13. Ein apruptes Ende
Panik droht, mich zu ergreifen, doch ich schließe die Augen und atme ein paar Mal tief ein, bis ich ruhiger werde. Dann handele ich. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so schnell von meinen Klamotten befreit. Fast in Sekundenschnelle schleudere ich Turnschuhe, T-Shirt und Hose von mir. Ehe ich es selbst richtig mitbekomme, stehe ich auch schon knietief im Wasser und stürze mich in die Wellen. Der Weg, den ich vom Strand bis hierher zurückgelegt habe, verschwimmt unscharf hinter mir und meine Gedanken setzten aus.
Das Salzwasser umfängt mich und heißt mich willkommen wie eine alte Freundin. Adrenalin durchströmt meinen Körper, als ich mit schwungvollen Zügen loskraule.
Mein Herz pocht so heftig wie selten zuvor. In meinem Kopf hämmert es „Scheiße... Scheiße... Scheiße...". Alles verschwindet. Die Leute. Die Party. Der Strand. Die Welt. Es gibt nur noch mich und das gleichmäßige, aber hastige Luftholen. Einatmen. Schwimmzug. Ausatmen. Einatmen. Schwimmzug. Ausatmen. Ich fühle mich, als würde sich das Wasser vor mir teilen und meinem Körper Platz machen. Bis ich die Stelle erreiche, an der ich Stella vermute.
Mein letzter Schwimmzug gleitet nahtlos ins Tauchen über. Unter Wasser zwinge ich mich, die Augen aufzureißen. Das Salz brennt, doch ich kneife die Lider nicht zusammen, denn sonst würde ich Stella niemals finden. Aber auch so ist das unglaublich schwer. Das Wasser verschwimmt vor mir zu einer grün-blauen unscharfen Suppe und ich erkenne so gut wie nichts.
Mit einem weiteren Schwimmzug stoße ich mich tiefer hinab. Schon bald spüre ich Druck auf den Ohren, taste halb blind vor mir im Wasser. Schließlich geht mir die Luft aus. Prustend tauche ich wieder auf. Als ich einatme, spüre ich ein Stechen in der Brust. Trotzdem lasse ich mich wieder unter Wasser gleiten. Mein Herz pulsiert panisch. Seine Schläge wummern laut in meinem Trommelfell. Viel zu laut. Tränen treten mir in die Augen, doch sie werden vom Wasser wieder weggespült.
Mein Körper spannt sich an unter Sauerstoffmangel und Panik. In meinem Bauch kribbelt es. Ich versuche, mich zusammenzureißen, doch es gelingt mir nur für einen flattrigen, schnellen Herzschlag. Es hat keinen Sinn, ich muss wieder an die Oberfläche. Erneut tauche ich auf.
„Scheiße!", fluche ich und kicke im Wasser ins Leere.
Plötzlich sehe ich Luccas Gesicht vor mir. Wassertropfen glänzen in seinen kurzen Haaren und er sieht genauso besorgt aus, wie ich mich fühle. „Sie ist weg", bringe ich verzweifelt hervor.
„Wir werden sie finden", sagt er und klingt dabei erstaunlich ruhig. „Gib mir deine Hand!"
Normalerweise hätte ich ihn angepflaumt und ihm gesagt, dass ich ihn niemals anfassen werde, aber in diesem Moment bin ich so durcheinander, dass ich wie von selbst seine Hand ergreife. Ich bin sogar dankbar dafür. Trotz des Wassers spüre ich, dass seine Haut runzelig und rau ist wie die eines alten Mannes.
Wir sehen uns an, dann atmen wir gleichzeitig ein. Zusammen kämpfen wir uns in die Tiefe vor. Unsere Schwimmzüge sind zwar ungleichmäßig, aber es tut gut, zu wissen, dass ich hier unten nicht alleine bin. Erneut legt sich Druck auf meine Ohren. Da taucht plötzlich eine große Silhouette vor uns im Wasser auf. Stella.
