KAPITEL 20 | PORTER
Ab heute werde ich alles richtigmachen, was Maya angeht. Ich würde einen Punkt auf jedes i und einen Querstrich durch jedes t setzen.
Bisher bin ich in vielen Dingen nicht wirklich ehrlich zu ihr gewesen, angefangen bei der Sache mit dem Abendessen und Roamers Zigaretten, die er mir aufgezwungen hat. Ich würde nicht sagen, dass ich sie in den letzten Tagen ignoriert habe, aber ich musste unsere Gespräche so kurz wie möglich halten, um nicht zum ehrlichen Porter zu mutieren. In Mayas Nähe sage ich ohnehin viel zu viel.
Das ist nicht das Einzige, was mich schon den ganzen Tag wurmt. Seit Stunden habe ich diese Melodie im Kopf, die ich am liebsten sofort auf meine Gitarre übertragen würde. Stattdessen stehe ich vor dem Josie's und sehe Maya beim Arbeiten zu, während ich mit Auden telefoniere. Obwohl ich währenddessen ein wenig vor mich hin summe, bin ich mit dem Kopf natürlich voll und ganz bei Auden.
»Du hörst mir nicht zu, oder?«, kommt es prompt aus meinem Handy. Auden seufzt. »Wo bist du, Porter?«
Was hatte ich gerade noch über Ehrlichkeit gesagt? Ich knirsche ein wenig mit den Zähnen. »Ich stehe auf der Straße, Auden.« Das war wenigstens keine komplette Lüge.
»Na dann. Hoffentlich wirst du überfahren.«
»Ha, ha«, gebe ich zurück. »Sehr lustig. Ich stehe auf dem Gehsteig und bin mit Brittany im Josie's verabredet. Sie meinte, es wäre ›sehr wichtig‹ und sie würde mir ›den Kopf abreißen‹, wenn ich nicht komme. Ich habe mich schon lange nicht mehr so auf ein Treffen gefreut wie heute.«
Ich bin froh, Auden am anderen Ende der Leitung lachen zu hören.
»Geht es Lynette, Maurice und dir gut?«, frage ich mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme, die ihn sofort wieder verstummen lässt.
Auden und seine Geschwister wohnen seit fast einer Woche bei mir. Viel verändert hat sich dadurch nicht, außer dass wir uns jetzt öfter sehen und ich ihn noch mehr nerven kann. Als er mir von seinem Dad erzählt hat, bin ich die ersten drei Tage natürlich besonders nett zu ihm gewesen, aber es stellte sich heraus, dass Auden es lieber mag, wenn ich ihn nerve.
»Das hier passt einfach nicht zu dir«, hat er gesagt und angewidert das Gesicht verzogen. »Ich meine, seit wann backst du in deiner Freizeit, Porter? Bitte werde wieder zu der Person, die unbedingt ›Die Kuss-Hotline‹ spielen wollte.«
Und ich dachte, er liebt Käsekuchen, aber die Einzigen, die ihn dann gegessen haben, waren Lynette, Maurice und meine Grandma. Wenigstens hat es ihnen geschmeckt und ich habe herausgefunden, dass ich gar nicht so schlecht im Backen bin.
»Lyn und Auri weinen sehr viel«, gibt Auden plötzlich zu. »Dabei fängt die Beerdigung erst in einer Stunde an. Es kommt mir falsch vor, sie zum Lachen zu bringen, aber ich will auch keine Tränen mehr sehen. Alle sind hier, nur Mom wird wahrscheinlich nicht auftauchen.«
»Ich hätte mehr Käsekuchen machen sollen, dann wären deine Geschwister mit Essen beschäftigt.«
»Porter.« Ich kann quasi vor mir sehen, wie Auden die Augen zusammenkneift. »Ich will echt nicht derjenige sein, der dir das sagt, aber dein Kuchen war schrecklich. Deine Grandma und meine Geschwister haben ihn nur aus Höflichkeit gegessen.«
»Was? Aber ―«
»Okay, ich muss los«, sagt Auden noch, dann legt er auf.
