10 | Eine kleine Wendung
Leonies Flügelspitzen schwankten leicht.
Hier im Gebirge war der Wind unberechenbar. Sie flogen nun schon seit mehreren Tagen durch Cirrus, kamen aber nur sehr langsam vorran. Das Wetter veränderte sich schlagartig und ohne Vorwarnung.
„Wo fliegen wir eigentlich hin, Elgor?" Seit Beginn ihrer Reise hatte er Leonie nicht erzählt, wo er sie eigentlich hinführte.
„Das siehst du dann schon, Küken!" Die gleiche Antwort wie schon seit Tagen.
„Gar nichts seh ich bei dem stürmischen Wetter! Warum willst du mir nichts erzählen? Was ist so geheim?"
Seufzend schlug Elgor einen Haken in der Luft und landete aprupt auf einer im Wind gefährlich schaukelnde Eiche.
„Was soll das denn jetzt?! Wir -"
„Halte deinen Schnabel oder ich stopf ihn dir!" Schnell hatte er sie gegen den Baumstamm gepresst, sodass Leonie nur noch keuchende Laute von sich geben konnte.
Elgor hielt kurz inne. „Ich muss dir wohl früher als gewollt beibringen, was ich eigentlich von dir will und wozu der ganze Hokuspokus." Er schüttelte seinen Kopf und wies mit dem rechten Flügel auf den Berg. Hast du schon mal vom Schatz von Cirrus gehört?"
Leonie keuchte nur.
„Entschuldige," meinte der Höhlenkauz und lockerte seinen Griff ein wenig.
„Warum tust du das? Was willst du von mir?" Hechelnd schnappte Leonie nach Luft.
„Das war nicht meine Frage, Küken," meinte er und drückte sie in eine Astgabel.
Panik kroch in Leonie hoch. "Nur, dass er im Cirrusgebirge versteckt ist und der Schlüssel zur Burg von Cirrus ist. Und jetzt lass mich los."
„Es ist wohl eher ein Schloss. Aber genau. Das will ich von dir. Dass du in das Gebirge reinfliegst, den Schatz holst und ihn mir bringst. Mein ganzes Leben habe ich nur diesen einen Wunsch und du wirst ihn mir erfüllen."
„Wie sieht er denn überhaupt aus und wie komme ich dahin? Warum holst du ihn dir nicht selber?"
„Warum sollte ich mein Leben riskieren? Das ist es mir dann doch nicht wert. Keiner weiß, wie der Schatz von Cirrus aussieht oder wie man an ihn rankommt, aber das wirst du schon herausfinden, du bist ja ein kluges Eulenjunges, hab ich recht?"
„Klug genug um zu wissen, dass die Idee total übergeschnappt ist. Warum sollte ich das tun?" Sie konnte immer noch nicht ganz fassen, was hier gerade vor sich ging.
"Ich bin ein alter Kauz und trotzdem habe ich dich aufgenommen und versorgt, ohne dass du mir irgendetwas gebracht hast. Jetzt sollst du bitte auch noch ein bisschen von Nutzen sein und mir bringen, was ich will, bevor ich im Denebsee ertrinke." Elgor seufzte. "Und damit du nicht auf die Idee kommst, zu fliehen," er band eine Schnur an Leonies Bein fest, welche am anderen Ende auf einer großen Rolle in Elgors Klaue aufgewickelt war, "behalte ich doch auch noch wortwörtlich im Griff."
Leonies Puls war immer noch viel zu hoch. Das war einfach zu viel. Warum tat er ihr das an? War das der Grund, weshalb sie nicht mehr trainieren durfte? Um ihm nicht über den Hals zu wachsen?
Ein Versuch war es trotzdem wert und Leonie stieß ihn mit einer Kralle von ihr fort.
Er fiel rückwärts und blieb mit dem Rücken auf dem Ast liegen. Kurz danach zog er aber ein golden glänzendes Schwertchen aus seiner Tasche und hielt es ihr unter den Schnabel, sodass sie prompt zurückwich.
"Das ist also das Ding, was du zuhause eingepackt hast!" Stellte Leonie erschrocken fest.
"Toller Versuch, Küken, aber so leicht enkommst du mir nicht," meinte er ohne auf Leonies Aussage weiter einzugehen. Triumphierend hielt er in einer Kralle die Rolle, im Schnabel das Schwertchen hoch.
Dann drehte er sich um zum Eingang in den Berg. Es war nur ein kleiner Schlitz, gerade breit genug für eine Eule mit ausgestreckten Flügeln, der gerade aus ins Dunkel verlief.
Elgor stupste die Fleckenkäuzin von hinten mit dem Schwertchen an und deutete ihr, in den Spalt reinzufliegen. "Viel Glück, Küken."
Sie schaute ihn über die Schulter entsetzt an, unterstand jedoch den Versuch, ihn nochmal anzugreifen. Das Schwertchen wollte sie nicht zu spüren bekommen. Sie blickte in das schwarze Nichts und schluckte schwer. Ob sie da jemals wieder rauskam?
"Achja," meinte der Höhlenkauz, "nimm das hier lieber noch mit." Er hielt ihr ein getrocknetes Stück Kaninchenfleisch hin. Als er ihren skeptischen Blick bemerkte, seufzte er. "Keine Angst, Küken, das ist nicht vergiftet. Ich will, dass du mir den Schatz holst. Dazu musst du lebendig sein."
Er gab ihr einen kleinen Schubser und sie fiel vom Ast. Nach wenigen Metern Sturz in die Tiefe konnte sie sich in der Luft fangen und flog auf den Schlitz zu. Sie warf noch ein Blick hoch zu Elgor, bevor die Dunkelheit sie vollkommen umgab.
Er sah fast schon ein bisschen besorgt aus.
Das Feuer spürte den Besucher immer näher kommen. Fast schon greifbar. Es konnte in ihr Herz sehen. Und es sah Trauer. Es sah Enttäuschung. Aufgewühltheit. Entsetzen.
Aber das Feuer? Nein. Das Feuer würde sie nicht enttäuschen.
Vorerst nicht.
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