Vorsichtig lasse ich Lucca los und stoße noch ein bisschen weiter vor, sodass ich Stella unter den Achseln zu fassen bekomme. Strampelnd schwimme ich nach oben. Normalerweise wäre ich schneller gewesen, aber Stellas Gewicht zieht mich ein bisschen nach unten. Kaum dass wir die Wasseroberfläche erreicht haben, wird es noch schlimmer. Stella zuckt heftig, sodass ich sie gleich wieder loslasse. Unter Wasser waren die unkontrollierten Bewegungen, die von ihrem Körper ausgehen, kaum zu spüren. Wäre Lucca nicht gewesen, der ihren Oberkörper nun mit festem Griff umklammert, wäre sie wieder untergegangen.
Zum Glück hört Stellas Anfall genau in diesem Moment auf und sie sinkt schlaff in Luccas Armen zusammen. Die Augen hinter ihren geschlossenen Lidern flimmern und sie öffnet leicht den Mund zu einem Stöhnen. Einen Moment lang spüre ich ein unnatürliches Knistern in der Luft liegen, doch kurz darauf ist es auch schon wieder verschwunden. Das war bestimmt nur Einbildung. Gut möglich, dass mit meine Sinne einen Streich spielen. Ich meine, das hier ist schließlich eine absolute Ausnahmesituation.
„Wir müssen sie an Land bringen", sage ich zu Lucca, „nimm sie unter der rechten Schulter, ich nehme die Linke."
Gehorsam nickt er und ich schiebe meine Hand unter ihre Achsel. Mit der anderen Hand stütze ich Stellas Kopf. So schnell wir können schwimmen wir in Richtung Ufer. Meine Beinmuskulatur brennt vor lauter Anstrengung, doch ich gebe nicht auf. „Ich kann das", rede ich mir ein. Erst wenn Beine und Arme müde werden, wird es richtig herausfordernd. Auf den Schwimmmeisterschaften in England war ich für meine Kondition bekannt. Dann dürfte das hier doch nicht allzu schwer sein. Außerdem bin ich nicht alleine. Lucca besitzt um einiges mehr Kraft als ich und bringt uns mit raschen Zügen gut voran.
Sobald ich wieder Boden unter meinen Füßen spüre, stelle ich mich auf. Pietro krault heran und übernimmt Stella für mich. Zusammen hieven Lucca und Pietro Stella an Land und legen sie auf einem Handtuch ab.
Die fröhliche Partystimmung am Strand ist vollkommen gekippt. Die Musik ist verstummt und die Gäste drängen sich zu Stella vor. Sie bilden geradezu eine Traube um sie. Ächzend schiebe ich mich zwischen den neugierigen Schaulustigen durch und lasse mich dann neben Stella auf den warmen Sand fallen.
Ihre schwarzen Haare kleben auf ihrer Stirn. Vorsichtig rüttele ich an ihren Schultern, doch sie bewegt sich nicht. Bis auf den abgehackten, unregelmäßigen Atem, der ihren Brustkorb kaum merklich hebt und senkt, ist kein Lebenszeichen zu erkennen.
„Mach was!", schreie ich, „öffne die Augen!" Keine Reaktion. Deshalb hole ich aus und schlage ihr mit der flachen Hand gegen die Wange. Eine idiotische Aktion. So etwas machen normalerweise nur die Deppen in Filmen, die keine Ahnung haben.
Stellas Kopf wird durch die Wucht des Schlages auf ihre Schulter geworfen und sie zuckt nur kaum merklich zusammen. Ein leichtes Stöhnen entweicht ihrem Mund, doch ihre Lippen wirken blutleer. Panik steigt in mir auf. Was mache ich jetzt?
„Achtung!" Kate stößt die Partygäste, Pietro, Lucca und mich unsanft beiseite und beugt sich über Stellas fahles Gesicht. Meine kleine Schwester, die normalerweise hilflos überfordert ist, wenn es darum geht, die kleinsten, alltäglichsten Wunden zu versorgen, untersucht vorsichtig Stellas Körper. Ganz behutsam, als wäre sie eine Prozellanpuppe, die bei der sanftesten Berührung zerbricht, legt Kate ihre Hand auf Stellas Brustkorb. Genau an die Stelle, an der ihr Herz schlägt.
