden von Pergula?"
„Ich kenne sie gar nicht. Das klingt nur irgendwie spannend", lüge ich. Von Maria Veccas Tagebuch möchte ich ihm nicht erzählen. Kate und ich haben einander schließlich versprochen, dass das unser gemeinsames Geheimnis bleibt.
„Also hast du nicht irgendwo davon gelesen? Bei dir zu Hause vielleicht?" Klingt so, als wüsste er von dem Tagebuch. Aber woher denn? Etwa von Kate? Ich stelle mich dumm.
„Nein. Weshalb denn?"
„Ach, nur so." Nur so, das ist ein Ausdruck, den die Leute oft benutzen, wenn sie etwas zurückhalten. Ich bin also nicht die Einzige, die hier etwas verheimlicht. Lucca erzählt mir auch nicht die volle Wahrheit. Zu gerne wüsste ich, was er mir nicht verrät und weshalb er scheinbar über das Tagebuch Bescheid weiß. Aber wichtiger sind die Legenden. Außerdem braucht jeder Mensch seinen Freiraum für Geheimnisse.
„Okay", sagt er, zieht eine Packung Malboros aus seiner Hosentasche, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. Ich will schon heftig protestieren, aber ich beiße mir auf die Zunge.
„Es war einmal vor langer, langer Zeit..." Na super, fängt das jetzt an wie ein Märchen? „zur Zeit von Augustus oder Nero oder Konstantin oder wie die alten römischen Kaiser auch immer heißen."
„Das muss man schon wissen. Zwischen Augustus und Konstantin liegen ein paar Jahrhunderte", werfe ich ein und verschränke besserwisserisch die Arme.
„Nein, es ist eine Legende, da weiß man so etwas nicht hundertprozentig", erklärt Lucca, „außerdem ist das egal. Wichtig ist nur, dass die Geschichte sich zur Zeit des römischen Imperiums abspielte. Also, das Mädchen Pergula lebte mit ihren Eltern in einer kleinen Hafenstadt am Meer."
„Wie hieß sie?", frage ich. Ein Grinsen kann ich mir dabei nicht verkneifen. Pergula. Das ist doch kein Name! Ich kann es einfach nicht ändern, Legenden und Mythen amüsieren mich jedes Mal aufs Neue. Es fällt mir unglaublich schwer, sie ernst zu nehmen. Dabei verraten sie eigentlich so viel über die Menschen, die vor mehr als 2000 Jahren lebten, von ihrer Art, zu denken und sich Dinge zu erklären.
„Du bringst mich aus dem Konzept", beschwert sich Lucca, „so kann ich dir das nicht erzählen."
„Sorry", nuschele ich, aus Sorge, er könnte sich plötzlich doch dazu entscheiden, mir nicht zu verraten, was es mit den Legenden von Pergula auf sich hat. Ich nehme mir vor, ihn ab sofort nicht mehr zu unterbrechen.
„Okay. Also noch mal. Vor langer, langer Zeit lebte das Mädchen Pergula mit ihren Eltern und ihrem Verlobten Podoeri in einer Stadt am Meer." Podoeri. Am liebsten hätte ich wieder gelacht, aber ich verkneife es mir unter größten Anstrengungen. „Sie war wohlhabend, gebildet und glücklich. Ihr fehlte es an nichts. Doch dann kam der Krieg über das römische Imperium und ihr Verlobter Podoeri sollte als Heerführer in die Schlacht ziehen.
Beide wussten nicht, ob sie einander jemals wiedersehen würden und so gab Podoeri der jungen Pergula am Abend vor seiner Abreise das Versprechen der Ehe. Der armen Pergula brach es deshalb natürlich noch mehr das Herz, Podoeri einfach so gehen zu lassen.
Podoeri kämpfte währenddessen jeden Tag heldenhaft in neuen Schlachten gegen die Feinde des römischen Imperiums. Er schlug beinahe jeden Widersacher und nur ganz selten wurde ein Kampf unter seinem Kommando verloren.
