10. In aller Freundschaft
Sein Name stolpert einfach so über meine Lippen. Die Art und Weise, wie ich ihn ausspreche, klingt hoffnungslos verzweifelt und sogar ein bisschen hingebungsvoll. Darüber ärgere ich mich besonders.
Der junge Mann dreht sich ruckartig zu mir um und hebt neugierig den Kopf. Er ist hübsch. Seine Gesichtszüge sind viel glatter und ebenmäßiger als die von Jeremy. Seine Lippen liegen kunstvoll geschwungen unter einer kleinen Stupsnase und die hohen Wangenknochen verleihen ihm etwas Elegantes und gleichzeitig Hartes. Seine blauen Augen funkeln mich an, als er zaghaft lächelt.
Enttäuscht stoße ich die Luft aus, die ich bis dahin angehalten habe. Das ist nicht Jeremy. Dafür sieht er viel zu gut aus. Aber wen haben meine Großeltern dann eingeladen?
Schon im nächsten Moment wird mein Blickkontakt zu dem jungen Mann abgebrochen, weil eine der alten Frauen mich zu sich hinunterzieht, um mir einen feuchten Kuss auf die Wange zu drücken. Panisch blicke ich mich nach Hilfe um, doch ich versinke immer tiefer in dem Haufen von Körpern, die sich an mich quetschen.
Schließlich greift meine Großmutter jedoch ein, indem sie meinen Arm festumklammert und mich aus dem Gewühl von Leibern zieht. „Äh... Nonna, wer sind diese Leute?", frage ich, als ich endlich wieder frei atmen kann. „Das sind Freunde und Verwandte, Liebes", meint sie stolz.
„Und hier sind die besonderen Gäste", fährt Nonna fort und ehe ich mich versehe, stehe ich auch schon vor dem blonden jungen Mann, der mir eben aufgefallen ist. Von Nahem ist er hübscher als aus der Ferne. Allerdings hat er nun noch mehr von seiner Ähnlichkeit mit Jeremy verloren.
„Das ist Pietro Belluco." Pietro Belluco, der kleine, dicke, blonde Junge auf dem Kinderfoto, das mir mein Großvater geschenkt hat, soll dieser junge Mann sein? Nie im Leben!
„Buon compleanno, Brionna", sagt er lächelnd und breitet die Arme aus. Hastig tritt er einen Schritt auf mich zu und drückt mich gegen seine Brust. Meine Muskeln spannen sich an, als wären sie zu Stein erstarrt. Stocksteif stehe ich da. Zu viel Nähe. Der Geruch von Pietros Aftershave kitzelt in meiner Nase und obwohl seine Berührung unangenehm ist, kann ich nicht anders als denken: „Der riecht vielleicht gut."
Nach dem Moment dieser peinlich fremden Umarmung lässt Pietro mich los. Schweiß sammelt sich in meinen Achselhöhlen. Das hat bestimmt nichts mit der italienischen Abendwärme zu tun.
„Ähm... hi", stottere ich und strecke ihm vorsichtig die Hand entgegen, die er mit festem Griff schüttelt.
Wenn ich an Pietro denke, wird mir warm ums Herz. Das liegt bestimmt daran, dass ich ihn in der wohl besten Zeit meines Lebens kannte. Allein die Erinnerungen an ihn machen mich ein bisschen glücklicher. Wie Sonnenstrahlen, die leise über meine Haut tasten. Aber ich bin nicht so naiv, das, was einmal war, auf die Gegenwart zu übertragen. Heute sind wir Fremde, keine Freunde mehr.
„Schön... dich zu sehen." Seine lächelnden Augen fahren vorsichtig an meinem Körper herunter. Auch er hat mich seit Jahren nicht mehr gesehen und vermutlich sind seine Erinnerungen von mir ganz anders als mein jetziges Erscheinungsbild. Ich fühle mich richtig unwohl. Unwillkürlich frage ich mich, was Pietro sieht.
