12. Die Strandparty

In dieser Nacht träume ich von Jeremy. Immer wieder erscheint er vor mir auf Bildern von unseren gemeinsamen Erlebnissen und verblasst dann langsam, wird unsichtbar, bis er nicht mal einen weißen Fleck hinter sich zurücklässt und es ist, als hätte es ihn nie gegeben. Ausgelöscht. Raus aus meinem Leben. Raus aus meinen Gedanken und raus aus meinem Herzen.

Was die letzten beiden Punkte angeht, so bin ich mir nicht sicher, ob es mir so schnell gelingen wird, Jeremy vollkommen zu vergessen. Aber so ist das nun mal. Es fühlt sich an, als würde es nie vorbeigehen, doch am Ende lösen sich selbst die stärksten Gefühle auf wie Rauch in der Luft.

Geschwitzt und schlecht gelaunt wache ich am nächsten Morgen auf. Dieser Tag wird mir vermutlich die Gelegenheit geben, Jeremy wenigstens ein bisschen aus meinem Bewusstsein zu verdrängen, aber was bringt mir das, wenn all die Gefühle und Erinnerungen im Traum wieder zurückkommen? Ich hätte nie gedacht, dass ich einem Typen mal so sehr hinterher trauern würde. Dafür hasse ich ihn besonders. Und mich noch mehr.

Um mich ein bisschen abzulenken, schnappe ich mir das Notizheft, das Nonna und Grandpa mir gestern geschenkt haben und probiere, Tagebuch zu schreiben, sowie es Maria Vecca getan hat. Aber das Schreiben hilft auch nicht, loszulassen. Deshalb beschließe ich letztendlich, mit Maddie zu skypen. Gottseidank ist Samstag und sie muss nicht zur Schule, weshalb sie sofort abnimmt. Ihr gerötetes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm und verrät mir, dass sie gerade laufen war. Sie trägt sogar noch ihre Trainingsjacke und in ihren Ohren stecken Kopfhörer.

„Nini", sagt sie und klingt überrascht. Immerhin haben wir gestern, an meinem Geburtstag, über zwei Stunden miteinander gesprochen. „Was gibt's?"

Ihre Stimme ist Balsam für meine Seele. Es tut so gut, sie zu hören, dass ich zuerst gar kein Wort herausbringe. Noch mehr freue ich mich aber, sie zu sehen. Es fühlt sich an, als würde meine Kehle von einem dicken Kloß verstopft, den ich erst herunterschlucken muss, bevor ich sprechen kann.

„Alles okay?", hakt Maddie besorgt nach, als ich nicht sofort zu reden beginne. Ich hole tief Luft, schlucke ein paar Mal schwer und dann sprudeln die Sätze nur so aus mir heraus. Mit den schlechten Träumen fange ich an, um dann mit der schlaflosen Nacht fortzufahren. Schließlich erzähle ich ihr noch von Pietro, meiner Geburtstagsfeier, Lucca und dem Foto. Als ich endlich fertig bin, fühlt sich mein Mund trocken an und meine Zunge klebt am Gaumen. Deshalb trinke ich schnell einen Schluck Wasser, während Maddie sprachlos am anderen Ende der Leitung sitzt.

„Abgefahrene Affenkacke!", entfährt es ihr schließlich, „die haben Lucca tatsächlich auf dem Foto entfernt?"

„Also eigentlich ging es mir ja eher um Jeremy."

„Ach Nini, wann begreifst du es endlich? Jeremy ist ein beschissenes Arschloch! Eigentlich solltest du nicht mal einen Satz verschwenden, um über ihn zu reden, weil der Satz dafür nämlich schon zu schade ist. Außerdem musst du zugeben, dass es ziemlich krass ist, dass die Bellucos jemanden von einem alten Foto löschen. Da muss irgendwas vorgefallen sein. Ohne Grund macht man so etwas nicht. Ich meine, sie hätten dir auch ein Foto schenken können, auf dem nur Pietro und du zu sehen seid. Warum ausgerechnet das?"

