KAPITEL 35 | MAYA
Seit ich Auden meinen Aufsatz gegeben habe, habe ich kein Wort von ihm gehört.
Möglichkeit eins ist, dass er nicht verstanden hat, was ich ihm mit dem Brief sagen wollte, aber das ist eigentlich völlig ausgeschlossen. Vielleicht habe ich nicht klipp und klar geschrieben, dass ich mich für ihn entscheide, aber man konnte es herauslesen. Ganz sicher.
Möglichkeit zwei ist, dass ihm meine Worte egal sind. Aber auch das kann ich einfach nicht glauben, wenn ich mir in Erinnerung rufe, was er mir auf Porters letzter Party gesagt hat, als wir in seinem Zimmer waren und getanzt haben.
Ich liebe dich, Maya.
Noch immer bekomme ich Gänsehaut, wenn ich nur an diesen Moment denke.
Möglichkeit drei ist, dass sein permanentes Schweigen etwas mit dem zu tun hat, was Porter mir vorgestern erzählt hat. Wenn es stimmt, dass Roamer tatsächlich wieder im Haus der Sinclairs war, dann haben wir alle ein großes Problem. Offensichtlich hat es Porters völlig verrückter Bruder mehr auf Auden abgesehen als auf seine eigene Familie und so, wie wir Auden kennen, wird er versuchen alle Last auf sich nehmen.
Vielleicht hat das bisher immer geklappt, weil Porter und die anderen es immer zu spät gemerkt haben, aber ich würde nicht mehr zulassen, dass Auden den Helden spielt. Was auch immer Roamer ihm gesagt hat, wir werden das wieder hinbekommen. Notfalls weihen wir Porters Eltern in diese heikle Situation ein.
»Du siehst wunderschön aus, mein Schatz.«
Langsam löse ich den Blick von dem Ganzkörperspiegel und drehe mich lächelnd zu meiner Mom um, deren Augen verdächtig glänzen. »Wehe, du weinst jetzt, Mom.«
»Es tut mir ja leid«, ist alles, was sie sagt, bevor sie sich schnell die Tränen von den Wangen wischt und dann zu mir kommt. Fast schon stolz streicht sie mein rotes Kleid glatt, das dem Kleid, das ich auf Porters Willkommensparty getragen habe, sehr ähnelt. Es ist ein wenig länger und besitzt mehr Stoff als das andere und wurde von meiner Mom an ihrem ersten Ball ebenfalls getragen. »Du siehst darin soger besser aus als ich.«
»Als wäre das möglich.« Ich muss grinsen. »Kannst du bitte irgendetwas mit meinen Haaren anstellen, damit sie nicht einem Vogelnest gleichen?«
Sie lacht und zieht das Haargummi sanft heraus, das einen lockeren Dutt zusammengehalten hat. Ich bin froh, dass sie mir keinen Vorwurf daraus macht, dass ich meine Haare direkt vor dem Homecoming-Ball abgeschnitten habe und es jetzt kein Wunder ist, dass ich nicht weiß, was ich damit anstellen soll. Stattdessen holt sie gut gelaunt den Lockenstab aus meinem Schrank und wickelt jede einzelne Strähne um den Stab herum.
»Ich wollte es dir eigentlich erst morgen sagen, aber ich kann nicht mehr warten.« Sie strahlt mich im Spiegel an. »Colleen und dein Dad werden uns nächste Woche besuchen kommen.«
Ich bewege mich so schnell, dass die Hitze des Lockenstabs mich fast an der Wange getroffen hätte. Ungläubig sehe ich sie an. »Dad und seine Frau kommen hierher? Zu uns? Während du auch anwesend bist?«
»Das kommt mit Sicherheit plötzlich, aber dein Dad und ich versuchen einigermaßen miteinander klarzukommen. Für dich. Dazu gehört auch, dass ich Colleen kennenlerne und ihr wenigstens eine Chance gebe, weil sie ihn ja wirklich glücklich zu machen scheint. Ich dachte, es würde dich freuen.«
»Natürlich freue ich mich«, entgegne ich sofort. »Aber was ist mit dir? Ist das auch wirklich okay für dich, wenn sie hierherkommen?«
Mom nickt nur lächelnd und widmet sich dann wieder meinen Haaren.
Ich schaue ihr dabei im Spiegel zu und bemühe mich um eine glückliche Miene. Immerhin soll ich heute Abend Spaß haben und nicht so aussehen, als wäre ich gerade auf einer Beerdigung gewesen.
