Die Sonne war bereits untergegangen und der Mond glitzerte am Himmel. Die Sterne beleuchteten die einfache flache Landschaft, auf der sich zwei Kreischeulen niederließen. Die Leiche legten sie unter einen Baum und verließen diesen schnell. 

Zwei Tage lag Leonie im Kummer. Ihre beiden Eltern hatte sie verloren und die Hoffnung jemals Aryn zu entkommen auch. Sie bekam bei ihr nur Käfer und Würmer zum Essen, da es in Passerinum nichts anderes gab. 

Einen Hoffnungsschimmer gab es allerdings noch. 

Jeden Tag wuchsen Leonies Federn. Und jeden Tag schien sie beim Flügelschlagen stärkere Luftströmungen erzeugen zu können. Sie musste bald flugfähig sein. 

Und so schmiedete sie einen Plan. 

Jeden Tag, wenn Aryn und die Wache schlief, schlich sie sich von ihrem Schlafplatz aus der Steinhalle. Draußen konnte sie dann unbemerkt üben. 

"Sag mal Leonie, warum bist du denn heute wieder so müde?" Aryn schaute sie nachts immer skeptisch an. 

"Ich... ich... kann nicht schlafen." Das war eine glatte Lüge, denn jeden Moment hätte sie sich hinlegen und fünf Tage durchpennen können. 

"Aha, das ist aber nicht gut. Du brauchst Schlaf." Aryn schleuderte ihr ein Wurm gegen den Kopf. "So erschaffen wir aus dir nie eine ganze Eule, geschweige denn eine Weltherrschaft." Sie grinste fies auf Leonies erschrockenes Gesicht eingehend. 

Leonie kaute ohne weitere Kommentare an ihrem Käfer weiter. 

Wie soll das nur mit ihr weiter gehen, dachte sich Aryn. Zu aller erst muss ich sie von meinen Zielen überzeugen. Davor kann ich sie nicht kampfbereit machen, womöglich stellte sie sich dann gegen sie. 

Als der Tag anbrach, gingen sie wieder schlafen. 

"Und dieses Mal drückst du auch mal ein Auge zu!" Aryn sah sie scharf an. 

Doch Leonie war überhaupt nicht nach schlafen. Diesen Tag würde sie auch wieder zum Üben nutzen. 

Als langsam Ruhe in die Halle einkehrte, durchquerte sie auf üblichem Wege die Steinhalle. Doch dieses Mal blieb dabei ihr Blick auf einer kleinen Tür hängen. Sie hatte diese bisher nie gemerkt. 

Vorsichtig schlich zu der Tür und schob sie mit der einen Klaue ein Stück weit auf. In dem Raum, der sich ihren Augen befanden sich Bücher. Regale voller Bücher. 

Leonie konnte zwar noch nicht sehr gut lesen, aber die Grundlagen hatte sie bei ihren Eltern gelernt. Achja, ihre Eltern. Der Gedanke schmerzte tief in ihrem Herzen. 

Ein großer Teil der Bücher war in Leder gebunden und wirkten sehr alt. Eines, welches Leonie besonders gefiel, hatte eine alte verblasste Aufschrift auf dem Titelblatt: Cirrus.

Vorsichtig schlug Leonie das Buch auf. Auf der allerersten Seite befand sich eine Karte, auf der das Land Cirrus abgebildet war. Ein Gebirge füllte den südlichen Teil der Karte, in dessen Mitte ein großes rotes Kreuz. Auf der nächsten Seite war ein Text: 

Das Land Cirrus ruht abgelegen auf der östlichen Seite der Insel. Das Cirrusgebirge wird von vielen Eulen als heilig angesehen und birgt den größten Schatz der Welt. Legenden nach soll der, der den Schatz findet König von Cirrus sein und als einziger das Schloss im Norden von Cirrus, welches uneindringbar ist, betreten können. 

Leonie musste sich den Text drei mal durchlesen um den Sinn erfassen zu können. Danach staunte sie erstmal nur. 

Ein leiser Windhauch brachte sie zurück in die Gegenwart. Schnell verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter ihr. Den Rest des Tages übte sie noch ein bisschen und schaffte es sogar, sich bisschen vom Boden abzuheben. 

Wird schon, dachte sie. 

Als Leonie in der darauffolgenden Nacht immer noch schlaff und unausgeruht war, schöpfte Aryn Verdacht. Sie nahm sich vor, den nächsten Tag wach zu bleiben. 

Nur um sicher zu gehen. 

Auch an diesem Tag stahl sich Leonie aus ihrer Schlafvorichtung. Allerdings nicht unbemerkt. Aryn stand im Schatten der Wand, den die Sonne erzeugte. Sie sah zu wie sich Leonie ins Freie bewegte. Lautlos flog sie hinterher. 

"Und was bitteschön machst du hier, Kleine?" Die eiskalte Stimme ließ es Leonie eiskalt den Rücken runterlaufen. Sie drehte sich um und sah in das vernarbte Gesicht Aryns. 

Vorsichtig trippelte sie rückwärts. 

"Sei nicht dumm, bleib hier!" Sie griff nach Leonie, welche geschickt auswich. 

Jetzt aber schnell, dacht Leonie und drehte sich um. Jetzt würde sich zeigen, ob sich das tägliche Training gelohnt hat. 

Sie streckte ihr Flügel aus und rannte los. 

"Komm zurück!" Schnell hatte sich Aryn in die Luft erhoben und packte nach der Verfolgten. 

Leonie schlug mit den Flügeln und wurde immer schneller, bis sie den Boden unter den Krallen verlor. Sie beschleunigte ihre Schläge und ließ sie kraftvoller schlagen. Allmählich gewann sie an Höhe und raste gerade aus. Weg. Einfach nur weg von Aryn und ihrer bescheuerten Steinhütte. 

Doch so leicht würde Aryn nicht aufgeben. Sie flog hinterher und packte nach dem Eulenküken. 

Leonie wich geschickt aus. Sie legte sich in die Seite um zu lenken, als sie plötzlich vor ihr von unten in ein Kralle geschnappt wurde. 

"Jaja, glaub nicht, dass du mir so leicht entkommst!" Mit Leonie in der Kralle flog sie zurück zur Halle. "Das wird Ärger geben, du Federvieh!" 

Doch Leonie gab nicht auf. Sie zwickte Aryn kräftig in den weichen Bauch, sodass dieser entsetzt losließ. 

Zuerst fiel sie nur Richtung Boden, fing sich jedoch schnell in der Luft und flatterte weiter. 

Aryn ließ sich dadurch nicht beirren und nahm die Verfolgung auf. 

Es gab aber etwas, wovon Leonie nicht wusste, was ihr ein Vorteil gegenüber Aryn bot. Sie war leichter und somit auch flinker und wendiger. Sie flog scharfe Kurven und wich Aryn geschickt aus. Sie flog im Zickzack und Aryn konnte nur mit viel Mühe mithalten. Doch auch das nicht mehr lange. 

Leonie schaute sich noch einmal um, doch konnte nirgendwo eine Eulenseele entdecken. Ihr Magen machte einen Hüpfer. Sie grinste. War sie Aryn tatsächlich entkommen? 

Die Antwort wartete hinter einem Baum. Nein. Nein, sie war noch nicht entkommen. Noch wartete die Entführerin.