Urplötzlich reißt Stella sie Augen auf, setzt sich ruckartig, kerzengerade hin, beugt sich nach vorne und erbricht Salzwasser. Kate schnellt erschrocken zurück und sieht auf ihre Hände hinab, als könnte sie sich nicht erklären, was soeben passiert ist. Etwas Außergewöhnliches, so viel ist klar. Diesmal lässt es sich nicht leugnen. Erschrocken und verwirrt reibe ich mir über die Augen. Ist es denn möglich, dass ich den Verstand verliere?
Nachdem sie sich übergeben hat, fallen Stellas Augen sofort wieder zu und sie driftet in einen leichten Dämmerschlaf ab. Doch wenigstens ihre Atmung geht jetzt wieder gleichmäßig.
Sofort wird der Kreis um Stella enger. Chiara legt den Kopf ihrer Freundin besorgt in ihren Schoß und streicht ihr das Haar aus der Stirn, während Marietta hastig auf sie einredet und mindestens zehn Mal wissen will, ob es ihr gut geht. Ana steht nur daneben und schnieft.
Nach heulen ist mir auch zumute. Aber ich beherrsche mich. Ich weine nicht. Das tue ich so gut wie nie. Wieder schließe ich die Augen und konzentriere mich auf meine Atmung. Tatsächlich werde ich ruhiger und kann meine Gefühle in den Hintergrund drängen.
Neugierig rücken alle ein bisschen näher an Stella heran. Jede:r will wissen, ob es ihr gut geht. Mit weit ausholenden Armbewegungen scheucht Lucca sie zurück. „Lasst ihr doch ein bisschen Freiraum!", ruft er verärgert.
Tatsächlich hören die Leute auf ihn und ziehen sich widerwillig zurück. Vor den Blicken der neugierigen Gäste kann Lucca Stella jedoch nicht beschützen. Trotzdem achtet er peinlich genau darauf, dass Stella, von ihren Freundinnen mal abgesehen, niemand zu nahe kommt.
„Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?", will Lucca wissen und sieht dabei in Pietros Richtung. Der sitzt mit zwischen die Beine geklemmtem Kopf in Stellas Nähe und kämpft mit den Tränen.
„Ja... ja... also ich... Massimo hat's gemacht..." Seine Stimme zittert. Mit schuldbewusstem Blick wendet sich Pietro mir zu. „Ich... ich wusste nicht, dass Stella Epilepsie hat. Und... das wusste keiner... außer ihren Freundinnen." Er nickt zu Chiara, Marietta und Ana hinüber. Chiara hat das Handy ans Ohr geklemmt und redet eifrig in den Hörer. Vermutlich spricht sie gerade mit Stellas Eltern. „Und... ich... ich wollte nicht, dass so etwas passiert... wirklich nicht. Und ich war ja selbst überrascht", fährt Pietro fort, „ich weiß eigentlich kaum etwas über sie, außer dass sie in meine Klasse geht."
„Und dass sie gerne Mitglied der Rettungsschwimmer wäre", füge ich hinzu. Daraufhin öffnet Pietro empört den Mund und nun rollt wirklich eine einzelne Träne aus seinem Augenwinkel. Schnell geheich neben ihm in die Hocke und lege etwas ungelenk meinen Arm um seine breiten Schultern. Dabei komme ich mir plump vor und fühle mich unwohl.
Ich habe selten einen Kerl weinen sehen und Pietros Reaktion erschreckt mich. Wie verhält man sich in so einer Situation? Was sagt man? Ich bin vollkommen überfordert und mir wäre es fast lieber, er würde mich fortstoßen statt so in sich zusammengefallen da zu sitzen.
„Das ist doch nicht deine Schuld", beginne ich vorsichtig, „du wusstest doch nicht, dass sie krank ist."
„Das... das wusste niemand." Zu Pietros erster Träne gesellt sich eine zweite. Ich wünsche mir sehnlichst, er würde sich nicht so anstellen. Klar, Pietro tut mir leid, aber Stella noch mehr. Wie muss es wohl sein, mit dieser Krankheit zu leben? Warum hat sie außer ihren Freundinnen niemandem davon erzählt? Ist ihr das etwa unangenehm?