Ich kann kaum wahrhaben, dass mein Käsekuchen schlecht gewesen sein soll. Aber wenigstens habe ich die Melodie noch im Kopf ― eines der Dinge, die ich noch draufhabe, wäre also das Gitarrenspielen.
Wieder werfe ich einen Blick durch das Schaufenster und sehe Maya an, die mit einem riesigen Tablett durch das Diner läuft und so aussieht, als würde sie gleich ausrutschen. Ich muss lächeln und wünsche mir plötzlich wieder, ich hätte die Kuss-Deadline niemals angefangen. Vielleicht wäre es dann leichter für mich, mich in sie zu verlieben, ohne Angst zu haben, sie würde denken, es wäre nur wegen des Spiels.
Trotzdem wäre da noch Auden. Irgendetwas sagt mir, dass er sich auch in sie verliebt hätte, wenn die Willkommensparty nicht gewesen wäre.
»Porter Ave Sinclair.«
Ich wende mich von Maya ab und sehe zu Brittany, die mit hochgezogenen Augenbrauen vor mir steht und den Kopf in den Nacken legen muss, um mich anzusehen. »Brittany Tray Grammer. Warum immer mein ganzer Name?«
Sie zuckt mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. »Weil er mir gefällt.«
Misstrauisch kneife ich die Augen zusammen. »Warum wolltest du dich hier mit mir treffen?«, will ich wissen. »Nein, ich frage anders. Warum wolltest du dich überhaupt mit mir treffen?«
Mir fällt auf, dass sie sich ziemlich hierfür zurechtgemacht hat. Wenn man davon absieht, dass sie aufhört ihre Haare rot zu färben und der Ansatz deshalb dunkelbraun durch ihr Haarband durchscheint, sieht sie sogar ziemlich gut aus. Es irritiert mich, wie viel Mühe sie sich gemacht hat, aber ich beschließe, einfach zu denken, dass es Zufall ist.
Wir betreten das Josie's, ohne dass sie meine Frage beantwortet, aber das ist okay. Es ist ja nicht so, als hätte ich heute noch irgendwelche anderen Dinge zu tun, wie zum Beispiel mit Trixie Gassi zu gehen oder für Chemie zu lernen.
Mayas Augen werden groß, als sie merkt, dass Brittany und ich zusammen an einem Tisch sitzen. In ihrem Gesicht steht ein einziges Fragezeichen geschrieben. Am liebsten hätte ich ihr zugerufen »Ich habe doch selber keine Ahnung, warum ich mit Brittany essen gehe!«, aber es ist wohl besser, wenn ich mich eher still verhalte.
»Es gibt vier Gründe, warum du hier bist«, sagt sie.
Gespielt arrogant hebe ich die Augenbrauen. »Mehr nicht?«
»Erstens: Ich will kein Arschloch mehr sein.« Brittany lehnt sich ein wenig vor und sieht in diesem Moment ehrlicher aus denn je. »Oder eine Idiotin oder eine Hure, wie auch immer du mich in deinen Gedanken bezeichnest.«
»Ich beschimpfe niemanden in meinem Kopf«, stelle ich klar. »Ich habe mir höchstens einmal vorgestellt, wie du aus Versehen eine Klippe hinunterstürzt, nachdem ich dich ganz zufällig geschubst habe.«
Mit neutraler Miene hält sie meinem Blick stand. »Ja, wie auch immer.«
Wir bestellen Getränke, die zum Glück nicht von Maya gebracht werden, weil diese Situation ziemlich peinlich gewesen wäre. Wo ist Maya überhaupt? »Sagtest du nicht irgendetwas von vier Gründen?«
»Ich war noch gar nicht mit dem ersten Grund fertig«, zischt sie.