„Keine Ahnung. Vielleicht hatten sie kein anderes", gebe ich zu bedenken. Um ehrlich zu sein, ich finde diesen Vorfall zwar seltsam, aber ich habe keine Lust, mir darüber großartig Gedanken zu machen. Irgendeinen Grund werden die Bellucos dafür haben, aber der ist mir herzlich egal.

„Am Arsch die Räuber! Komm schon, die haben zu hundert Prozent dutzende Fotos von euch als kleinen Kindern. Nur weil deine Mum nie irgendetwas von eurer Vergangenheit aufbewahrt, heißt das nicht, dass andere Leute das genauso machen."

„Na und? Vielleicht haben sie Lucca einfach nur ausgeschnitten, weil er angeblich in einer Gang sein soll. Was weiß ich denn..."

„Miese Krise... In einer Gang?! Mit Drogendealen und so?"

„Das behauptet Pietro. Aber ich glaube nicht, dass da was Wahres dran ist. Ich meine, dieser Ort und eine Gang? Das passt überhaupt nicht zusammen."

„Hm. Vermutlich nicht. Aber du hast doch sowieso gesagt, dass dieser Lucca komisch ist... also von daher würde ich mich nicht wundern... Apropos Jungs, du hast gesagt, dieser Pietro wäre heiß..."

„Hübsch. Ja. Er sieht Jeremy ein bisschen ähnlich."

„Oh man... ich raste gleich aus! Okay, wenn ich diesen Kerl heute im Training sehe, bringe ich ihn eigenhändig um!" Diese Worte tun gut, weil sie mir deutlich zeigen, dass meine Freundin auf meiner Seite steht, doch gleichzeitig reißen sie die Wunde in meinem Herzen noch ein bisschen mehr auf. Maddie weiß gar nicht, wie gut sie es hat, in England mit Jeremy ins Schwimmtraining gehen zu dürfen. Wie viel hätte ich gegeben, um mit ihr tauschen zu können.

„Außerdem hat er sowieso eine neue Freundin, glaube ich."

Na, das musste ja irgendwann so kommen. Trotzdem bin ich erschrocken. „Wie bitte?!" Mein Herz schlägt schneller und ein dumpfer Schmerz breitet sich in meinem Magen aus. Aber schon ein paar Sekunden später fühle ich... nichts. Ich suche in mir nach irgendeinem Anzeichen von Wut oder Trauer, doch ich finde nichts davon. Vielmehr verspüre ich etwas wie Erleichterung. Das erstaunt und erschreckt mich am meisten. Jetzt kann ich endlich vollkommen mit der ganzen Sache abschließen. Bisher war da noch immer die Hoffnung, Jeremy könnte es sich doch irgendwie anders überlegen. Diese Hoffnung ist nun aber endgültig gestorben. Obwohl ich es nicht möchte, muss ich zugeben, dass sich das gut anfühlt.

„Ja, irgendso ein Mädchen aus Tenesse. Er hat sie in den Sommerferien kennen gelernt, als er mit seinem Vater in den USA war und dann hat es nicht lange gedauert, bis sie sich ineinander verliebt haben."

„Amerika ist viel weiter weg als Italien!", entfährt es mir und jetzt fühle ich doch ein bisschen Empörung. Jeremy hat mit mir Schluss gemacht, weil ihm die Entfernung von Südengland in die Toskana zu groß ist und jetzt führt er eine Transatlantikbeziehung. Das ist zu viel für meinen Kopf.

„Ich weiß. Keine Ahnung, was der Teufel damit bezwecken will. Aber sei froh, dass du ihn los bist!", meint Maddie. Ich höre ihrer Stimme an, dass sie am liebsten durchs Telefon gekrochen wäre, um mich zu umarmen. Aber das ist leider nicht möglich.