Es sah auch ganz so aus, als würde Podoeri seine Mission innerhalb von kürzester Zeit erfolgreich vollenden und seine Braut endlich wieder in die Arme schließen können, doch dann besann sich der Gegner Podoeris, ein mächtiger und schlauer Heerführer einer besonderen List. Er suchte Pergula auf, die Liebste des Heerführers Podoeri, die ihm alle Kraft gab, weiterzukämpfen und tötete sie.
Der Plan des Heerführers ging auf. Sobald Podoeri von Pergulas Tod erfuhr, zog er sich zurück und gab den Krieg auf. Die Armee wurde geschlagen und zurückgedrängt. Der trauernde Podoeri kehrte in sein Heimatdorf zurück und verbrachte dort die letzten Jahre seines Lebens. Die Trauer über Pergula hat er nie überwunden und erst als er schon ein alter Mann war, erfuhr er, dass sein ehemaliger Gegner seine Geliebte getötet hatte, um ihn zur Kapitulation zu zwingen.
Da entbrannten alte Rachegefühle in Podoeris Brust und er schwor seiner Pergula Vergeltung. Deshalb berief er sich auf eine alte Legende, die zu seiner Zeit ziemlich weit verbreitet war, an die sich aber heute so gut wie niemand mehr erinnert. Diese Legende besagt, dass die Urkräfte Feuer, Wasser, Erde und Luft, also die vier Elemente, nebeneinander im Gleichgewicht existierten. Doch eines Tages wurde das Gleichgewicht gestört und die vier Urkräfte prallten aufeinander. An dem Ort, an dem sie aufeinandertrafen, entstanden die Erde und all das Leben auf ihr.
Also machte sich Podoeri auf die Suche nach diesem Ort und als er ihn gefunden hatte, nahm er vier Kinder aus seinem Dorf mit dorthin, um mittels eines magischen Rituals die Kräfte der vier Elemente auf die Kinder zu übertragen. Sobald das getan war, zog Podoeri erneut gegen den Heerführer in die Schlacht, der ihm so viel Leid zugefügt hatte, die vier Kinder an seiner Seite. Mit den Kräften ihrer Elemente gelang es Podoeri, den Heerführer zu töten. Seine Rachepläne waren erfüllt. Doch Podoeri war trotzdem nicht zufrieden. Er wollte mehr. Nun, da er gesehen hatte, wozu die Kräfte der vier Kinder im Stande waren, schmiedete er Pläne, seine Macht auszuweiten. Also begann er, die Kinder zu benutzen und mordete, log, schmeichelte, beeinflusste und intrigierte. Alles, um seinen Kummer um Pergula zu verdrängen und die Leere in seiner Brust zu füllen, die seine Rache nicht hatte tilgen können. Dabei stellte Podoeri fest, dass durch sein magisches Ritual nicht nur eine übernatürliche Kraft auf die Kinder übergetreten war, sondern auch auf ihn. Die Kraft des fünften Elements, die mächtiger ist, als die aller vier zusammen und die aus dem Zusammenstoß von Feuer, Wasser, Erde und Luft entstanden ist.
Er wurde noch grausamer und gewalttätiger, sodass sich die vier Kinder von ihm abwandten und sich vor ihm versteckten, aus Angst, er könnte sie weiterhin benutzen. Da sah Podoeri ein, wie machtsüchtig er geworden war und dass er sein ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren hatte. Zudem wurde ihm klar, dass nichts auf der Welt, kein Reichtum und keine Macht oder Grausamkeit, ihn jemals den Verlust seiner Geliebten vergessen lassen könnte.