Ergeben hebe ich die Hände. »Okay, tut mir leid.«
»Wie gesagt, ich will niemand sein, den du gedanklich umbringst«, erzählt sie weiter. »Wenn wir ein halbwegs normales Gespräch führen würden, wüsstest du außerdem, dass ich ganz in Ordnung sein kann.«
»Mhm«, mache ich nur, während ich einen Schluck von meinem Orangensaft nehme.
»Zweitens: Unsere Eltern wollen, dass wir uns besser verstehen.« Bevor ich den Mund aufmachen kann, redet sie schon weiter. »Ja, ich weiß, das wünschen sie sich schon seit dem Tag, an dem wir geboren wurden, aber du musstest im Kindergarten ja auch immer meine Sandburgen kaputtmachen. Kein Wunder, dass ich dich nicht ausstehen konnte!«
Ich stelle mein Glas ab und lehne mich in meinem Stuhl zurück. »Dieses Gespräch wird mit jeder Sekunde seltsamer. Ich kann nicht glauben, dass du mir das mit den Sandburgen immer noch übelnimmst. Immerhin warst du diejenige, die meine Gitarren vergraben hat und mir bis heute nicht sagt, wo sie sind!«
Zum Ende hin bin ich immer lauter geworden, weshalb Brittany ihre Stimme ebenfalls erhebt. »Wer ist jetzt nachtragend? Nur damit du es weißt: Der dritte Grund hätte sich um deine versteckten Gitarren gedreht, aber jetzt wirst du nie erfahren, wo sie sind!«
»Jetzt sind sie ja auch sowieso zu klein für mich!«, rufe ich.
»Sie haben deine Penisgröße, was erwartest du also?«, feuert sie zurück. Kurz habe ich Angst, dass sie mir ihre Cola ins Gesicht schütten wird, aber glücklicherweise kann sie sich gerade noch so zurückgehalten. »Willst du jetzt den vierten Grund wissen, oder nicht?«
Sie ist wieder ein bisschen ruhiger geworden, weshalb ich auch endlich herunterkommen kann. »Eigentlich will ich lieber gehen.«
»Viertens«, sagt sie, als hätte sie mich nicht gehört. Ihre Miene wird weicher, während sie genervt ausatmet. »Ich wollte dir in Chemie helfen.«
Überrascht hebe ich den Kopf an und runzle die Stirn. Deshalb sollte ich also hierherkommen? Als sie aus ihrem kleinen Rucksack eine Mappe herauszieht und sie mir übergibt, nehme ich sie misstrauisch an. Tatsächlich handelt es sich dabei aber bloß um ihre Chemie-Lernzettel und nicht um eine Stinkbombe oder so.
Ich kann kaum glauben, dass Brittany mir das hier geben will. Sie hat all die Themen gut zusammengefasst, besser, als ich es hätte machen können. Plötzlich fühle ich mich ziemlich schlecht, weil ich sie angeschrien und damit die Aufmerksamkeit aller Gäste in diesem Diner auf uns gelenkt habe. Warum wir wohl noch nicht herausgeflogen sind?
»Danke, Brittany.« Ich mache die Mappe wieder zu. »Was kriegst du dafür?«
»Willst du mir jetzt wirklich Geld geben?« Amüsiert verschränkt sie die Arme vor der Brust. »Porter, an Geld mangelt es meiner Familie nicht, das weißt du.«
Was will sie dann?
»Du nennst mich immer Brittany.« Ihr Blick ist nachdenklich auf die Tischplatte gerichtet, dann sieht sie zu mir auf und grinst. »Nenn mich einfach Britt, Porter. Das ist meine Bedingung.«
»Okay ... Britt.« Es fühlt sich ein wenig merkwürdig an, sie so zu nennen, aber ich würde mich schon noch daran gewöhnen. Vor zehn Minuten hätte ich mich gegen den Spitznamen noch gesträubt ― jetzt kommt es mir fast schon harmlos vor. »Lass mich wenigstens für das Essen bezahlen. Was willst du haben?«
Britt ist sichtlich überrascht von meinem Angebot, greift aber zur Karte, weil sie zu Essen glücklicherweise niemals Nein sagt. An den unzähligen Abendessen mit unseren Familien ist mir das schon öfter aufgefallen. Eigentlich ist es sogar immer die einzige Sache gewesen, die ich an ihr mochte.