In meinem Kopf wirbeln die Gedanken noch wild durcheinander, als Maddie schon auf ein anderes Thema zu sprechen kommt. „Oh man Nini, ich wünschte mir, ich könnte diesen Pietro sehen. Alles, was ich von ihm jemals zu Gesicht bekommen habe, war so eine hässliche Kinderzeichnung, die du mir mal gezeigt hast."

Ich weiß genau, dass sie mich mit dem Themenwechsel nur ablenken will, aber es funktioniert. Perfekt sogar. Doch allein als Maddie Pietro erneut erwähnt, wird mir unwohl. Ich will nicht an Pietro denken, weil ich dann immer noch seinen Kuss auf meiner Wange brennen spüre. Ich fühle mich seltsam und verwirrt. Eigentlich möchte ich heute gar nicht mehr vor die Haustür gehen, sondern lieber in meinem schwitzigen, heißen Zimmer bleiben, doch Maddie benutzt ihre ganze Überredungskunst, um mich letztendlich dazu zu bringen, auf Pietros Party zu gehen.

Spätestens nachdem ich ihr ein Bild geschickt habe, das ich am Vorabend mit Kate, Pietro, Davide und Vittoria gemacht habe, ist es um sie geschehen. „Wow. Also der sieht wirklich ziemlich gut aus. Du solltest auf jeden Fall zu der Party gehen. Wenn du das nicht machst, bin ich enttäuscht", droht sie, doch sie kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Daraufhin muss ich lachen. Am liebsten hätte ich sie umarmt. Sie fehlt mir so sehr.

Auch Kate freut sich schon riesig auf die Party. „Das wird bestimmt super", meint sie, als sie in mein Zimmer komt, kaum dass Maddie und ich unser Gespräch beendet haben. Sie lässt sich auf mein Bett plumpsen und streckt die Arme in die Höhe. „Davide und Vittoria haben mir erzählt, dass die Strandpartys von Pietro und seinen Freunden legendär sind", schwärmt sie, „allerdings waren sie selbst noch nie eingeladen. Sie werden bestimmt neidisch, wenn ich ihnen dann davon erzähle." Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Es wundert mich gar nicht, dass sie mal wieder viel besser informiert ist als ich.

Gegen drei Uhr mache ich mich auf den Weg ins Badezimmer, um mich zu duschen. Make-up lege ich diesmal ganz wenig auf und die Haare binde ich zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Was Pietro mit uns vorhat, weiß ich immer noch nicht, deshalb kleide ich mich wie immer: sportlich und unauffällig. Auf alles vorbereitet. Den einzigen Schmuck, den ich trage, ist die Kette, die die Familie Belluco mir zum Geburtstag geschenkt hat.

Kate bildet in dieser Hinsicht mal wieder einen Gegensatz zu mir mit knallrotem Lippenstift, verspiegelter Sonnenbrille, geblümten Shorts und einem Oversize-T-Shirt, das in derselben Farbe wie ihre Lippen leuchtet.

Mit unseren Badesachen im Gepäck machen wir uns durch die warme Luft auf den Weg zum Hafen. Als wir dort ankommen, wartet Pietro schon auf uns. Es wirkt, als würde er bereits seit Ewigkeiten lässig an einen Laternenpfosten lehnen und uns lächelnd entgegensehen. Seine Füße stecken in Flip-Flops und er ist locker gekleidet. Nicht so fein wie gestern. Neben ihm steht ein Typ mit schwarzem Haar und dunklen Augen, den Pietro uns als seinen besten Freund Massimo vorstellt.

„Und? Wo geht's hin?", will Kate aufgeregt wissen und überbrückt somit den ersten unangenehmen Moment des Schweigens nach der Begrüßung.