Trotzdem scheint meine Mutter zu bemerken, dass ich irgendetwas auf dem Herzen habe. Als ich tatsächlich denke, sie scheint mich ohne Worte zu verstehen, sagt sie: »Ziehst du so ein Gesicht, weil du keinen Tanzpartner hast?«
Ich wünschte, das wäre mein einziges Problem heute Abend.
Porter und Britt fahren schon morgen früh weg und Auden will sich mal wieder unvernünftigerweise in Gefahr bringen. Dass ich heute wenig tanzen werde, stört mich wirklich nicht so sehr.
Gerade als ich Mom antworten will, dass ich mich dazu entschieden habe allein zum Ball zu gehen, klingelt es auch schon an der Tür. »Ich gehe schon.« Sie drückt mir den Lockenstab in die Hände und streicht mir liebevoll über die Haare. »Komm aus deinem Zimmer heraus, sobald du fertig bist.«
Ich nicke, locke noch zwei Strähnen und fahre mir dann tief durchatmend durch meine rote Mähne. Die meiste Zeit brauche ich, um mich mental statt physich auf den Abend vorzubereiten, weil Stacey bereits angekündigt hat, dass heute große Dinge passieren werden. Zur Abwechslung einmal glaube ich an ihre hellseherischen Fähigkeiten.
Ein letztes Mal streiche ich über den weichen Stoff des Kleides. Ahnungslos greife ich nach einer Jacke zum Überziehen und komme aus meinem Zimmer heraus, nur um Mom, Porter und Auden im Flur vorzufinden.
Audens Augen wandern von meiner Kopfspitze bis zu meinen Zehen, dann schluckt er schwer und stößt sich von der Wand, an der er gelehnt hat, ab. Porter gibt ein pfeifendes Geräusch von sich und Mom treten schon wieder Tränen in die Augen.
Am liebsten hätte ich gesagt, dass ich nur zu einem Ball und nicht zu meiner Hochzeit gehe, aber ich verkneife es mir. Denn auch ich muss sagen, dass Porter und Auden mehr als gut in ihren Anzügen aussehen. Was machen die beiden hier?
Um Auden nicht zu sehr anzustarren, wende ich mich meiner Mom zu und umarme sie zum Abschied.
Ich weiß nicht, was weder Porter noch Auden hier tun, da es ganz sicher nicht ausgemacht war, dass wir alle zusammen zum Homecoming gehen. Von Porter hätte ich mehr erwartet, dass er Britt als Tanzpartner nimmt und Auden ... ehrlich gesagt dachte ich, er würde überhaupt nicht kommen. Ich hatte schon geplant den Ball früher zu verlassen, um ihn zu suchen.
Trotzdem bin ich froh, dass sie hier sind. Irgendwie.
Als Mom sich langsam wieder aus der Umarmung löst, drückt sie mir plötzlich einen kleinen Zettel in die Hand. Er ist nicht größer als ein Radiergummi, doch als ich ihn auseinanderfalten will, schüttelt sie schnell mit dem Kopf und sagt: »Mach ihn erst auf, wenn dieser Abend vorbei ist, okay?«
Verwirrt teilen sich meine Lippen. Mein Gefühl sagt mir, dass dort etwas im Bezug auf Auden und Porter steht, aber ich komme nicht so richtig darauf, was es ist.
»Lawrence wird uns in die Schule fahren«, informiert Porter meine Mom, während er die Haustür für uns öffnet. »Maya ist spätestens um Mitternacht wieder zu Hause.«
Meine Mutter nickt beruhigt und ich verdrehe die Augen, als ich an Porter vorbeilaufe, weil er gerade wie mein kontrollierender fester Freund klang. Er streckt mir jedoch nur die Zunge heraus, was Auden mit Sicherheit mitbekommt. Tatsächlich wirkt er sehr distanziert, aber falls er denkt, ich würde ihn gleich in der Limousine nicht darauf ansprechen, dann hat er ganz falsch gedacht.
»Was ist los mit euch beiden?«, frage ich in dem Moment, in dem Lawrence losfährt.
Porter lehnt sich lässig zurück und greift in den Minikühlschrank neben ihm, um eine Flasche Wein herauszuholen. Zunächst hält er sie Auden hin, doch er schüttelt sofort mit dem Kopf. Mir gibt Porter einen Eisbecher, zu dem ich sicherlich nicht Nein sagen werde.
»Heute ist mein letzter Tag in Winchester«, fängt Porter an, bevor er die Weinflasche öffnet und einen großen Schluck trinkt. »Eigentlich wäre es mir lieber, wenn in den nächsten Stunden jeder gut gelaunt ist, deshalb komme ich schnell zum Punkt.«
Audens Mundwinkel zucken leicht, als wüsste er schon, dass Porter einen ziemlich langen Monolog halten wird.