Wir essen größtenteils schweigend, weil ich trotz unserer kurzen Versöhnung immer noch nicht ganz weiß, was ich zu ihr sagen soll. Es ist fast so, als würde ich mit einer Fremden essen, obwohl wir uns öfter sehen, als mir lieb ist. Ich könnte sie vieles fragen. Warum sie Auden immer belästigt hat oder wie sie zu der Nacht steht, in der ich beinahe meine verdammte Unschuld an sie verloren hätte, aber es ist wohl besser, wenn ich diese Fragen vorerst für mich behalte.
Wenn wir schweigen, streiten wir wenigstens nicht.
Ich zahle, wie ich es versprochen habe, und halte nach Maya Ausschau, die ich aber nirgends sehen kann. Wie ich mich von Britt verabschieden soll, weiß ich nicht so ganz. Zuerst gehen wir in eine Umarmung über, lassen das aber im letzten Moment fallen und wollen uns die Hände schütteln.
Ziemlich untypisch für uns.
Schließlich schlagen wir mit den Handflächen ein, lächeln uns einmal unbehaglich an und sie verlässt das Diner. Ich selbst bleibe, weil ich unbedingt mit Maya reden muss, wie ich es vorgehabt hatte.
Ich finde sie hinter der Theke, wo sie gerade ihre Schürze abnimmt. Sie sieht unglücklich aus, versucht es aber zu verstecken, was mir überhaupt nicht gefällt. Was hat sie bloß?
»Oh, Porter«, sagt sie überrascht, als sie mich entdeckt. Unzählige rote Haarsträhnen haben sich aus ihrem lockeren Zopf gelöst, sie hat irgendetwas an ihrer Wange, das wie Suppe aussieht und ihre Augen sind größer und panischer als je zuvor. Trotzdem ist und bleibt sie wunderschön. »Was machst du hier?«
»Dich anstarren«, entgegne ich vielleicht ein bisschen zu ehrlich.
»Ja, das ... das merke ich.« Sie kommt um die Theke herum, schnappt sich ihren Rucksack und sieht verwirrt zu mir auf. »Solltest du nicht eher bei Brittany sein?«
Sie stellt die Frage weder zickig noch enttäuscht, aber ich höre trotzdem ein wenig Eifersucht heraus. »Britt und ich sind nicht einmal Freunde, Cherry.«
»Britt ...?«
Ehrlich sein. Ich muss verdammt noch mal ehrlich sein! Ich hole tief Luft und bereite mich auf den längsten Satz vor, den ich jemals ausgesprochen habe. »Brittany wollte sich hier mit mir treffen und weil ich nicht will, dass sie mir den Kopf abreißt, habe ich zugesagt, aber dann fing sie mit all den Gründen an, warum ich herkommen sollte, also haben wir kurz gestritten, uns angeschrien ― das hast du bestimmt mitbekommen ― und schließlich hat sie mir den letzten Grund verraten, der mit meinen schlechten Chemienoten zusammenhängt, und mir eine unglaublich hilfreiche Zusammenfassung vom Stoff gegeben, wofür ich sie im Gegenzug Britt nennen soll.«
Maya lacht leise und ihre Wangen werden ein wenig rot. »Das war ziemlich ausführlich. Du weißt aber, dass ich dir auch in Chemie geholfen hätte? Ich meine, klar, wir sind nicht in demselben Kurs, aber die Themen sind trotzdem gleich.«
»Ich will niemandem unnötig Zeit wegnehmen.« Schon wieder bin ich viel zu ehrlich. »Du hast deinen Job hier und Auden muss sich um seine Geschwister kümmern. Ach, und Kyler, Warren und Daniel sind kaum besser als ich.«
»Ich hätte dir trotzdem geholfen.« Sie kommt einen Schritt näher und verschränkt dabei die Arme vor der Brust. Wenn ich mich nicht irre, dann will sie noch mehr sagen, aber sie tut es nicht.