Aus Pietros stummen Tränen werden leise Schluchzer und er legt seinen Kopf vorsichtig auf meine Schulter. Bei so viel Nähe zucke ich zusammen. Mein Magen verkrampft sich. Kann sich Pietro nicht jemand anderen suchen, bei dem er sich ausweinen kann? Ich bin noch nie besonders gut im Trösten gewesen. Ich weiß ja nicht mal wirklich, wie das geht.
„Danke... dass du heute gekommen bist", flüstert Pietro gegen meinen Hals ,„das... ohne dich wäre Stella jetzt vielleicht... also sie wäre..." Er schafft es nicht, den Satz zu beenden. Doch ich weiß, was er sagen möchte. Ohne mich wäre Stella vielleicht ertrunken. Daran möchte ich gar nicht denken. Es überkommt mich heiß und kalt. Gleichzeitig ist da noch ein starkes, anschwellendes Gefühl in meiner Brust.
Auf einmal wird mir schlecht. Vorsichtig rücke ich von ihm fort. „Naja, Lucca war ja auch noch da. Bist du mir böse, wenn ich jetzt gehe?", frage ich und sehe Pietro von der Seite an. Er wirkt ziemlich niedergeschlagen. Noch immer weint er.
Trotzdem schüttelt er verständnisvoll den Kopf. „Nein, die Party ist jetzt ja eh vorbei." Er bemüht sich um ein trauriges Lächeln, das nicht ganz in seine bekümmerten Gesichtszüge passen will. „Und es ist schön, dass du da warst."
„Danke." Meine Gedanken drehen sich.
Obwohl die warme Abendsonne vom Himmel sticht, ist mir kalt. Mit zitternden Fingern ziehe ich meine Klamotten, die noch verstreut am Strand liegen, über die nasse Unterwäsche. Sofort färbt sich der Stoffdunkler und die Kleidungsstücke schmiegen sich an meine Haut. Besonders unangenehm ist es, mit feuchten, sandigen Füßen in die Turnschuhe zu steigen, aber mir bleibt leider nichts anderes übrig.
Die Tasche mit den Badesachen hänge ich über die Schulter und bevor ich gehe, vergewissere ich mich, dass Stella in guten Händen ist. Noch immer wird sie von ihren Freundinnen umsorgt, ist auch schon wieder bei Bewusstsein und hat ihr Gesicht zwischen ihren Händen verborgen. Lucca hat die Situation ziemlich gut unter Kontrolle und ich beschließe, dass ich nicht mehr gebraucht werde.
So schnell ich kann, verlasse ich die Party und überquere die Wiese, die zur Strandpromenade führt. Sekunden später ist Kate neben mir. Sie sieht verwirrt und ziemlich verängstigt aus.
„Alles okay bei dir?", frage ich.
„Gehst du?"
„Ja."
„Ich komme mit." Leise streicht sie über die nackten Oberarme, die mit einer Gänsehaut überzogen sind. Ihr muss genau so kalt sein wie mir.
„Alles okay?", frage ich noch einmal. Meine Schwester nickt vorsichtig, während wir über die wilde Wiese in Richtung Strandpromenade laufen.
„Hey." Um sie ein bisschen aufzumuntern, fasse ich Kate leicht an der Schulter an, doch sie scheint die Berührung nicht zu spüren, denn sie zeigt keinerlei Reaktion. „Das war ein ganz schöner Schock", rede ich weiter, „aber es ist alles gut ausgegangen. Du musst dir keine Sorgen um Stella machen... und schau, da kommt schon der Krankenwagen. Die Sanitäter kümmern sich um alles."
Am Ende der Strandpromenade hat ein weiß-roter Wagen mit flackerndem Blaulicht angehalten. Die Sirene schallt bis zu uns hinüber, während weiß gekleidete Sanitäter:innen auf die Straße springen und mit einer Trage auf uns zu rennen. „Wo geht es zum Privatstrand?", will eine von ihnen außer Atem wissen. „Da lang." Ich zeige in die Richtung, aus der wir gerade kommen und hoffe inständig, dass sich die Sanitäter:innen beeilen. Ein bisschen fühle ich mich schuldig, weil ich nicht bei Stella geblieben bin.
Nur langsam laufen Kate und ich weiter. Schließlich öffnet meine Schwester mit einem Seufzen den Mund. „Brionny, glaubst du an Magie?"