Bevor ich jedoch die Gelegenheit bekomme, mir darüber mehr Gedanken zu machen, reißt mich Nonna auch schon von Pietro fort, um mich den restlichen Mitgliedern seiner Familie, nämlich seinen Eltern und seinen zwei jüngeren Geschwistern, Davide und Vittoria, vorzustellen. Sie alle sind wie Pietro groß, blond, gut gebaut und sympathisch. Außerdem trägt jeder der fünf Markenklamotten, sofern ich das mit meinem ungeschulten Auge richtig beurteilen kann. Eine Vorzeigefamilie wie sie im Buche steht. Ich wette, die haben jede Menge Kohle.
Ich habe gerade genug Zeit, einen ersten optischen Eindruck von den Bellucos zu gewinnen, da entführt mich Nonna erneut. Nun lerne ich die verrunzelten, alten Frauen kennen, die sich zur Begrüßung so herzlich an mich gedrückt haben. Hinzu kommen noch Ehemänner, Kinder und Enkel. Bald schwirren so viele Namen in meinem Kopf herum, dass ich sie mir gar nicht alle merken kann. Es gibt drei Marias, vier Marios und fünf Giovannis. Außerdem noch einen Marco, eine Helena, eine Olivia, einen Tizian, einen Pepe, eine Emilia und ein paar mehr. Definitiv zu viele Menschen für einen Abend.
Schließlich, als ich endlich die Vorstellungsrunde hinter mir habe, stellen sich die Gäst:innen auf, um ein Ständchen zu singen. Es ist ein italienisches Geburtstagslied, das Mum jedes Jahr für uns zum Besten gibt.
Danach darf ich endlich zum Essen Platz nehmen und werde, zumindest fürs Erste, von den fremden Menschen in Ruhe gelassen. Meine Großeltern haben mit Mums Hilfe ein paar Tische im Garten aufgebaut. Die meisten von ihnen sind schon voll besetzt. Nur bei Pietro und seiner Familie sind noch ein paar Stühle frei. Genau dort setzen Kate und ich uns jetzt hin.
Ich sehe die Bellucos an, Davide, Vittoria und Pietro, und frage mich,wie diese perfekten, hübschen, blonden Kinder wohl ihren achtzehnten Geburtstag feiern werden. Richtig klischeehaft bestimmt. Pietro und Davide werden eine Party mit lauter Musik und Alkohol schmeißen. Dann, irgendwann gegen Mitternacht wird ein Auto vorrollen. Ein Geschenk von Mami und Papi.
Vittorias achtzehnter Geburtstag dahingegen wird richtig kitschig mit Zuckergusstorten, Diashows und rührenden, tränenreichen Umarmungen. Selbst Lucca, der mit mürrischem Gesicht und der Hilfe meiner Mutter die Vorspeise, einen Salat mit Essig und Öl als Dressing, auftischt, konnte sich bestimmt aussuchen, was er an seinem Geburtstag machen will. Ohne zu einer Feier mit lauter Fremden gezwungen zu werden.
Vermutlich sieht die Realität jedoch ganz anders aus als das, was ich mir ausmale. Deshalb beschließe ich, diese Gedanken beiseite zu schieben.
„Hey!", sagt Pietro, reicht mir ein Stück Brot und lächelt.
Mehr als ein leises „Hi" bringe ich nicht zustande. Meine Stimme höre ich nur von weit weg. „Schön, dich wiederzusehen."
„Ja... ist schon lange her." Noch immer ist meine Stimme hoch und piepsig, aber wenigstens hat sich mein schnell pochendes Herz ein bisschen beruhigt. Pietro Belluco. Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich ihn zuletzt gesehen habe? Zwölf Jahre? Dreizehn?
Von dem Jungen, der er damals war, ist nicht viel übrig geblieben. Sogar seine Augen haben sich verändert. Sie sind größer geworden und heller. Ein wenig erinnern mich die blau-grünen Schattierungen seiner Iris an das glänzende Mittelmeer, auf das die Sonne scheint. Ich weiß, der Vergleich ist kitschig, aber einen besseren finde ich nicht.
„Ja, du hast dich echt verändert", meint er und lächelt ebenfalls schüchtern, „du siehst echt gut aus."
„Äh... Danke?", stammele ich. Was soll ich dazu sagen? Dass für ihn dasselbe gilt etwa?