Diese Einsicht traf ihn zutiefst, sodass er sich das Leben nahm. Vor seinem Tod verwandelte er sein Herz jedoch in einen Stein und schnitt ihn sich aus der Brust, damit ein Bruchteil seiner Macht erhalten blieb. Diese Macht war nun ebenbürtig mit den vier, die ihn verlassen hatten. Aber nur derjenige, der diesen Stein besitzt, kann die Macht des fünften Elements auch anwenden.
Während Podoeri kaum etwas von sich auf der Welt hinterließ, lebten die vier Kinder über die ganze Welt verstreut, aber glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Die Elemente, die sie in sich trugen, traten zwar nicht in der nächsten Generation, aber sehr wohl in der übernächsten Generation als Erbe auf. So wurde die Kraft, zur Kontrolle eines Elementes in manchen Familien bis heute weitergegeben."
~
„Kate!" Sobald ich zu Hause bin, stürze ich die Treppe zum Zimmer meiner Schwester hoch. Unseren Streit habe ich beinahe in den hintersten Winkel meiner Gedanken verbannt. Ruckartig reiße ich die Zimmertür auf und erschrecke mich selbst bei dem lauten Geräusch. Auch Kate zuckt zusammen und rutscht seitlich von ihrem Schreibtischstuhl, auf dem sie noch vor wenigen Sekunden im Schneidersitz gesessen hat. Dabei wirft sie die Stifte, die sie in der Hand gehalten hat, zu Boden. Sie kullern direkt vor meine Füße.
Ich bücke mich, um sie aufzuheben und trete dann an Kates Schreibtisch heran. Ich habe sie beim Malen unterbrochen. Auf einem Blatt Papier wirbeln die Farben blau, grün, schwarz und weiß durcheinander. Ohne Zweifel erkenne ich, was aus den Farbstrichen mal werden soll. Das wilde, ungezähmte Meer.
„Was willst du hier?", faucht Kate mich an, „verschwinde! Raus aus meinem Zimmer!" Im Nu ist sie auf den Beinen und umklammert meinen Arm, um mich auf den Flur zu ziehen.
„Kate, hör auf damit, ich muss dir was Wichtiges sagen...", beginne ich, doch da werde ich schon von ihr unterbrochen.
„Es ist mir scheißegal, was du mir sagen willst, ich will meine Ruhe haben!"
„Ich kenne jetzt die Legenden von Pergula!", platzt es aus mir heraus, bevor sie mir wieder ins Wort fallen kann. Es dauert einen Augenblick, bis sich ihr wütender Gesichtsausdruck in einen erstaunten verwandelt.
„Was?", fragt sie ungläubig.
„Ja." Vorsichtig schiebe ich ihre Hände von meinem Arm und setze mich auf die Kante ihres Bettes. Dann beginne ich ohne Umschweife zu erzählen, was ich soeben von Lucca erfahren habe. Die Geschichte beende ich genau wie Lucca mit den Nachfahren der Elementträger, die angeblich heute noch leben. Danach herrscht erst mal Stille und immer noch Verblüffung auf Kates Gesicht.
„Hm", überlegt sie, mehr sagt sie jedoch nicht. Mit angehaltenem Atem warte ich auf ihre Reaktion. Die zögert sie jedoch so lange heraus, bis ich schon fast wieder nach Luft schnappen muss.
„Denkst du, dass das wahr ist?", will sie wissen. Ihre Stimme schwankt vor Unsicherheit.
„Nein, es ist nun mal eine Legende. Aber wenigstens hilft sie uns, Maria Veccas Tagebuch zu verstehen." Denn darum geht es doch, dass wir den Inhalt des geheimnisvollen Tagebuchs, das wir gefunden haben, ein bisschen besser verstehen. Aber Kate wirkt enttäuscht von meiner Antwort. „Achso... ja... das..."
„Was denn sonst?", frage ich voller Euphorie, „los! Komm, lass uns weiterlesen!" Jetzt bin ich diejenige, die ihre Schwester raus auf den Flur ziehen will. Doch Kate schüttelt nur den Kopf. „Nein, ich habe keine Lust zu lesen, ich bleibe lieber hier", beharrt sie.
