1. Prolog
Es geschah an einem warmen Abend, der den Abschluss eines noch wärmeren Tages bildete. Obwohl die Sonne bereits im tiefblauen Mittelmeer versank und mit ihren letzten Strahlen den Himmel und das Wasser in eine Farbmischung aus rot, gelb und violett tauchte, zeigte das Thermometer noch über 25 Grad. Wenn man nun an jenem Abend durch die verwinkelten und engen Gassen jener italienischen Kleinstadt geschlendert wäre, in der unsere Geschichte spielt, hätte man vermutlich den weißen Wüstensand auf der Haut spüren können, der von den heißen Winden Afrikas bis nach Europa getragen wurde.
Es war Juli. Mitten in der Hochsaison. Sommer bedeutete jede Menge Arbeit für diejenigen Bewohner der italienischen Kleinstadt, die in der Tourismusbranche oder der Gastronomie beschäftigt waren. Aber auch die Besitzer der kleinen Souvenirläden in den verwinkelten Gassen standen den ganzen Tag hinter der Kasse in ihren Geschäften. Es gab also kaum jemanden, der um diese Jahreszeit nicht alle Hände voll zu tun hatte. Trotzdem gelang es den Einheimischen, die Touristen, die auf der Suche nach Sehenswürdigkeiten, ein bisschen Ruhe oder der Magie dieses einzigartigen Ortes in ihre Kleinstadt strömten, liebevoll zu versorgen.
Gegen Abend öffneten deshalb jede Menge Restaurants, damit die Urlauber, die mit leeren Mägen, mit von der Sonne geröteten Gesichtern und mit Salzwasser auf der Haut vom Strand kamen, etwas essen konnten. Eines dieser Restaurants hieß: le tre conchiglie. Unter dem roten Schild, das am Eingang des Restaurants hing und auf das jemand mit goldener Schrift dessen Namen geschrieben hatte, stand: „English & Italian cooking".
In dem Restaurant war um die Uhrzeit noch nicht besonders viel los. Die meisten Gäste kamen später am Abend, wenn die ersten Sterne am Himmel empor kletterten und die Luft ein bisschen abkühlte. Lediglich eine fünfköpfige Familie saß an einem langen Tisch nahe der Tür.
Etwas weiter hinten im Restaurant, in der Nähe des schmalen Flurs, der zur Küche führte, saß ein kleines Mädchen auf dem Boden. Dunkle Locken umrahmten ihr Gesicht. Sie spielte gedankenverloren mit ihren Puppen und schien nichts von ihrer Umgebung mitzubekommen. So ließ sie sich auch nicht von einem strohblonden Jungen und einem anderen Mädchen in marineblauem Kleid stören, die um sie herumsprangen, Fangen spielten und dabei jede Menge Lärm verursachten.
Nur die Eltern der fünfköpfigen Familie regten sich manchmal mit einem genervten Schnauben darüber auf, da sie ihre eigenen Kinder kaum dazu bringen konnten, still sitzen zu bleiben und fertig zu essen.
„Fang mich doch, du Eierloch!", rief das Mädchen im marineblauen Kleid und streckte übermütig die Zunge heraus. Doch der Junge war schneller als sie. Wie ein Blitz schoss er auf sie zu und berührte ihr Kleid mit den Fingerspitzen leicht am Rücken. „Ich hab dich!", feixte er triumphierend, „jetzt bist du dran!"
Das Mädchen verzog das Gesicht. Gegen ihn hatte sie keine Chance, das wusste sie genau. Aber da sie nicht als Spielverderberin gelten wollte, nahm sie die Herausforderung an und jagte dem Jungen hinterher. Sein blonder Wuschelkopf tauchte immer wieder hinter Tischen und Stühlen ab, wodurch es ihr schwerfiel, auch nur in seine Nähe zu kommen.