Zum Glück werden wir in diesem Moment von meinen Großeltern und meiner Mutter unterbrochen, die sich auf die letzten freien Stühle an dem Tisch setzen und augenblicklich beginnen, in voller Lautstärke zu quatschen. „Sagen Sie, Alessandro, werden Sie uns dieses Jahr wieder mit Wein beliefern?", fragt Nonna und lehnt sich interessiert vor.
„Selbstverständlich", antwortet Pietros Vater. Seine Stimme ist angenehm. Für sein Alter ist er ein recht attraktiver Mann. Erste weiße Strähnen ziehen sich durch sein blondes Haar und verleihen ihm einen charismatischen Ausdruck.
„Brionna, Liebes, Pietros Eltern besitzen ein Weingut", erklärt Nonna und sieht mich mit einem belehrenden Blick an. Ich nicke. Dass die Bellucos ein Weingut besitzen, weiß ich bereits.
In meinen Erinnerungen sehe ich die Reihen von Rebstöcken vor mir, zwischen denen Pietro und ich als Kinder Fangen und Verstecken spielten oder den Hasen hinterher jagten, die der Familie gehörten. Manchmal stibitzten wir auch ein paar Trauben und stopften uns so viele in den Mund, bis wir kaum noch sprechen konnten. Bei dem Gedanke daran muss ich lächeln.
„An dem Fest der Regatta nehmen Sie auch teil, nicht wahr?", erkundet sich Nonna noch interessierter als zuvor.
„Natürlich. Besonders wenn wir wieder dieselben Standnachbarn haben wie in den letzten Jahren."
„Ach Alessandro, Sie schmeicheln uns", kichert Nonna. Ich finde, ihr Lachen klingt etwas zu laut und aufgesetzt.
„Weißt du, was das Fest der Regatta ist?", flüstert Grandpa mir leise ins Ohr.
Erschrocken zucke ich zusammen, doch dann schüttele ich den Kopf. „Jedes Jahr Ende September findet entlang der toskanischen Küste eine Segelregatta statt. Castiglione della Pescaia bildet den Abschluss von insgesamt fünf Stationen. Die Siegerehrung und die anschließende Feier finden hier statt", erklärt mein Großvater, „und wir geben uns natürlich jede Mühe, das Fest so schön wie möglich auszurichten." Die anderen Gäst:innen am Tisch sind still geworden und haben ihm zugehört.
„Das ist immer ein großes Fest", pflichtet Nonna ihm bei, „es gibt Musik und es wird viel getanzt. Wir bieten Essen und Trinken an."
Sie legt einen Arm um Grandpa und wirft ihm einen bedeutungsschwangeren Blick zu, woraufhin er sich vorsichtig räuspert. „Pietro, wenn du noch nichts vorhast, möchtest du Brionny dann vielleicht zu dem Fest der Regatta begleiten?"
Oh nein! Das bedeutet der Nonna-Blick also. Am liebsten wäre ich auf der Stelle im Erdboden versunken. Wenn ich mit Pietro auf dieses Fest gehen wollte, hätte ich ihn schließlich auch selbst fragen können! Oder er mich. Zu allem Überfluss sind Pietros Eltern auch von dieser Idee begeistert. „Das wäre hervorragend!", sagt seine Mutter und klatscht in die Hände.
„Hättest du... Lust?" Pietro wirkt schüchtern. Deshalb tut mir das, was ich jetzt gleich antworten werde, leid. Aber besser eine Absage als einen falschen Eindruck. Außerdem nervt es mich, dass andere meinen, sie könnten für mich Entscheidungen treffen.
„Nein."
„Sie meint das nicht so." Mum. Klar, dass sie da mitreden will. Ich habe ihr nie von meinen Dates oder Jungs erzählt, die ich interessant finde. Nicht mal Jeremy hat sie kennengelernt. Deshalb geht sie davon aus, dass ich überhaupt kein Liebesleben besitze und das würde sie gerne ändern.
„Natürlich meine ich das so!", widerspreche ich.
„Brionna, du kannst doch nicht alleine dort hingehen! Du brauchst eine Verabredung mit einem Jungen!", mischt Nonna sich ein.
Verärgert lasse ich meine Gabel sinken. In welchem Jahrhundert leben wir denn? Als ob ich einen Kerl brauchen würde um auszugehen. Schließlich bin ich ein selbstständiger Mensch.