„Bitte was?!" Die Frage kommt so unvermittelt, dass ich erschrocken stehenbleibe. Magie? Was hat das denn mit dem zu tun, was eben passiert ist?
„Ja, Magie."
„Katie... ich... du weißt genau, wie ich über dieses Thema denke", seufze ich und habe auf einmal das merkwürdige Gefühl, meiner Schwester den Glauben an etwas nehmen zu müssen. Ein bisschen, als würde ich einem Kind sagen, dass den Weihnachtsmann nicht gibt.
Ihr ganzes Leben lang war Kate von der Vorstellung, übernatürliche Kräfte könnten existieren, begeistert. An ihrem dreizehnten Geburtstag haben wir uns mit ein paar Freund:innen um Mitternacht an den Strand geschlichen, zu den verkohlten Überresten des Westpiers in Brighton, der vor Jahren abgebrannt ist und dann nie abgerissen wurde. Dort haben wir Kerzen angezündet, um Geister zu beschwören, aber es hat sich nie ein Geist gezeigt. Natürlich nicht.
„Wieso willst du das überhaupt wissen?", frage ich. Daraufhin zuckt Kate unschlüssig mit den Schultern. Sie legt die Stirn in Falten, als wäre sie nicht sicher, ob sie mir von dem erzählen soll, was ihr auf dem Herzen liegt. Schließlich tut sie es aber doch. „Vorhin... ich weiß, das klingt unlogisch... aber als Stella da so auf dem Handtuch lag und sich nicht bewegt hat... ich habe gespürt, dass Wasser in ihrer Lunge ist und dann habe ich es irgendwie mit meiner Hand rausgepumpt..."
„Du hast was?" Entweder, sie hat zu viel Sonne abbekommen und fängt deshalb an, zu fantasieren oder das Beinahe-Ertrinken von Stella hat sie so sehr geschockt, dass sie ein bisschen verwirrt ist. In jedem Fall mache ich mir Sorgen um meine Schwester.
„Ich habe gespürt, dass Stella Wasser in der Lunge hatte und habe es dann mit meiner Hand rausgepumpt", wiederholt Kate. Diesmal klingt sie deutlich selbstsicherer bei dieser Aussage.
„Hey!" Vorsichtig nehme ich sie in den Arm. „Wir gehen jetzt erst mal ganz langsam nach Hause, dann legst du hin und ich bringe dir was Kühles zum Trinken, okay?"
Augenblicklich kämpft Kate sich aus meiner Umarmung frei und tritt ein paar Schritte zurück. Ihr Blick signalisiert mir, dass sie wütend und enttäuscht ist. „Du glaubst mir nicht!", ruft sie aufgebracht.
„Katie... wieso soll ich dir glauben? Das klingt so was von unlogisch. Was du mir erzählst, ist gar nicht möglich. Das hast du dir nur eingebildet."
„Eingebildet?! Du denkst also, dass ich meinen Sinnen nicht vertrauen kann?" Ihre Stimme überschlägt sich, springt ein paar Halbtonschritte höher, bis sie schließlich vollkommen versagt.
„Doch, ich denke schon, dass du deinen Sinnen vertrauen kannst. Du bist vielleicht einfach nur... im Schock", sage ich langsam und in einem fast schon gezwungen ruhig klingenden Ton. Jetzt fühle ich mich tatsächlich so, als würde ich mit einem Kind reden. Bloß dass meine Schwester kein Kind mehr ist.
„Nein, ich bin nicht im Schock. Das ist eine dumme, realistische Erklärung, die du dir in deinem mega beschränkten Gehirn zurechtgelegt hast."
„Beschränkt?!" Auf einmal verfliegt die ganze künstliche Ruhe und macht Empörung Platz. Kate weiß genau, wo sie mich treffen muss, damit es richtig wehtut. Im Provozieren ist sie eine Meisterin.
„Naja, und besonders offen bist du auch nicht, sonst würdest du mir glauben", feixt sie. Das gemeine Lächeln, das Kate auflegt, als sie triumphierend die Arme verschränkt, lässt das letzte bisschen Toleranz in mir verpuffen.