„Ist alles in Ordnung?" Eigentlich habe ich erwartet, dass sie sich von meinem Elan anstecken lässt. Was Maria Veccas Tagebuch betrifft, war sie immer etwas euphorischer als ich.
„Ja, das war mir heute nur alles ein bisschen zu viel. Du weißt schon mit dem Badeunfall und so", gesteht sie. Meine arme Schwester! Natürlich ist der Tag nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Auch für sie muss Stellas Anfall ein ganz schöner Schock gewesen sein. Klar, dass sie ihre Gedanken erst einmal ordnen muss.
„Soll ich dir was zum Essen oder Trinken bringen?", will ich wissen.
„Danke, das ist mega lieb, aber wenn ich was brauche, hole ich mir das selbst."
„Ist wirklich alles in Ordnung?" Irgendwie bereitet es mir Sorgen, Kate so blass und müde zu sehen. Andererseits war das wirklich ein ziemlich anstrengender Tag. Ich bin dahingegen noch vollkommen rastlos. Für einen Moment kommt es mir vor, als hätten wir die Rollen getauscht. Sie ist ruhig und zurückgezogen, während ich vor Energie koche.
„Ja, ja", wimmelt sie mich ab.
„Melde dich, wenn du was brauchst!" Seufzend gehe ich zur Tür und schließe sie leise hinter mir. In ein paar Stunden werde ich noch mal nachsehen, wie es ihr geht. Bis dahin aber lese ich ein bisschen in Maria Veccas Tagebuch.
Freitag, 25. Januar 1957
Die Stunde mit Bernardo und seinem Professor war seltsam. Die Legenden sind wahr! Ich sah es mit eigenen Augen! Sie sind tatsächlich wahr.
Anders kann ich mir die Experimente nicht erklären, die sie durchführten. Es ist die pure Magie. Bernardo kann Wasser aus dem Nichts heraufbeschwören und das Feuer, das sein Professor herbeizaubert damit löschen. Sogar ich kann etwas derart Unnatürliches, nämlich Luftströme durch den Raum schicken. Kleine Windböen, die gutgeordnete Dokumente durcheinander bringen.
Fehlt nur noch die Kraft der Erde, dann sind wir komplett. Zumindest wenn man von den Kräften mit Artefakten absieht. Die wirklichen, echten Elementträger verstecken sich da draußen. Irgendwo auf dieser Welt. Bernardo und sein Professor erzählten mir von dem Geheimbund der vier Elemente. Vielleicht finden wir die Elementträger ja dort.
Auf einmal ergibt alles einen Sinn. Naja , zumindest das Meiste. Manche Sachen bleiben rätselhaft. So kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, was die Artefakte sein sollen, von denen Maria schreibt. Aber sonst wird eigentlich alles klar. Maria, ihr Angebeteter Bernardo und sein Professor besitzen jeder die Macht, eines der vier Elemente zu kontrollieren. Was folglich bedeuten muss, dass die drei von einem der vier Kinder abstammen, auf die Podoeri laut der Legende die Kraft, die Elemente zu kontrollieren übertrug. Sofern ich Lucca richtig verstanden habe. Obwohl ich nicht glauben kann, dass das alles tatsächlich der Wahrheit entspricht, hilft es mir doch, zu verstehen, was Maria geschrieben hat.
Montag, 04. März 1957
Das mit den Elementen ist wirklich eine große Sache. Ich hätte niemals gedacht, dass so viele Menschen daran beteiligt sind. Zuerst nahm ich an, dass nur Bernardo und der Professor die Wahrheit hinter den Elementen entdeckten, doch nun weiß ich, dass es eine Gruppe gibt, die sich der Geheimbund von Pergula nennt. Dieser Geheimbund hat bereits vor vielen Jahrhunderten herausgefunden, dass Menschen die Fähigkeit zur Kontrolle über Elemente besitzen und besteht hauptsächlich aus Elementträgern, also Menschen, die ohne magische Artefakte, Elemente kontrollieren können.