„Nicht als Date oder so...", fügt Pietro rasch hinzu, dem die Situation ebenfalls sichtlich unangenehm ist, „wir müssen ja auch keine Verabredung haben. Wir können uns ja einfach dort treffen. Ich bin wahrscheinlich sowieso mit ein paar Leuten da."
„Ja, so können wir es machen", antworte ich genervt, damit dieses peinliche Gespräch endlich ein Ende hat. Schon allein deswegen ist mir die Lust auf dieses Fest der Regatta gründlich vergangen.
Nach diesem unangenehmen Gesprächsstart, schreitet der Abend jedoch mit fröhlich angehauchter Stimmung fort. Nach dem ersten Zwischengang verteile ich mit Nonna die Gastgeschenke, ein paar selbstgebackene Kekse und ein Fläschchen Likör. Im Gegenzug erhalte ich meine eigenen Geschenke. Von dem Cousin meiner Großmutter bekomme ich eine elektrische Zahnbürste, die Großcousine meiner Mutter überreicht mir einen Strohsonnenhut und einer der unzähligen Giovannis schenkt mir ein paar bunte Wollsocken, die seine Frau gestrickt hat. Manchmal ist auch ein Umschlag mit Geld dabei. Von Grandpa und Nonna bekomme ich ein Notizbuch und Mum überreicht mir eine Schatulle mit buntem Perlenschmuck, den ich in diesem Leben vermutlich niemals tragen werde.
Einige meiner Verwandten wollen mit mir mit einem Gläschen Schnaps auf den Geburtstag anstoßen, was dazu führt, dass mir schon bald schwindelig wird und ich mich der lauten, gackernden Gesellschaft ein bisschen annähere.
Die Speisekarte sieht zwei Hauptgerichte vor, Fleisch und Fisch, doch bereits nach dem Ersten ist mein Magen so sehr gefüllt, dass ich nur noch mit Mühe Nahrung nachstopfen kann. Ich fühle mich wie ein Schwein, das auf dem Weg zum Schlachter extra gemästet wird.
Während des Essens unterhält sich Pietro mit mir. Wir reden hauptsächlich über die guten, alten Zeiten, in denen wir die dicksten Freunde waren, aber ich erfahre auch einiges über ihn. Er ist zum Beispiel Mitglied bei den Rettungsschwimmern, die in der Hochsaison die Küstenwache bei der Badeaufsicht unterstützen. Aber Schwimmen ist nur eine Sache, die wir gemeinsam haben. Pietro besucht nämlich den klassischen Zweig des Gymnasiums, auf das ich ab der nächsten Woche auch gehen werde.
„Vielleicht sind wir ja in derselben Klasse", sagt er begeistert.
Vor dem Dessert stellen sich ein paar von Nonnas Freunden mit Akkordeon und Cello in den Garten und es wird getanzt. Grandpa ist der Erste, der mich zum Tanzen auffordert, dann werde ich an einen der Cousins weitergereicht, bis ich letztendlich in Pietros Armen lande. Wie genau ich dort gelandet bin, weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall geben wir das Tanzen ziemlich schnell auf, da ich ihm immer wieder auf die Füße trete.
Mit vollem Magen und immer noch schwindeligem Kopf lasse ich mich neben ihm auf der Hollywoodschaukel nieder, die neben den Tischen steht. „Sorry, ich bin nicht besonders talentiert im Tanzen", seufze ich, während ich mich zurücklehne und in den Sternenhimmel hinaufblicke. Hier, im Lärm der Geburtstagsparty, kommt er mir unglaublich weit weg und so irreal vor, mit all den blinkenden, funkelnden Punkten. Trotzdem werde ich beim Anblick des Himmels und der unendlichen Weite des Weltalls ein bisschen ruhiger.
„Ist nicht schlimm. Jeder hat seine Stärken woanders", meint Pietro und lehnt sich nach vorne, sodass die Schaukel ganz leicht hin- und herschwingt.