„Ich zeig's dir", meint Massimo, zwinkert meiner Schwester zu und hält ihr den Arm entgegen, damit sie sich bei ihm einhakt, was sie dann auch schwungvoll und breit grinsend tut. Typisch Kate. In ihr steckt kein Funken Scheu vor fremden Leuten. Gemeinsam schlendern die beiden vornweg. Pietro und ich folgen ihnen mit gehörigem Abstand zueinander.

„Schön, dass du so spontan kommen konntest", sagt Pietro, nachdem wir ein paar Minuten schweigend die Strandpromenade entlanggelaufen sind und ich schon das Gefühl hatte, irgendetwas Belangloses erzählen zu müssen, um die peinliche Stille zwischen uns zu unterbrechen.

„Naja, dafür habe ich kein Geschenk", gebe ich offen zu.

„Das ist nicht so wichtig. Geburtstagspartys sind ja immerhin für die Gäste da und nicht für den Gastgeber", antwortet er darauf.

„Ist das deine offizielle Geburtstagsparty?", erkunde ich mich. Bis auf Pietro, Massimo, Kate und ich sind weit und breit nämlich keine potentiellen Gäste zu sehen.

„Eher inoffiziell... mit der Familie hab ich an meinem Geburtstag direkt gefeiert. Jetzt sind die Freunde dran." Aha. Das bedeutet also, dass noch mehr Leute kommen werden. Ich frage mich, wo Pietro die wohl versteckt hat.

Schon bald dünnen sich die Kioske, Surfschulen und Hotels an der Promenade aus und auch der Strand wird wilder. Überall ist der Sand von Büschen und Steinen durchzogen. In diesen Teil verschlägt es keine Tourist:innen mehr. Mächtige Wellen brechen sich am Ufer und hier zeigt sich die Natur in ihrer vollen Stärke. Schließlich geht sogar der gepflasterte Weg in eine Wiese mit von der Sonne verblichenem hellgrün-gelben Gras und kleinen runden Büschen über, die uns beinahe bis zu den Hüften reichen. Einzelne Blumen stechen mit ihren schillernden Farben aus dem Wirrwarr hervor und strecken sich ehrgeizig der brennenden Sonne entgegen.

Obwohl ich es nicht möchte, wird mir bei diesem Anblick etwas leichter ums Herz. Ich kann mich nicht dagegen sperren, dass die Schönheit dieser einzigartigen Landschaft mich berührt. Es gibt viele beeindruckende Plätze auf dieser Welt, aber nicht jeder von ihnen schafft es, Gefühle in uns hervorzurufen. Manche Dinge sind nun mal fürs Herz und andere nicht.

Doch schon bald wird die ruhige Idylle von lautem Gejohle und Partymusik zerstört. Die ungeordnete Landschaft geht urplötzlich in einen gepflegten, ungefähr dreißig Meter langen eingezäunten Strand mit einer Bar über. Auf diesem Strand und im Wasser tummeln sich mindestens zwanzig Jugendliche. Mädels und Jungs liegen mit Cocktails und Zeitschriften auf ihren Handtüchern, spielen Beachvolleyball oder schwimmen um die Wette. An der Bar ist ein Kellner damit beschäftigt, Cocktails auszuschenken.

Es ist ein buntes Treiben. Ich nehme dutzende Farben auf einmal wahr und eine herzliche, freundliche Atmosphäre schlägt mir entgegen. Obwohl ich es nicht möchte, fühlt sich ein Teil von mir sofort wohl. Der andere Teil bleibt jedoch auf der Hut.

„Mega genial!", entfährt es Kate, „eine Beachparty!"

Ich bringe nicht mehr als ein erstauntes „Oh!" zustande. Pietro lächelt mich unsicher von der Seite an. „Solange bis es dunkel wird", meint er. Zunächst bin ich vorsichtig und zurückhaltend, während Kate jauchzend ihre Schuhe auszieht und über den seichten Sand spaziert. Schließlich jedoch bewege ich mich langsam und vorsichtig auf die feiernde Gemeinschaft zu. „Der Strand gehört Massimos Eltern...", klärt Pietro mich auf, „sie haben ihn mir kostenlos zur Verfügung gestellt. Ist das nicht toll?"