„Ach ja? Erwartest du etwa von mir, dass ich dir alles glaube? Selbst wenn du mir erzählen würdest, dass die Erde eine Scheibe ist? Oder dass du dich nachts heimlich in eine pinke Glitzerfee verwandeln kannst, die Sternschnuppen fängt? Wie alt bist du? Vier?" Ich kralle die Fingernägel so fest in meine Handinnenflächen, dass es wehtut. Noch dazu halte ich die Luft an, auch wenn das Gefühl, bald platzen zu müssen, dadurch nur verstärkt wird.
„Du bist meine Schwester. Du solltest mir glauben. Aber das kannst du ja nicht!" Kates Wangen färben sich in einem dunklen Rot. Das Zeichen dafür, dass sie richtig sauer ist.
„Niemand könnte das!", erwidere ich.
Wütend dreht Kate sich um, bereit, davon zu spazieren. Bevor sie jedoch geht, wendet sie sich noch einmal mir zu. „Ich gehe jetzt nach Hause und zwar ALLEIN. Eine ganz mega miese Schwester bist du!"
Ganz mega miese Schwester. Ja, meine liebe Kate, du auch. Die Wut staut sich in mir auf wie Wasser hinter einem Damm. Um das Gefühl loszuwerden, kicke ich ein Steinchen, das auf dem Boden liegt weg und stecke mir die Faust in den Mund, um einen wütenden Schrei zuunterdrücken. Sobald sich mein Kopf ein bisschen abgekühlt hat, folge ich Kate mit winzigen Schritten.
Eigentlich glaube ich ihr. Ich glaube ihr so gut immer. Normalerweise denkt sie sich aber auch nicht so einen Schwachsinn aus. Aber was, wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagt? Schließlich habe ich da auch etwas gespürt, als sie die Hand auf Stellas Brust gelegt hat.
Nein, das ist nicht möglich. Mein Verstand weigert sich, diese Geschichte anzunehmen.
„Brionny, warte!", höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir. Erstaunt drehe ich mich um und sehe Lucca auf mich zulaufen. Er trägt ein weißes T-Shirt, das einen Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut und den schwarzen Haaren bildet. Ich blinzele ihn an. „Stella geht es besser. Ich habe so lange gewartet, bis die Sanitäter da waren. Sie wollen sie mit ins Krankenhaus nehmen", erklärt er.
„Ist gut." Warum erzählt er mir das? Ich habe nicht vor, Stella ins Krankenhaus zu begleiten. Den Job kann eine von ihren Freundinnen übernehmen.
„Das Weichei Belluco kann sich jetzt um den Rest kümmern. Die Gäste habe ich schon nach Hause geschickt, also sollte sich alles regeln lassen." Nach einem Moment fügt er hinzu: „Wie geht es dir? Bist du okay?"
Wow. An so viel kann ich im Moment echt nicht denken. Mein Kopf dreht sich und alles scheint in der leuchtenden Abendsonne auf einmal viel zu hell. Ich nehme dutzende Geräusche gleichzeitig wahr, kann sie jedoch nicht zuordnen.
„Mir ist ein bisschen schwindelig", gestehe ich. Schon im nächsten Moment wundere ich mich über meine Ehrlichkeit. Wie komme ich dazu, so etwas vor Lucca zuzugeben? Jedes Bisschen Schwäche, das ich zeige, wird er mit Sicherheit nutzen, um mich damit aufzuziehen. Doch er nickt nur verständnisvoll mit dem Kopf.
„Ich kenne einen Platz, an dem wir uns ein bisschen hinsetzen können. Willst du ihn sehen?", fragt er vorsichtig. Normalerweise würde ich nein sagen. Aber nichts ist normal. Der Tag hat schon ganz seltsam angefangen mit meinen Albträumen. Und zu allem Überfluss wäre eben gerade ein Mädchen auf einer Strandparty beinahe ertrunken. Ausgerechnet Lucca, von dem ich es am wenigsten erwartet hätte, hat mit mir zusammen ihr Leben gerettet. Ist es da üblich, wenn man dann ein bisschen anders auf Dinge reagiert als sonst?
„Wo denn?", willich wissen.
„Nicht weit, gleich beim Hafen." Er deutet mir an, ihm zu folgen.