„Das kann aber auch daran liegen, dass ich ein bisschen beschwipst bin. Die wollten alle mit Schnaps auf mich anstoßen und ich glaube, das ist mir ein bisschen zu Kopfe gestiegen." Allein das Geständnis zeigt die Auswirkungen, die der Alkohol auf mich hat. Unter normalen Umständen hätte ich das niemals zugegeben. Ich hasse die auflockernde, belustigende Stimmung, die der Alkohol in mir hervorruft. Das ist auch der Grund dafür, dass ich meistens die Finger davon lasse.
„Kein Problem. Ich war an meinem achtzehnten Geburtstag auch betrunken." Aha. Also hatte ich Recht mit meiner Vermutung von einer Riesenparty mit Alkohol.
„Hast du groß gefeiert?", vergewissere ich mich trotzdem noch einmal.
„Um genau zu sein, feiere ich morgen."
„Morgen?" Erstaunt lehne ich mich vor.
„Ja, wenn du willst, kannst du auch kommen. Ich hätte dich ja schon früher eingeladen, glaub mir, aber irgendwie hat sich nie die passende Gelegenheit ergeben..." Ist das etwa eine Entschuldigung? Mir ist es doch vollkommen egal, ob ich auf Pietros Geburtstag eingeladen bin oder nicht. Wir haben uns schließlich heute Abend zum ersten Mal seit dreizehn Jahren wiedergetroffen.
„Kann Kate auch mitkommen?"
Unschlüssig zuckt Pietro mit den Schultern. „Wieso nicht?"
„Ist das ein Ja?"
„Ich denke schon."
„Okay. Wann und wo findet das Ganze denn statt?"
„Könnt ihr um vier am Hafen sein? Ich hol' euch da ab, dann können wir zusammen hingehn. Und bringt Badesachen mit." Mehr verrät er nicht, obwohl ich versuche, ihn ein bisschen auszuquetschen, um in Erfahrung zu bringen, wo genau seine Party morgen stattfinden wird. Aber um ehrlich zu sein, kenne ich mich überhaupt nicht in der Gegend aus und wenn er mir einen genauen Ort genannt hätte, hätte ich vermutlich sowieso nichts damit anfangen können.
„Wann hattest du denn Geburtstag?", will ich neugierig wissen. Wenn er morgen erst feiert, bedeutet das ja wohl, dass er noch nicht allzu lange achtzehn ist.
„Vor drei Tagen. Am sechsundzwanzigsten August."
„Dann alles Gute nachträglich", kichere ich und schüttele seine Hand. Einen Moment später kann ich nicht fassen, dass ich das gerade getan habe. Ihm die Hand geschüttelt und gekichert. Ich glaube, ich muss dringend ins Bett. Daraus wird jedoch vor Mitternacht nichts.
Meine Großeltern schaffen nämlich eine riesige Torte mit Wunderkerzen herbei, die ich unter großem Trara anschneiden muss. Dann erhält jede:r der Gäst:innen ein Stück davon. Dazu gibt es noch Eis und selbstgebackene Kekse, aber schließlich haben wir das Festmahl endlich hinter uns gebracht.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich richtig dick. Mein Bauch zeichnet sich unter meinem Kleid ab, als wäre ich schwanger und ich habe den Eindruck, für die nächsten zwei Wochen nichts mehr essen zu müssen. Bei jeglichem Gedanken an Essen wird mir schlecht und mein vollgestopfter Magen beschwert sich.
Nach und nach verschwinden die Gäst:innen, bis schließlich außer der Familie Belluco, meinen Großeltern, Mum, Kate und mir niemand mehr da ist. Nonna unterhält sich lautstark mit Pietros Eltern, während Kate mit Davide und Vittoria über der neusten Version des iPhone hängt und sich irgendetwas ansieht.
Müde reibe ich mir über die Augen und erst ein paar Sekunden später fällt mir ein, dass ich mich am Nachmittag geschminkt habe und dass ich nun womöglich das ganze Makeup verwischt habe.
„Bist du müde? Soll ich dich nach Hause bringen?", fragt Pietro fürsorglich.
„Ich glaube nicht, dass ich mich einfach so aus dem Staub machen kann", gebe ich zu bedenken. Daraufhin zuckt er jedoch mit den Schultern. „Die sind so beschäftigt... die merken bestimmt nicht, wenn wir einfach verschwinden." Sein Lächeln ist so verschmitzt und klar, dass ich nicht anders kann, als zurück zu grinsen und zu nicken. Je eher ich zu Hause und damit auch in meinem Bett bin, desto besser.