Staunend blicke ich zu Massimo hinüber. Wie viel Geld muss man haben, damit man sich einen Privatstrand am Mittelmeer leisten kann? Vor allem in der angeblich schönsten Region Italiens. Eine Menge, so viel ist klar.

„Schon", sage ich. Mehr bringe ich vor lauter Staunen nicht heraus.

Wenn es darum geht, mich anderen Leuten vorzustellen, ist Pietro nicht ganz so aufdringlich wie meine Großmutter. Im Grunde genommen verhält er sich schon fast zurückhaltend. Von seinen Jungs lerne ich nur wenige kennen, da die meisten so sehr beschäftigt sind, dass sie uns gar nicht bemerken. Dafür kommen viele Mädels neugierig auf uns zu und nachdem sie mich herzlich umarmt haben, bieten sie mir sogar an, dass ich mich zu ihnen setze.

Nach kurzem Zögern willige ich ein und schon bald werde ich zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Clique hier scheint sich schon ewig zu kennen und ich bin die Neue. Klar, dass ich da erst mal viel Interesse auf mich ziehe. Dazugehören werde ich wahrscheinlich trotzdem nie. Zeit und gemeinsame Erlebnisse verbinden die Menschen und wenn alles gut geht, werde ich nur ein Jahr mit den Leuten hier verbringen, bevor ich wieder nach Großbritannien zurückkehre. Auch wenn ich ehrlich zugeben muss, dass ich selten mit Menschen zu tun hatte, die so herzlich und offen sind.

Nachdem er sich mehrmals vergewissert hat, dass alles in Ordnung ist, überlässt mich Pietro der Obhut der Mädels und aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Kate und Massimo sich zusammen an der Bar etwas zum Trinken holen. Also alles bestens.

Währenddessen löchern mich die Mädels mit Fragen. Es scheint, als wollten sie alles über mich in Erfahrung bringen.

„Regnet es in England wirklich so oft, wie man immer hört?"

„Wie lange wohnst du schon in Italien?"

„Wie gefällt es dir hier?"

„Warum sind deine Eltern geschieden?"

„Hast du einen Freund?"

„Gehst du gerne shoppen?"

„Was willst du nach der Schule machen?"

Auf die meisten Fragen weiß ich gar nicht, was ich antworten soll und klappe sprachlos den Mund auf, um „Ähm..." und „Also..." herauszupressen. Zum Glück füllen die Mädels die Momente der unangenehmen Stille meist mit Geschichten von sich. So erfahre ich zum Beispiel, dass sie Stella, Ana, Chiara und Marietta heißen und dass alle den klassischen Zweig des Gymnasiums besuchen, so wie ich.

„Ich werde auf jeden Fall in Mailand Mode und Design studieren", sagt Stella, als ob das schon seit langem feststünde.

Die anderen Mädels aus der Gruppe wissen noch nicht so genau, was sie nach der Schule machen wollen. Marietta und Ana planen ein Auslandsjahr, um das Leben noch mal richtig zu genießen und andere Kulturen kennenzulernen, bevor es mit dem Studium losgeht. Anas Familie kommt ursprünglich aus Peru, weshalb sie dort nach dem Schulabschluss auf einer Farm arbeiten möchte, bevor sie dann studiert.

Von meinem Wunsch, in London zu studieren, sind die Mädels deshalb ziemlich begeistert. „Das klingt unglaublich spannend. Stell dir vor, du lernst an der Uni einen englischen Herzog kennen und verliebst dich in ihn", schwärmt Chiara.