Magische Artefakte sind Schmuckstücke oder andere alltägliche Sachen, die mit der Kraft eines Elementträgers aufgeladen wurden. Folglich können alle normalsterblichen Menschen mit diesen Werkzeugen Elemente kontrollieren. So wie Bernardo, sein Professor und ich. Nur sind unsere Fähigkeiten nicht so stark und präzise wie die der Elementträger.
Gemeinsam mit dem Professor, Bernardo und anderen Wissenschaftlern will der Geheimbund der Elemente herausfinden, wie die Kontrolle zu einem Element vererbbar ist. Angeblich gibt es bestimmte Faktoren, die diese Ausprägung beeinflussen.
Seit zwei Wochen bin ich ein Teil dieses Geheimbundes. Das Studium habe ich aufgegeben und kümmere mich nun offiziell als Sekretärin um die Forschung von Bernardo und dem Professor.
Um ehrlich zu sein, meine Arbeit gefällt mir sogar besser als alle meine Vorstellungen des Lehrberufes. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie ich auf die Idee gekommen bin, Lehrerin zu werden. Das ist doch alles nutzlos im Gegensatz zu dem, was ich jetzt weiß. Die Elementträger besitzen die Fähigkeit, die Technik zu revolutionieren. Es gibt so viele Möglichkeiten, anderen zu helfen und die Menschheit voranzubringen. In ein paar Jahren schon plant der Geheimbund an die Öffentlichkeit zu gehen und all diese wunderbaren Kenntnisse der Welt mitzuteilen. Wir könnten kostenlos Strom produzieren, Hunger und Durst ausrotten, Frieden schaffen, Krankheiten heilen.
Zuerst jedoch müssen wir jeden Elementträger finden, was nicht unbedingt einfach ist, da sie über die ganze Welt verteilt sind. Manche kennen nicht einmal die Legenden und wissen nicht von dem Geheimbund. Sie sind ganz alleine mit ihrer besonderen Fähigkeit. Manchmal werden sie sogar dafür verfolgt. Deshalb sind wir diejenigen, die sie aufspüren müssen und ihnen ihre Bedeutung für das Schicksal der Menschheit erklären müssen.
Zu diesem Zweck werden der Professor, Bernardo und ich im nächsten Monat nach Paris reisen, wo eine Elementträgerin lebt.
Montag, 15. April 1957
Oh mein Gott, mein Herz ist so voll. Meine Wangen glühen jetzt noch bei dem Gedanke an gestern Nacht. Es war so wunderbar. Viel besser, als ich es mir immer vorgestellt habe.
Paris ist eine wunderschöne Stadt. Wir sind vor zwei Tagen hier angekommen und ich muss sagen, alles, was ich sehe, begeistert mich. Die großen, hellen Gebäude, die Seine, der Eiffelturm und der Louvre. Paris ist eine Stadt voll von Helligkeit, Licht und Lebensgeist. Hier ist es laut, lebendig und hell.
Wir haben uns mit Amélie und ihrem Vater getroffen. Vor einiger Zeit hat der Geheimbund der Elemente Kontakt zu ihnen aufgenommen, weil sich in ihrer Nähe immer wieder übernatürliche Phänomene ereigneten.
Sie ist ein schüchternes Mädchen. Siebzehn Jahre alt. Ihr Vater empfing uns in einer Villa außerhalb der Stadt, dankbar, dass wir uns des Problems annehmen würden, das viele Ärzte nicht in den Griff bekommen haben.