Still und heimlich stehe ich auf und folge Pietro in den Schankraum des Restaurants, der um diese Uhrzeit völlig ausgestorben und leer ist. Nur die leise Hintergrundmusik ist noch zu hören.
„Weißt du überhaupt, wo ich wohne?", erkunde ich mich.
„Ja, meine Großmutter hat ja früher in eurem Haus gewohnt, bevor sie gestorben ist." Moment? Großmutter? Aber das bedeutet doch...
„Deine Großmutter ist Maria Vecca?!", entfährt es mir. Maria Vecca. Die Frau, von der vermutlich das Tagebuch stammt, das ich gefunden habe. Die Freundin meiner Großeltern. Pietros Nonna.
„Ja. Genaugenommen hieß sie Maria Iana Vecca. Also das war ihr Mädchenname. Woher kennst du sie?", fragt er erstaunt. MIV. Jetzt weiß ich, wofür die Buchstaben stehen. Sie sind Abkürzungen für Marias vollen Namen. Maria Iana Vecca.
„Ich... ich kenne sie nicht. Meine Großeltern haben sie nur mal erwähnt." Um die Gunst des Augenblicks auszunutzen, füge ich hinzu: „Sag mal, weißt du vielleicht, ob sie Tagebuch geführt hat?"
„Wie kommst du denn darauf?", will er neugierig wissen. Bevor ich die Gelegenheit erhalte, zu antworten, treten wir aus dem Restaurant auf die Straße und stoßen fast mit Lucca und seinen Freunden zusammen, die sich zum Rauchen in einem Halbkreis aufgestellt haben.
„Belluco, du Trottel, pass auf wo du hinläufst!", pflaumt einer von ihnen Pietro an.
„Halt die Klappe, du kaputter Bastard!", zischt Pietro zurück und will gerade weitergehen, als der Typ, der ihn angeblafft hat, mit der Faust ausholt, um ihn ins Gesicht zu schlagen. In Sekundenschnelle geht Lucca jedoch dazwischen und verhindert, dass sein Freund das Ziel trifft.
„Bist du völlig irre?!", entfährt es Lucca, „ich kann mir keine Schlägerei leisten. Ich arbeite hier, schon vergessen?"
„Jetzt sei mal nicht so ein Weichei!", antwortet sein Freund darauf, doch Lucca schüttelt vehement den Kopf.
„An jedem anderen Ort und zu jedem anderen Zeitpunkt gerne, aber nicht heute und nicht hier", stellt Lucca klar. Dann wendet er sich mit düsterem Gesichtsausdruck an Pietro und mich. „Es wäre trotzdem gut, wenn ihr jetzt die Fliege macht."
„Gern geschehen, das wollten wir gerade tun. Besser, als in eurer Gesellschaft zu bleiben." Mit diesen Worten hake ich mich bei Pietro ein und ziehe ihn von den anderen fort. Nichts wie weg hier! Auch wenn ich Luccas Gerede von einer Schlägerei nur für warme Luft halte, will ich es dennoch nicht darauf ankommen lassen. Wer weiß, wozu diese Kerle im Stande sind. Besonders freundlich wirken sie ja nicht.
„Ihr seid ein tolles Paar", ruft uns ein anderer von Luccas Freunden hinterher, „beide eingebildet. Die Engländerin und der Snob." Die Worte bringen mich innerlich zum Kochen. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und irgendetwas erwidert.
„Ignorier sie einfach", meint Pietro schulterzuckend, „die haben nicht besonders viel Niveau... da kann man nichts Überragendes erwarten. Immerhin sind sie Gangmitglieder."
„Gangmitglieder?" Am liebsten hätte ich gelacht. Hinter dem Gehabe dieser Gruppe steckt doch nicht mehr als kindische Wichtigtuerei. Im Team fühlt man sich eben stärker und mutiger. Aber deshalb muss man es nicht gleich übertreiben und sich als Gang aufspielen. Ich wette, Lucca und seine Freunde wissen noch nicht mal, was eine richtige Gang überhaupt ist.