Autsch! Naja, so habe ich mir mein Studium eigentlich nicht vorgestellt. Außerdem entsprechen englische Herzöge nicht so ganz meiner Vorstellung von einem Kerl, in den ich mich womöglich mal verliebe. Vor allem ist die Uni überhaupt nicht für so einen Quatsch da! „Ich glaube eher nicht", sage ich ausweichend, aber Stella lenkt sowieso zu einem anderen Thema über.

„Sag mal, du hast schon mal hier gewohnt, oder?", will sie neugierig wissen.

„Ja, bis ich fünf oder sechs Jahre alt war."

„Dann warst du glaub ich mal auf einem meiner Kindergeburtstage. Das gibt's doch nicht! Wie abgefahren!" Ihre Stimme ist so hoch, dass sie sich schon fast überschlägt. „Dann sind wir sogar Freundinnen!"

„Äh, kann sein", sage ich erschrocken. Bis auf Pietro erinnere ich mich an keine:n meiner alten Freund:innen. Falls ich tatsächlich mal auf einem von Stellas Geburtstagen gewesen sein sollte, weiß ich nichts mehr davon. Aber das ist egal. Allein durch Stellas Vermutung steigt mein Interessantheitsgrad schlagartig noch mehr. Dass das überhaupt möglich ist, hätte ich nicht gedacht. Ich werde sogar von Stella zur Bar gezogen, weil sie meint, unbedingt auf so einen Zufall anstoßen zu müssen. Die anderen Mädels folgen uns geduldig.

Bei einem großgewachsenen Kellner ordert Stella sechs Piña Coladas, aber auf ausdrücklichen Wunsch ohne Alkohol, was mich etwas überrascht. Trotzdem habe ich nichts dagegen. Der Alkohol von gestern Abend hat mir eigentlich gereicht, selbst wenn er keine Kopfschmerzen oder Übelkeit hinterlassen hat.

Wir nehmen an einem der Tische in der Nähe der Bar Platz, während der Kellner die Cocktails auf einem Tablett verstaut und sie mit seinem Kollegen zu uns bringt. Erst beim zweiten Hinsehen fällt mir auf, dass ich den Kollegen des Kellners kenne. Vor lauter Erstaunen fällt mir die Kinnlade herunter. Lucca. Stumm formen meine Lippen seinen Namen.

Er bemerkt mich fast im selben Moment wie ich ihn. „Na, hätte ich mir denken können, dass du auch hier bist", sagt er und knallt den Piña Colada vor mir auf den Tisch, auf den ich schlagartig keine Lust mehr habe.

„Was machst du hier?", frage ich erschrocken, „ich dachte, du hasst Pietro?"

„Geld verdienen. Ich springe für meinen Bruder ein. Nicht dass dich das was angehen würde", meint Lucca, „es geht ja nicht jedem so gut wie dir und deiner Familie. Nicht jeder bekommt das, was er gerne haben möchte, ohne dafür zu arbeiten."

Nicht jeder bekommt das, was er gerne haben möchte, ohne dafür zu arbeiten? Mum war in England ein Jahr lang arbeitslos und wir haben von Sozialhilfe gelebt. Selbst als sie dann eine Stelle hatte, sah unser Familienkonto nicht gerade rosig aus. Ich habe mit zwei Nebenjobs ausgeholfen, wo ich nur konnte, um Geld dazu zu verdienen. Niemand kann mir und Kate vorwerfen, wir wären verwöhnte Gören, denen es an nichts fehlt. Hätten Mum und Andrew ihr Einkommen nicht irgendwann zusammen gelegt, wäre das Geld am Ende des Monats öfter zu knapp gewesen.

„Übrigens, die Kette ist hässlich." Angewidert zeigt Lucca auf die Kette der Bellucos mit den vier Elementen. Bevor ich irgendetwas zurückfeuern kann, klemmt sich Lucca lässig das Tablett unter den Arm und schlendert vergnügt pfeifend davon. Entsetzt drehe ich mich zu ihm um. Meinem Mund entschlüpft ein erschrockener Laut, für den ich mich selbst hasse.

