9 | Der erste Flügelschlag in Cirrus

"Ich habe Hunger, Elgor!" Leonie blinzelte verschlafen. 

Es war Abend und die Sonne ging unter. Die beiden Eulen hatten das Wüstengebiet verlassen. Der Boden war hier nicht mehr eben; Stattdessen tauchten hier und da auch kleine mit Gras bedeckte Hügel auf. 

Elgor griff in seinen Beutel und holte ein paar getrocknete Stückchen Wühlmäuse raus. Sie schmeckte zwar frisch besser, aber wer die ganze vorige Nacht nichts gegessen hat, gab sich auch mit sowas zufrieden. 

"Wie weit fliegen wir noch?" Leonie schaute sich um. Der Flug hatte ihr wirklich gefallen. Das Gefühl von Schwerfälligkeit war ganz verschwunden. "Und wo wollen wir eigentlich hin?" 

Wo will ich mit dir hin, dachte sich Elgor. Das wäre die bessere Frage. "Das wirst du dann schon sehen. Es wird dir bestimmt gefallen." 

Da schlug Leonie vor Freude einen Purzelbaum. 

Sie aßen, während der Mond langsam aufstieg. 

"Hättest du was dagegen, Küken, wenn ich eine Zeit lang laufe? Du kannst ja fliegen, nur ich muss mal wieder meine Beine vertreten", meinte Elgor plötzlich zu Leonie. 

"Laufen?" Leonie schaute ihn dabei verdutzt an. "Du bist doch eine Eule!" 

"Ja, aber ich als Höhlenkauz muss eben auch mal meine Beine benutzen." Er zeigt ihr seinen langen Beine, die, wie Leonie auffiel, ohne Federn bedeckt waren. "Wir Höhlenkäuze sind nun mal auch dazu geschaffen, auf der weiten Wüste gut und lange laufen zu können." 

Leonie nickte, noch immer etwas verwirrt. "Gerne kannst du das machen." 

Und so führten sie ihre Reise fort. Leonie in der Luft, Elgor am Boden. 

Nach einiger Zeit jedoch - fünf Stunden der Nacht waren bestimmt schon vergangen - als Leonie plötzlich ein ungewöhnliches Rauschen wahrnahm. Ihr kam das Geräusch bekannt vor, aber an was es sie erinnerte, fiel ihr nicht ein. 

Sie hatten Glück, den der Wind kam von hinten und schob sie an, sodass sie weniger Energie verbrauchen mussten. Sie kamen schnell voran, als plötzlich - 

"DUCKEN!" 

Leonie schaffte es gerade rechtzeitig sich ein Stück runterfallen zu lassen, als sie die Geräuschquelle des Rauschens von vorhin sah. 

Krähen. 

Es waren ungefähr zwanzig Stück, die von hinten angeflogen kamen. Sie versuchten die beiden Eulen mit ihren Krallen zu fassen und zu zerrupfen. Ein von ihnen, der Größte und Stärkste, schien ihr Anführer zu sein. 

"ANGRIIIIFFF!!!", kreischte es über den Nachthimmel. 

Die Angreifer verteilten sich kurz und hatten die beiden Eulen schnell umzingelt. Abwechselnd packten sie nach den verzweifelten Wanderern. 

Elgor war inzwischen bei Leonie angekommen und versuchte ihr die Krähen vom Rücken zu picken. Das war aber gar nicht so einfach, denn sie waren immer noch in der Unterzahl. 

Leonie schlug mit ihren Klauen um sich, kratzte und packte alles was ihre Krallen berührten. Sie konnte sich nicht sicher sein, ob auch ein paar Eulenfedern dabei war, aber das war ja jetzt auch erstmal egal. 

Sie sah, wie Elgor erneut ausholte und nach der schwarzen Wolke packte. 

Nacheinander fielen einzelne Krähen zu Boden, bis Leonie und Elgor sich gegen Ende der Mitternachtsstunde nur noch mit drei anderen Krähen im Luftgefecht befanden. 

Schnell lies sich Leonie vom Wind scharf in die Höhe treiben. Sie drehte sich zurück, um zu sehen, dass zwei Krähen ihr folgten. Da machte sie schnell kehrt und stürzte mit angelegten Flügeln auf die entsetzten Krähen zu. 

Wenige Sekunden später waren auch von denen nur noch einzelne Knochenteile und Federreste übrig. 

In der Zwischenzeit hatte Elgor auch die letzte Krähe außer Gefecht gesetzt und die beiden Eulen setzten sich auf einen Baum, der in dieser Region schon eher den Bäumen aus Triangulum ähnelten. 

"Das hast du gut gemacht, Küken." Schnaufend holte Elgor ein paar Blätter und Kräuter aus der Tasche. "Hier, die helfen gegen die blutenden Wunden." 

"Danke." Vorsichtig nahm Leonie die Sachen entgegen und legte sie auf ihre blutverschmierten Stellen, an denen sie offene Wunden vermutete. Ihr ganzer Körper schmerzte und ihre Flügel fühlten sich schwer an. 

"Vielleicht ist es besser, wir fliegen morgen weiter," meinte Elgor nachdenklich. 

"Find ich auch," antwortete Leonie und machte es sich auf dem Baum bequem. Sie war zwar müde, aber eine innere Aufregung, die sie seit dem Betreten von Cirrus verfolgt, ließ sie nicht los. Sie dachte an ihre Eltern. Was würden sie sagen, wenn sie ihre Tochter jetzt hier sähen? Wären sie stolz, wären sie traurig? Wo wären sie, wenn sie nicht beide tot wären? Würden sie noch als eine Familie in Triangulum wohnen?

Es gab so viele Fragen und keine Antworten, sodass Leonie sich etwas allein und verlassen fühlte, als sie schließlich einschlief. 

Der Vogel stieg in die Höhe. Er verharrte kurz in der Luft und löste sich auf. Es raschelte aus jeder Ecke und das Feuer umgab sie. Es zog sich an ihr hoch, neckte sie, aber fraß sie nicht. Vorsichtig, fast schon beschützend, legte es sich um sie. 

Es stieg mit ihr auf, sackte mit ihr ab. Es trieb sie in die Höhe, zwang sie, tiefer zu fliegen. Es kam aus den Ritzen und Fugen hervorgeschossen, prallte gegen Wände. Es fraß ihr Fluchtwege, legte ihr Hindernisse in den Weg. 

Es war ihr Freund, es war ihr Feind. 

Doch es würde ihr immer zur Seite stehen. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top