Tatsächlich fängt Porter noch einmal ganz von vorne bei seiner Geschichte an. Er erzählt davon, wie er auf die Idee mit der Kuss-Deadline gekommen ist und schmückt ein wenig zu viel aus. Im Wesentlichen meint er, er hätte sich bei dem Film Rapunzel geärgert, dass sie und Flynn Rider sich nicht auf dem Boot geküsst haben und wollte dann etwas erfinden, was einen Kuss bei jedem provozieren und vielleicht auch ein wenig erzwingen würde.
Danach beichtet er Auden, dass er nicht damit gerechnet hätte, er würde das Spiel gewinnen, wobei Auden nicht wirklich so aussieht, als würde er seinem besten Freund richtig zuhören. Ich kann mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen, während ich mein Vanilleeis esse.
»Um auf den Punkt zu kommen«, sagt Porter irgendwann und lächelt wissend. »Roamer wurde gestern verhaftet.«
»Was?«, rufe ich, während Auden »Das sagst du erst jetzt?« fragt.
Porter zuckt nur unschuldig mit den Schultern, als wäre es keine große Sache für ihn, dass sein großer Bruder bald im Gefängnis sitzen wird. »Ich wusste, dass du etwas verheimlichst, Auden, und ich wollte da nicht länger zusehen. Britt und ich haben meine Eltern eingeweiht und dann die Polizei verständigt. In einer Woche ist die Gerichtsverhandlung, aber die Chancen für Roamer stehen ziemlich schlecht.«
»Du hast das gerade alles mit einem riesengroßen Grinsen gesagt«, entgegne ich leise lachend. »Aber niemand nimmt dir das übel, glaub mir.«
Porter hebt die Hand zu einem High Five und obwohl ich mich zunächst sträube, schlage ich dann doch ein. Mir fällt auf, dass Auden stiller als sonst ist, also drehe ich mich zu ihm und mustere ihn verwirrt.
»Du kannst mir auch später danken, Villeneuve«, schlägt Porter vorsichtig vor.
Auden schluckt. »Tut mir leid, dass ich es euch nicht erzählt habe, aber Roamer wollte mich wieder für seine Kämpfe haben. Ich weiß, es klingt völlig verrückt, dass ich das tun wollte, aber ich muss die Schulgebühren für die Millbrook irgendwie bezahlen. Lyn und Auri haben kaum Spielzeug und bald noch weniger Platz bei Kyler und Daniel Zuhause. Ich hatte einfach gehofft, ich könnte ein bisschen sparen, um uns etwas eigenes zu suchen.«
Mitfühlend rutsche ich näher an ihn heran. »Du wirst dir bald etwas eigenes aufbauen können, aber du musst noch Geduld haben. Roamer war nicht die Lösung und das weißt du auch.«
»Nur weil wir drei Staaten voneinander entfernt sind«, Porter legt die Weinflasche weg und klopft Auden tröstend auf die Schulter, »heißt das nicht, dass ich dich im Stich lassen werde, Villeneuve. Ich werde dich immer unterstützen und das nicht nur mit Geld.« Porter zieht plötzlich eine Grimasse. »Ich will ja nicht zu sentimental werden, aber: Du bist mein bester Freund und ich liebe dich, Mann.«
Auden lehnt sich kopfschüttelnd nach hinten. »Ich werde das jetzt ganz sicher nicht zurücksagen.«
»Du musst«, entscheide ich leise lachend. »Immerhin haben wir alle uns dann die magischen drei Worte gesagt. Nichts und niemand wird uns trennen können.«
Porter verschränkt gespielt beleidigt die Arme vor der Brust. »Zu Maya kannst du also ›Ich liebe dich‹ sagen, aber zu mir nicht?«
»Klingt ziemlich unfair«, werfe ich ein.
»Schon gut, schon gut.« Auden weiß, dass wir niemals aufhören würden ihn zu nerven. Und es ist ja nicht so, als würde es nicht stimmen. »Ich liebe dich auch, Porter.«
»Darauf müssen wir trinken.« Porter holt irgendeinen Likör heraus, von dem er jeden von uns etwas einschenkt. Auden und ich willigen auch nur ein, weil es ja wirklich Porters letzter Tag in Winchester ist und wir auf etwas ganz Bestimmtes anstoßen sollten. »Auf euch beide«, sagt Porter mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. »Wenn ich euch in ein paar Wochen besuchen komme, seid ihr entweder zusammen oder verheiratet. Etwas anderes akzeptiere ich nicht.«
Auden ich und wechseln einen Blick und ein kleines Lächeln, dann sehen wir schnell weg.
Er ist dann doch der Erste, der sein Glas hebt. »Auf uns.«
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