„Was für ein Arschloch", sagt Stella abwertend und setzt sich eine große Sonnenbrille auf die Nase. „Er denkt, er wäre etwas Besseres. Nur weil er und seine zwei Brüder in einer Gang sind. Mal ehrlich, die haben schon so viel Scheiß angestellt. Letztes Jahr sind sie in das Haus von Pietros Großmutter eingebrochen und haben dabei die arme Frau fast zu Tode erschreckt." So wie Stella das sagt, klingt es, als handele es sich um feststehende Tatsachen und nicht um Provinzgerüchte. Aber noch immer will ich nicht daran glauben, dass es tatsächlich eine Gang gibt.

„Sie sind eingebrochen?", frage ich ungläubig. In das Haus von Pietros Großmutter, Maria Vecca. Also in das Haus, in dem ich jetzt lebe.

Stella nickt bedächtig. „Ja, aber sie sind alle ohne größere Strafen davongekommen. Sie haben halt die richtigen Connections. Seitdem führt sich Lucca auf, als sei er der Größte. Er ist einfach nur ein Widerling." In dem Punkt stimme ich absolut mit ihr überein. Scheint so, als wäre ich nicht die Einzige, die Lucca nicht leiden kann. Wie sagt man so schön? Gemeinsame Feinde verbinden.

Gemeinsam stoßen wir auf unser Wiedersehen und die Party an. Ich lasse mit Absicht etwas von dem Cocktail übrig und sammele die anderen Gläser der Mädels ein, um sie zur Bar zurück zu bringen. Dabei verschütte ich etwas von meinem Piña Colada direkt auf Luccas Shirt, woraufhin dieser unsittlich flucht. Ganz unauffällig, so als hätte ich mein Missgeschick nicht bemerkt, wende ich mich ab. Schade, zu gerne hätte ich Luccas verärgerten Gesichtsausdruck gesehen, aber ein bisschen komme ich mir dabei auch kindisch vor. Ein fieses Grinsen kann ich trotzdem nicht unterdrücken und aus den Augenwinkeln erkenne ich, dass Stella anerkennend den Daumen nach oben reckt.

Nachdem wir unsere Cocktails ausgeschlürft haben, sinken wir wieder auf unsere Handtücher. Zuerst liegen wir faul in der Sonne und spielen ein bisschen Karten, aber schließlich geben die Jungs das Beachvolleyballfeld frei und Stella schlägt vor, eine Partie zuspielen. Ich bilde gemeinsam mit ihr ein Team. Ana und Marietta sind in der gegnerischen Mannschaft. Die Mädels spielen recht gut. Besser als ich angenommen habe. Vermutlich trainieren sie alle regelmäßig in einem Verein.

Ich dahingegen komme mir vor wie eine Niete. Nicht selten muss ich dem Ball regelrecht hinterher hechten. Das macht den anderen jedoch gar nichts aus. Stella nimmt jeden meiner Ausrutscher mit einem gelassenen Lächeln hin und manchmal gelingt es ihr sogar, miserable Schläge von mir auszubessern. Noch dazu gibt sie mir brauchbare Tipps und schon bald steigert sich meine Leistung. Schließlich gewinnen wir beide sogar mit knappem Vorsprung. Ich werde von Stella herzlich umarmt und obwohl mir das normalerweise zu viel Nähe ist, lasse ich die freundschaftliche Geste zu.

Auf unsere erste Runde Piña Colada folgt eine zweite Runde alkoholfreier Caipirinha. Unsere Gläser klirren, als wir anstoßen und nach der sportlichen Anstrengung sauge ich das Getränk durch den Strohhalm nur so in mich hinein. Ganz egal, wer hier kellnert.