„Ja, mit Drogendealen und Waffenbesitz." Pietro zuckt mit den Schultern. Erschrocken klappt mir der Mund auf, doch noch immer steckt der Anflug eines Lachens in meiner Kehle. Als ob es hier, in Castiglione della Pescaia, dem kleinen, verschlafenen Ort am Mittelmeer, Gangs, Drogen und Waffen geben würde. Das kann ich Pietro nicht glauben. Bestimmt beruft er sich da auf irgendwelche üblen Gerüchte, die gerade im Umlauf sind.
Ich verabschiede mich an der Haustür von Pietro, obwohl ich ihm ansehe, dass er gerne noch einmal mit reingekommen wäre. „Das war einschöner Abend", meint er lächelnd, „ich freue mich schon auf morgen."
Bevor er geht, zieht er mich schwungvoll zu sich heran und drückt einen flüchtigen Kuss auf meine Wange. Das Ganze geschieht schneller, als ich es realisieren kann und ehe ich begreife, was gerade passiert, ist es auch schon vorbei.
Der Kuss lässt mich schwummrig, allein und vor allem verwirrt zurück.
~
Die Küche ist dunkel. Nur das schwache Licht der Straßenlaterne scheint in den Raum. Aber es dauert nicht mehr lange, bis die helle Sommersonne den Himmel emporklettert und die Laternen verblassen. Ich kann nicht schlafen. Schuld daran ist Pietro.
Warum musste er mich auch zum Abschied küssen? Hätte es nicht eine einfache Umarmung getan? Das wäre doch schon mehr Nähe, als ich eigentlich zulassen will. Meine Gedanken wandern zu Jeremy und ein dicker Kloß breitet sich in meiner Kehle aus, aber ich weine nicht. Das tue ich nie.
Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich nach Jeremy Ausschau halte, in der Hoffnung, ihn wiederzusehen, weil er nach Italien gekommen ist, um sich bei mir für sein idiotisches Verhalten zu entschuldigen. Aber weshalb sollte er hier sein? Das ist völlig unmöglich und trotzdem hoffe ich es so sehr.
„I love you", flüstere ich in die Stille der Nacht. Genauso gut hätte ich schreien können, das hätte keinen Unterschied gemacht, weil derjenige, den ich meine, es so oder so nicht hört.
Vor mir liegen die Geburtstagsgeschenke meiner Gäst:innen auf dem Tisch. Um mich ein bisschen von meiner inneren Unruhe abzulenken, öffne ich die Grußkarten. Einige von ihnen sind mit Geldscheinen gefüllt und dudeln irgendeine schräge Melodie, wenn man sie aufklappt.
Als Letztes schaue ich in den Umschlag von Pietro und seiner Familie. Beim Öffnen fällt mir eine Lederkette in den Schoß.
An dem Band der Kette baumelt ein kleiner, silberner Anhänger. Beim genaueren Betrachten fällt auf, dass vier Zeichen in diesen Anhänger graviert sind. Eine Wolke, eine Welle, ein Baum und eine Flamme. Wie Luft, Wasser, Erde und Feuer. Die vier Elemente.
Irgendwie gefällt mir die Kette. Besonders weil Pietro und seine Eltern meinen Geschmack viel besser getroffen haben als Mum mit ihrem bunten Perlenschmuck.
Neben der Kette liegen ein Kinderfoto und eine Geburtstagskarte in dem Umschlag. Das Kinderfoto ist dasselbe, das Grandpa mir an unserem ersten Tag in Italien geschenkt hat. Irgendetwas ist jedoch anders. Erst nachdem ich das Bild ein paar Augenblicke lang intensiv gemustert habe, fällt mir auf, was auf dem Bild fehlt. Ungläubig stürme ich die Treppe hoch in mein Zimmer und schaue mir das Bild von Grandpa an, das ich in einem Rahmen auf der Kommode abgestellt habe.
Tatsächlich. Lucca ist auf dem Foto von Pietros Familie nicht zu erkennen. Sie haben ihn ausgeschnitten, verblasst, als wäre er nie da gewesen. An der Stelle, an der Lucca einmal stand, klafft eine Lücke.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top