»Was ist?«, hake ich also leise nach.
»Hast du noch irgendetwas vor?« Maya schluckt schwer und macht einen nervöseren Eindruck, als ich es von ihr kenne. »Jetzt, meine ich.«
Anstatt auf ihre Frage einzugehen, komme ich ihr ebenfalls näher und ziehe besorgt die Augenbrauen zusammen. »Maya, was ist los? Du hast irgendetwas.«
Sie dreht sich leicht zur Seite, vielleicht, weil ihre Gefühle dann schwerer für mich zu erkennen sind. Es klappt nicht. Ich kann ihr immer noch genau ansehen, dass irgendetwas nicht stimmt.
»Porter ...« Mayas Trauer in diesem Moment ist fast zu überwältigend für mich. »Ich weiß, dass du bald umziehst.«
Mein erster Instinkt ist Flucht. Wie kann Maya hier stehen und kein bisschen wütend sein, dass ich ihr das verschwiegen habe? Dummerweise schiele ich zur Eingangstür vom Josie's, aber ich würde zu lange brauchen, um mich an den vielen Menschen dort vorbei zu drängeln und die Flucht zu ergreifen.
Maya gibt neben mir ein Geräusch von sich, dass wie ein Seufzen und Schmunzeln zugleich klingt. Dann wirft sie ihre Schürze einer anderen Kellnerin zu, die uns schon länger beobachtet und Maya vielsagend ansieht. Anscheinend ist ihre Schicht vorbei, denn Maya zieht mich einfach so an der Hand aus dem Diner und sagt auch draußen kein Wort zu mir.
»Ich kann nicht einschätzen, ob du mich gleich umbringen willst oder wir zusammen in den Sonnenuntergang reiten.«
»Reiten?«, hakt sie sofort mit hochroten Wangen nach, während wir die Straße entlanglaufen.
Mein Grinsen ist mit Sicherheit unverkennbar. »Ja, reiten, Cherry. Das sagt man so.«
»Ich werde dich jedenfalls nicht umbringen«, stellt sie klar. »Ich will dir einfach nur etwas zeigen.«
In ihre letzte Aussage könnte ich jetzt vieles hineininterpretieren.
Wir laufen nicht lange, auch wenn ich es nicht gewohnt bin, überhaupt so viel zu Fuß zu gehen, um an einen Ort zu kommen. Wenn ich Trixie nicht dabei habe, fahre ich überall mit Lawrence hin, aber da Maya noch keinen Führerschein besitzt, kann ich mir vorstellen, dass sie einfach keine andere Wahl hat.
Das Ganze hier ist mehr ausgeartet, als ich angenommen habe. Auden ist zum jetzigen Zeitpunkt auf der Beerdigung und denkt, ich leide wegen Brittanys Anwesenheit, weil ich ihm das ja auch erzählt habe. Stattdessen bin ich mit Maya unterwegs, die mir irgendetwas zeigen will. Ich wünschte, ich hätte Auden von Anfang an gesagt, dass ich mit ihr reden möchte. Dann würde ich mich jetzt wenigstens nicht so schlecht fühlen.
Ungefähr fünfzehn Minuten später sind wir in der Nähe von Mayas Haus am Waldrand und schauen zu einem der Bäume hoch. Das Baumhaus dort oben scheint Maya bekannt zu sein, denn sie steigt, ohne zu überlegen, die Leiter hoch und sieht ab der Hälfte zu mir nach unten. »Kommst du?«
Unschlüssig runzle ich die Stirn.