Gegen eine ruhige Runde Karten auf den Badehandtüchern hätte ich jetzt nichts einzuwenden, doch Stella möchte lieber schwimmen gehen. Marietta ist sofort von der Idee begeistert, aber ich lehne kopfschüttelnd ab. Obwohl es mich reizt, nach solanger Zeit endlich wieder einmal schwimmen zu gehen, beschließe ich, das auf später zu verschieben.

Zusammen mit Ana und Chiara bleibe ich am Strand zurück. Wir beschäftigen uns ein bisschen mit unseren Handys und ab und zu wandern unsere Blicke zu den anderen zwei. Stella schwimmt mit deutlichem Abstand zu Marietta. Sie fliegt geradezu durchs Wasser. Ihr Kraulstil ist ordentlich und wettkampftauglich. Ein bisschen bin ich eifersüchtig auf sie. Nicht nur, dass sie gut aussieht und eine talentierte Beachvolleyballerin ist, sie kann auch noch super schwimmen. Meine Schwimmversuche dahingegen dürften nach einem Sommer ohne Training recht dürftig wirken.

Stella ist nicht zu ermüden. Sie schwimmt selbst noch weiter, als Marietta zitternd aus dem Wasser gehüpft kommt und sich in ihr Handtuch einwickelt.

„Sie ist echt gut, nicht wahr?", bemerkt Marietta, als sie meinem Blick folgt, „sie könnte glatt bei den Rettungsschwimmern mitmachen."

„Dafür hat sie sich auch schon dutzendmal beworben", fügt Chiara hinzu, „aber die Rettungsschwimmer haben eine Nur-Männer-Regel und sie abgelehnt. Massimo und Pietro sind allerdings dabei. Stella hat sogar gefragt, ob die beiden für sie ein guten Wort einlegen. Aber bisher waren sie nicht sonderlich erfolgreich."

„Oder sie haben es niemals ernst genug probiert", schnaubt Ana.

Nur-Männer-Regel? Was ist denn das für ein Quatsch?", frage ich und bin untentschlossen, ob ich darüber lachen oder verärgert sein soll.

„Ich bin mal gespannt, was die beiden zu ihrer Performance hier sagt." Grinsend lässt sich Marietta neben mir in den Sand fallen.

Schade, dass Frauen in dem Rettungsschwimmteam scheinbar keine Chance haben. Wenn die Jungs selbst Stella, die ich als sehr gute Schwimmerin einstufen würde, ablehnen, dann wird es für jemanden wie mich unmöglich sein, dort mitzumachen. Das ist absolut unfair.

Trotzdem sehe ich Stella begeistert zu. Die Sonne bricht sich glitzernd auf dem Wasser und lässt ihre Haut in einem einzigartigen Bronzeton scheinen. Ihre Bewegungen sind elegant und kraftvoll. Sie taucht den Arm beim Kraulen sanft ins Wasser, bevor sie ihn, von Millionen Tropfen umgeben wieder hinauszieht.

Ich bemerke, dass nicht nur ich Stella wie gebannt zuschaue, sondern auch einige von den Jungs sind aus dem Wasser gekommen und beobachten sie nun. Bei dem nächsten Schwimmzug, der Stella weiter aufs Meer hinausbefördert, streckt sich ihr ganzer Körper. Dann beginnt ihr Arm in der Luft zu zucken. Zuerst halte ich den Fehler in der Bewegung für Einbildung, doch dann läuft ein Schauer durch Stellas Körper und ihre Beine ragen plötzlich aus dem Wasser.

Erschrocken halte ich die Luft an. Was ist denn da los?

Neben mir springt Marietta panisch auf. „Hilfe, Hilfe, bitte! Wir brauchen Hilfe!", schreit sie aus voller Kehle, die Augen vor Schreck weit geöffnet. Die Worte, die sie als nächstes sagt, verlassen nur in einem Flüstern ihren Mund: „Stella hat Epilepsie. Sie wird ertrinken."

Ein todeskalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter.

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