Keiner von uns sagt ein Wort, als wir nebeneinander herlaufen. Von der Seite reicht mir Lucca eine Wasserflasche, die ich dankbar entgegen nehme. Erst jetzt bemerke ich, wie ausgetrocknet mein Mund eigentlich ist. Das Wasser tut gut. Es löst sogar meine Zunge.
„Das war sehr toll von dir, sehr hilfsbereit", sage ich lahm.
„Was denn?"
„Dass du Stella gerettet hast. Und dass du dich danach um alles gekümmert hast, obwohl du Pietro nicht sonderlich gut leiden kannst."
„Ich fand es ziemlich mutig, dass du einfach so losgeschwommen bist, während die anderen noch betroffen dagestanden haben, als wären sie Ölgötzen. Da musste ich doch etwas tun." Ölgötzen. Dieses Wort passt so gar nicht zu Lucca. Vielleicht muss ich deshalb lächeln.
„Du kannst wirklich richtig gut schwimmen", fährt Lucca fort, „so schnell wie du war ich nicht."
„Richtig gut? Ich hatte voll Probleme damit, Stella über Wasser zu halten. Und ich hatte ziemlich viel Angst", werfe ich ein.
„Die hatte ich auch", gibt er zu und legt dabei die Stirn in Falten. Schwach lächele ich ihn an. Noch vor einem Tag hätte ich es für vollkommen unmöglich gehalten, dass wir normal miteinander reden können, aber jetzt sieht alles anders aus.
Wir passieren den Hafen. Die Segel der Boote scheinen im Licht der Sonne jetzt nicht mehr weiß, sondern glühen orange und rot. Der Anblick gefällt mir. Könnte ich zeichnen, so wie Kate, hätte ich dieses Bild in meinen Kopf eingespeichert, um es eines Tages zu Papier zu bringen.
Da sich die Stadt auf einem Hügel über dem Hafen aufbaut, nehmen wir eine schmale, verschwiegene Treppe, die zwischen zwei Häuserreihen durchführt, nach oben. Zwischen den Fenstern der oberen Stockwerke spannen sich Wäscheleinen über unseren Köpfen, auf die die Bewohner ihre Kleidungsstücke zum Trocknen gehängt haben. Auf einer Leine baumeln Strampelanzüge, auf einer anderen lange Röcke und Blusen.
„Wusstest du, dass die verschiedenen Farben der Klapprollläden bestimmte Bedeutungen haben?", will Lucca wissen und deutet auf die Fenster.
„Hm", antworte ich, „im Mittelalter haben sie die Rollläden je nach Beruf der Bewohner farbig angestrichen, oder?" Ich meine, ich habe so etwas mal gehört. Aber was die genaue Bedeutung der Farbe der Rollläden angeht, bin ich mir nicht sicher. Vielleicht obliegt das heute auch dem Geschmack der Bewohner:innen.
„Ja, das behaupten einige. Aber ich glaube, in dieser Region haben die bunten Rollläden eine andere Bedeutung."
„Aha." So wirklich interessiert es mich nicht, doch Lucca erzählt trotzdem weiter.
„Die Farben stehen für die fünf Elemente."
„Fünf Elemente?", frage ich halb interessiert nach. Ich dachte immer, es gäbe nur vier Elemente.
„Ja, blau fürs Wasser, weiß für die Luft, braun und grün für die Erde, rot für das Feuer und schwarz für das fünfte Element."
Das fünfte Element. Wir haben uns in der Schule mal einen Science-Fiction-Film angesehen, der so hieß. Maddie ist nach der Hälfte eingeschlafen und hat angefangen zu schnarchen, woraufhin unsere Lehrerin sie beleidigt aus der Klasse geworfen hat. Deshalb kann ich mir ein breites Grinsen bei dieser Erinnerung nicht verkneifen. Das Lachen unterdrücke ich dann aber doch.
„Sagst du mir jetzt wieder, wie verrückt meine Eltern gewesen sein müssen, weil sie mir solche Geschichten erzählt haben?" So wie Lucca das sagt, hört es sich an, als wäre er gekränkt oder beleidigt. Deshalb werde ich wieder ernst und schüttele den Kopf. „Nein."