„Unsere Wohnung in der Stadt ist abgebrannt", erklärte er mit bedauernder Stimme, „sie hat es nicht unter Kontrolle." Solange ihr Vater dabei war, traute sich Amélie kaum ein Wort zu sagen. Erst als sie uns anbot, uns ihre Sammlung von Zeichnungen zu zeigen, wir allein in ihrem Zimmer waren und die feinen Bleistiftstriche bewunderten, die sie zu Papier gebracht hatte, wurde sie gesprächiger. So richtig offen war sie aber erst, als sie und ich alleine durch den wunderschönen Garten schlenderten, der direkt an das Haus grenzt. Das, was ich sah, konnte ich im ersten Moment selbst nicht glauben. Diesem Mädchen gelang es tatsächlich, mit bloßen Händen, eine Flamme zu produzieren, die sie selbst nicht verbrannte. Ohne Zweifel, sie ist eine Trägerin des Elements Feuer. Das musste ich natürlich sofort Bernardo und dem Professor erzählen.
Wir verabschiedeten uns von Amélie und ihrem Vater mit dem Versprechen, am nächsten Tag wieder zu kommen. Nach diesem erfolgreichen Besuch, gingen Bernardo und ich etwas essen, während der Professor ins Hotel zurück ging.
Jedes Mal, wenn ich in Bernardos Augen sehe, wird mir etwas wärmer zu Mute und dann auch noch das Lächeln und die Grübchen, die sich leicht gegen seine Wangenknochen schmiegen, diese Handbewegung, mit der er sich manchmal das Haar aus dem Gesicht streicht. Er ist einfach unglaublich. Und er hat mich geküsst, womit ich niemals gerechnet hätte. Und beim Küssen allein ist es nicht geblieben. Wir haben uns geliebt. Auf seinem Hotelzimmer. In dem Moment habe ich vollkommen ihm gehört und mich nur ihm hingegeben. Auch er muss es gespürt haben, denn er hat seinen Mund ganz nah an mein Ohr geführt und geflüstert: „Du bist wie Wachs in meinen Händen."
So verformbar, so unselbstständig. Und trotzdem war es schön. Nur er und ich. Es war berauschend. Als hätte ich zu viel von einem guten Wein aus dem Keller meines Vaters getrunken. Und ja, ich bin betrunken. Betrunken vor Liebe. Süchtig bin ich noch obendrein. Hätte es mich schlimmer erwischen können?
Heute besuchen Bernardo und der Professor noch einmal die junge Amélie, doch ich habe mich dazu entschlossen, diesmal nicht mitzukommen. Mein Kopf muss erst mal wieder klar werden. Ich bin noch viel zu benebelt.
Sonntag, 23. Juni 1957
Ich habe es geahnt. Schon vor vier Wochen wusste ich es, doch ich wollte es nicht wahrhaben, deshalb habe ich es verdrängt. Ich bin schwanger. Von Bernardo. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich so schlecht. Wir sind nicht verheiratet und erst seit Kurzem zusammen. Was soll ich denn jetzt machen?
Vorgestern stand in der Zeitung, dass Amélie vermisst wird. Soll ich dieser Neuigkeit etwas mehr Bedeutung anmessen? Was hat das zu bedeuten?
Interessant. Also sollten die Elemente die Welt verbessern. Vorausgesetzt, sie existieren. Da die Tagebucheinträge Ende der fünfziger Jahre verfasst wurden, nehme ich an, dass irgendetwas schief gelaufen ist. Laut Maria wollte der Geheimbund schon bald an die Öffentlichkeit gehen und somit das Leben aller Menschen erstaunlich verbessern. Doch das haben sie nie getan. Warum auch immer das nicht geklappt hat, vielleicht ist das der Grund dafür, dass es keinerlei Informationen zu den Legenden von Pergula gibt.
Dieser Gedanke erschreckt mich, doch gleichzeitig werde ich neugierig. Was auch immer damals, vor fast sechzig Jahren, vorgefallen ist, ich will es herausfinden. Dazu gibt es, wie es aussieht, nur einen Weg: Das Tagebuch lesen.