Schließlich jedoch hatte sie ihn fast erreicht. Sie musste nur noch den Arm ausstrecken, um ihn zu berühren. Ein bisschen weiter, dann hätte sie es geschafft. Nur ein ganz kleines bisschen...
Da rannte der Junge auf einmal in den schmalen Flur, der zur Küche des Restaurants führte. Mit aller Kraft schlug er die Tür zu, die den Gästebereich vom Arbeitsbereich trennte.
Das Mädchen in Marineblau blieb ruckartig stehen und starrte erschrocken auf ihre ausgestreckte Hand. Dann wanderte ihr Blick weiter zu dem Glas, das in der Tür eingelassen war. Durch die Wucht des Zuschlagens zogen sich nun feine Risse an der Scheibe entlang. Es sah ganz danach aus, als würde sie jeden Augenblick zerbersten.
Schreiend sprang das Mädchen beiseite. Keine Sekunde zu spät, denn schon im nächsten Moment regneten dutzende Scherben in einer klirrenden Symphonie herab. Hätte sie jetzt noch vor der Tür gestanden, wäre sie bestimmt mit Glassplittern bedeckt gewesen.
Erleichtert atmete sie aus. Glück gehabt! Auch der blonde Junge war mit dem Schrecken davon gekommen. Er starrte zwar völlig verdattert auf die eingefallene Scheibe, doch er war unverletzt.
Auf einmal jedoch dröhnte ein markerschütternder Schrei durch das Restaurant. Das Mädchen mit den dunklen Locken, das eben noch so vertieft gespielt hatte, saß mitten in dem Scherbenhaufen. Die Puppen hatte sie von sich geschleudert, denn in ihrem Unterarm steckte eine daumenlange Glasscherbe. Blut quoll aus der Wunde und floss über den Arm des kleinen Mädchens.
Das andere Mädchen und der Junge starrten sie entsetzt an und wagten es nicht, sich zu rühren. Eben noch hatten sie Spaß gehabt, doch die Freude war schnell verflogen. Wie ein Sandkorn im Wind. Keiner von ihnen hatte jemals so viel Blut gesehen.
Auch die fünfköpfige Familie am Tisch nahe der Tür hielt gebannt inne. Die Augen der Frau weiteten sich erschrocken und ihr Blick wurde glasig, als sei sie plötzlich an einem fremden, längst vergangenen und für andere Menschen unerreichbaren Ort. Ihr Mann beugte sich erschrocken vor und versuchte, sie aus ihrer Trance zu reißen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen, während der Schrei des kleinen Mädchens allen Anwesenden in den Ohren schmerzte.
Doch dann begann sich die Welt ganz langsam wieder zu drehen, denn das Älteste der Kinder der fünfköpfigen Familie rutschte seitlich vom Stuhl. Es war ein schmächtiger Junge, höchstens acht Jahre alt.
Hastig rannte er auf das kleine Mädchen zu. Augenblicklich hörte sie auf, zu brüllen und sah mit großen Augen zu dem Jungen hoch.
Der handelte instinktiv, als er sich zu ihr hinunterbeugte und die Scherbe aus ihrem Arm zog. Dabei schnitt er sich jedoch selbst in die Hand, sodass auch er blutete. Das schien er zuerst gar nicht zubemerken, denn er schnappte sich Servietten, die auf dem benachbarten Tisch standen und verband damit die Wunde des Mädchens.
In diesem Moment lösten sich auch endlich die Eltern des Jungen aus ihrer Starre. Ruckartig standen sie auf und riefen lauthals um Hilfe. Der Mann spurtete zu dem kleinen Mädchen und drückte mit aller Kraft auf ihre Wunde. Dass sein Sohn sich ebenfalls am Glas geschnitten hatte, bemerkten er zunächst gar nicht.
Dankbar lächelte das kleine Mädchen den Jungen an. Dann schloss sie die Augen und lehnte ihr Gesicht gegen seine Brust. Vielleicht bringen Scherben ja tatsächlich Glück.
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