Trotzdem hoffe ich insgeheim, dass er nicht erneut mit alten Legenden und Sagen anfängt. Denn dann könnte ich ihm bestimmt nicht eine Sekunde zuhören, ohne ihn anzuweisen, die Klappe zu halten. „Der Anhänger, den du trägst, ist auch mit den Zeichen der vier Elemente versehen", sagt Lucca und deutet auf meine Kette.
„Oh, der hässliche Anhänger", bemerke ich trocken und ahme dabei Luccas Tonfall nach. Der grinst nur entschuldigend und zuckt dann mit den Schultern. „Ich wollte etwas Gemeines sagen und mir ist nichts anderes eingefallen, tut mir leid", sagt er und sieht mich dabei von der Seite an. Ich kann ihm wohl nicht verübeln, dass er gemein zu mir sein wollte. Schließlich war ich ihm gegenüber auch nicht besonders freundlich. Gleichzeitig bin ich trotz allem ein bisschen neugierig.
„Ist schon okay... also fünf Elemente. Welches Zeichen hat das Fünfte? Und was genau ist eigentlich das fünfte Element?", hake ich nach. Aber eher aus Höflichkeit.
„Ich weiß es nicht. Gar keins vielleicht", überlegt Lucca und kratzt sich nervös am Kopf. Wieder muss ich lächeln. Fünf Elemente. So ein Unsinn.
„Wir sind da", meint Lucca und räuspert sich kurz. Wir sind auf einer kleinen Piazza angelangt, die von Häusern umgeben ist, in deren Erdgeschosse sich Restaurants und Geschäfte befinden. Zwischen zwei dieser Häuser ist eine ungefähr fünf Meter breite Lücke, die den Blick aufs Meer freigibt. Eine wunderschöne Aussicht.
Nebeneinander setzen wir uns auf eine Bank und schauen aufs Meer hinaus zu der Stelle, an der das Wasser und der Horizont miteinander verschmelzen.
„Diese Piazza ist in der Form eines Kreises angelegt", beginnt Lucca. Allein seine Stimmlage lässt darauf schließen, dass er jetzt gleich mit irgendwelchem mysteriösen Kram anfangen wird. Bloß nicht! Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, doch dafür scheint es zu spät zu sein. „In der Antike hatte der Kreis eine besondere Bedeutung. Erlässt sich in einigen Mythen wiederfinden..."
Oh nein. Jetzt geht das schon wieder los. Von da an höre ich nur Blablablablabla. Auf Luccas genaue Wortwahl achte ich gar nicht mehr.
Blablablablabla. Vor uns setzt sich ein händchenhaltendes Liebespaar auf den Rand des Brunnens, der genau in der Mitte der Piazza vor sich hinsprudelt. Sobald die zwei Platz genommen haben, beginnen sie aufs Wildeste rumzuknutschen, sodass sie fleischige Zungen und Speichel entblößen. Ekelhaft.
Blablablablabla. Luccas Stimme schwillt zur Hintergrundmusik an. Schnell wende ich den Blick von dem Liebespaar ab. Die tiefstehende Sonne färbt den Himmel orange und den Ozean golden. Die Schäfchenwolken und Kondensstreifen am Himmel sind in rosa und lila Licht getaucht. Die Sonne in der Toskana geht zwar nicht im Mittelmeer auf, dafür versinkt sie aber jeden Abend in den Fluten und schenkt dem Tag zum Abschied ein wunderschönes Farbenspiel.
Blablablablabla. Straßenkatzen tollen kreischend über die Piazza. Ein Pizzalieferant tuckert mit seinem Vesparoller vorbei.
Blablablablabla. Legenden von Pergula. Blablablablabla.
Augenblicklich richte ich mich kerzengerade auf. Die Legenden von Pergula? Da muss ich mich wohl verhört haben. „Wie bitte?", frage ich erschrocken.
Mitten im Satz bricht Lucca mit seiner Erzählung ab, die ich sowieso nicht verfolgt habe. Seufzend wendet er sich mir zu. „Lass mich raten, du hast gar nicht zugehört."
„Doch, doch", lüge ich schnell, „aber... aber... hast du da gerade Legenden von Pergula gesagt?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top