Auf die Seite des Eintrags vom 23. Juni 1957 sind mehrere Zeitungsartikel geklebt. Sie sind alle auf Französisch und berichten davon, dass die siebzehnjährige Amélie Dupont seit dem sechzehnten April 1957 als verschollen gilt. Der sechzehnte April, ein Tag nachdem Maria, Bernardo und deren Professor sie besucht haben. Ein wirklich seltsamer Zufall.
Aber Maria Vecca schien sich 1957 recht wenig darum zu kümmern angesichts der Tatsache, dass sie schwanger war. Was ja auch durchaus verständlich ist. So ein Kind verändert das ganze Leben von Grund auf. Wen interessieren da noch Elementträger und Geheimverbände?
Die nächsten Einträge überfliege ich, da sie allesamt von Morgenübelkeit, Schwindel, einem Ziehen im Bauch und Zwischenblutungen handeln. Schließlich wurden Marias Beschwerden immer schlimmer und bei ihr wurde eine Hyperemesis gravidarum diagnostiziert, ein übermäßiges Erbrechen in der Schwangerschaft. Das schien Maria ziemlich zu belasten und ihre Gedanken handeln nur noch von der Schwangerschaft und der bevorstehenden Geburt. Doch dann taucht Amélie Duponts Name unvermittelt wieder auf.
Montag, 01. Juli 1957,
Nachdem mich letzte Woche ein Schwächeanfall zu Hause und im Bett gehalten hat, bin ich heute wieder zur Arbeit gegangen. Erfreut, Bernardo wieder zu sehen, jedoch auch ängstlich. Mein Bauch ist mittlerweile so sehr angeschwollen, dass ich ihn unter meiner Bluse nicht länger verstecken kann. Ein paar Wochen vielleicht, aber dann fliegt alles auf. Ich hatte das Gefühl, dringend mit Bernardo reden zu müssen. Doch zuerst ging ich meiner Arbeit nach und heftete ein paar Seiten für Bernardo ein. Ich schenkte ihnen keine besondere Bedeutung, doch dann streiften meine Augen den Name Amélie Dupont. Die Elementträgerin aus Frankreich. Hinter ihrem Namen war ein Dreieck notiert, dessen Spitze nach oben zeigt, das Zeichen des Feuers, und außerdem noch ein Datum. Der 16. April 1957, der Tag, an dem wir aus Paris abreisten und an dem sie angeblich verschwand.
Neugierig geworden suchte ich nach der Überschrift dieser Blättersammlung und fand sie auf der Rückseite. Eliminierung der Träger stand dort. Vor lauter Schreck ließ ich das Papier fallen. Und das war der Moment, in dem Bernardo ins Zimmer kam. Sofort fragte er mich, ob denn alles in Ordnung sei, doch dann entdeckte er das Blatt auf dem Boden.
„Hast du das gelesen?", wollte er daraufhin mit veränderter, harter Stimme wissen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu bejahen. Im Lügen bin ich grauenhaft. Außerdem wollte ich wissen, was es mit der Eliminierung der Träger auf sich hatte. Lebte Amélie noch oder hatte man sie umgebracht?
Darauf wollte mir Bernardo keine rechte Antwort geben. Alles, was er sagte war: „Maria, nichts ist so, wie du denkst."
„Also habt ihr Amélie gar nicht verschwinden lassen?", fragte ich angriffslustig.
„Doch, das schon. Aber du verstehst es nicht. Die Elemente müssen vernichtet werden." Und so berichtete Bernardo von dem fünften Element und dass es, sollte man tatsächlich den Stein finden, der laut den Legenden von Pergula das Herz Podoeris ist und der ein Teil der Magie des fünften Elements enthält, viel besser in der Lage sei, alle Krankheiten und Gebrechen zu heilen, als die vier Elemente.
„Die vier Elemente stehen uns nur im Weg", erklärte Bernardo, „es tut mir in der Seele weh, aber wir müssen die Elementträger beseitigen, denn sonst werden wir niemals in der Lage sein, die Macht des fünften Elements zum Wohl der Menschheit zu benutzen. So lange es Menschen gibt, die über die vier Elemente herrschen, wird sich die wahre Macht des fünften niemals entfalten. Was sind also schon ein paar Menschenleben, wenn wir dadurch so viele mehr retten können?"
Da musste ich einsehen, dass er Recht hatte. Der Geheimbund von Pergula hat das Wohl der ganzen Menschheit im Sinn. Wenn das also nun bedeutet, dass ein paar Elementträger dafür sterben müssen, muss dieses Opfer hingenommen werden.
„Und was wollt ihr machen, wenn ihr den Stein des fünften Elements gefunden habt?", fragte ich.
„Ich weiß es noch nicht, aber ich denke, wir werden lernen, ihn zubenutzen. Mach dir nicht so viele Sorgen", erklärte Bernardo, strich mir die Haare aus dem Gesicht und küsste mich. Mit diesen wunderbaren Lippen, die mich alles vergessen lassen. Und wir haben uns wieder geliebt. Auf dem Tisch in meinem Büro. Es war so wundervoll und einzigartig. Ich bereue nichts, keine Sekunde und keinen Herzschlag.
Nur ein letzter Rest des Zweifels klebt noch immer an meinem Herzen. Es ist ein komisches Gefühl, zu wissen, dass Bernardo an dem Tod eines jungen Mädchens Schuld ist, das beinahe sein ganzes Leben noch vor sich hatte, und ich weiß nicht, wie ich mit diesem Gefühl umgehen soll. Er tut es für einen guten Zweck, aber trotzdem verunsichert mich diese Tatsache ziemlich, denn sie passt nicht in das Bild, dass ich von dem wunderbaren, verständnisvollen, sanften Bernardo habe.
In diesem Moment konnte ich nicht anders, als zu gestehen, dass ich schwanger bin, woraufhin Bernardo sofort vor mir auf die Knie fiel, genau auf die Eliminationsliste der Elementträger und mir einen Antrag machte. Natürlich habe ich ihn angenommen. Ich bin unglaublich glücklich, doch trotzdem gibt es etwas, das meine Freude trübt. Etwas, das ich selbst nicht wirklich benennen kann. Aber es ist da, tief in mir und ich weiß, dass ich nicht vollkommen zufrieden bin, obwohl ich alles habe, was ich mir immer gewünscht habe.
Unglaublich. Mir bleibt die Spucke weg. Wie kann Maria Vecca nur so dumm sein und ihr Studium für den Geheimbund der Elemente aufgeben? Für eine Gruppe Verrückter, die an Legenden glauben, von denen kaum ein Mensch weiß. Aber noch schlimmer ist es, dass sie Bernardo Falcini, dem hinterhältigen Lügner, glaubt. Wie kann sie nur so naiv sein, ihm zu vertrauen? Es ist nie gerechtfertigt, ein Menschenleben für andere zu opfern. Oder etwa doch? Davon mal abgesehen will ich nicht glauben, dass die Liebe Maria wirklich so blind gemacht hat, dass sie Bernardos Meinung als ihre übernimmt.
Enttäuscht und wütend schlage ich das Tagebuch zu, sodass ein paar Seiten herausfallen.
Erst da merke ich, wie sehr mich Maria Veccas Geschichte mitnimmt. Ich wurde von ihrer Welt über Elemente und Geheimbünde absorbiert und erst jetzt wieder freigegeben.
Weiterlesen will ich heute Nacht nicht mehr, dafür wirkt das alles viel zu lebendig und echt. Dabei handelt es sich nur um Legenden, die können nicht echt sein. Doch obwohl mein Verstand das noch nicht so ganz begreifen will, spüre ich dass mehr dahintersteckt.
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