Trotzdem schiebe ich meine Höhenangst beiseite, nicke und klettere ebenfalls nach oben. Kaum dass ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, zieht sie mich durch die Tür in den kleinen gemütlichen Innenraum und sieht mich lächelnd an. »Willkommen zu meinem Lieblingsort. Natürlich ist es keine luxuriöse Villa, Mr Sinclair, aber ein bisschen muss sie dich schon beeindrucken.«
Meine Mundwinkel heben sich mit jedem ihrer Worte mehr an. »Ich bin ziemlich beeindruck, Miss Edwards. Hast du vor mich hier umzubringen?«
Seufzend wirft sie die Arme in die Luft. »Ich will dich nicht umbringen, auch wenn du mir von dem Umzug nicht erzählt hast.«
»Warum nicht?«
»Weil ich dann niemanden mehr habe, der mich zur Schule fährt.«
»Sehr lustig«, entgegne ich.
»Und weil du der Einzige bist, der mich morgens zum Lachen bringen kann.«
Das ist tatsächlich eines meiner Talente, auf die ich besonders stolz bin.
»Und weil es mir wirklich, wirklich Spaß macht zuzusehen, was für ein Gesicht du ziehst, wenn du nicht das bekommst, was du willst.« Maya zieht aus der kleinen Schublade neben ihr ein dickes Buch heraus, bei dem ich das Gesicht verziehen muss, weil dort ganz dick und fett CHEMIE draufsteht. »Ausnahmsweise bekommst du aber heute, was du willst.«
»Also einen Kuss?« Ich kann mein Glück ja mal versuchen.
Maya schüttelt grinsend den Kopf und klopft auf den freien Platz auf dem Sofa neben ihr. »Nein, aber dafür kriegst du mich als deine neue Chemielehrerin.«
»Wie hast du von dem Umzug herausgefunden, Cherry?«, will ich vorerst wissen.
Sie seufzt. »Deine Mom dachte, ich wüsste Bescheid. Als du und Auden kurz die Küche verlassen habt, hat sie das Thema angeschnitten und ich habe so getan, als wäre das alles nichts Neues für mich.«
»Meine Mom hat dich also damit zugetextet, dass unsere Firma umzieht und ich deshalb drei Staaten weiter leben werde?«
»Meine Grandma wohnt in Kansas. Dort soll es ziemlich schön sein.«
»Versuchst du mich jetzt ernsthaft aufzumuntern, obwohl ich dir das verschwiegen habe?«
Sie nickt, als wäre es keine große Sache. »Ja, weil ich verstehe, warum du es getan hast.«
Zwei Dinge gehen mir gerade durch den Kopf. Erstens bin ich mir ziemlich sicher, dass ich ihr spätestens am Ende dieses Schuljahres nicht mehr widerstehen kann. Selbst wenn ich die Kuss-Deadline dann verloren habe, muss und will ich sie unbedingt küssen. Und zweitens frage ich mich, wie sie hier sitzen und mir Chemie beibringen möchte, wenn ich ihr ständig und immerzu entweder etwas verschweige oder sie einfach anlüge.
»Roamer ist am Abendessen aufgetaucht«, sage ich, während ich mich neben sie setze. Ich bewahre dabei Abstand, um bloß nicht auf die Idee zu kommen, mich hierfür auf ganz besondere Art und Weise zu bedanken. »Anfangs dachte ich, er wollte Geld, aber mittlerweile weiß ich nicht mehr, was er will, Cherry. Er taucht einfach auf, redet wirres Zeug und droht meinen Freunden.«
Das Chemiebuch rutscht ihr fast vom Schoß, während sie mir zuhört. »Er hat dich erpresst, nicht wahr? Deshalb hast du damals nach Rauch gerochen.«
»Ich habe fast die ganze Schachtel rauchen müssen.« Ich schlucke schwer. »Und er hat einfach zugeschaut. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, Cherry. Er war so glücklich, dass es mir in dem Moment hundsmiserabel ging.«
Sie legt tröstend eine Hand auf meine Schulter, aber ich nehme sie sanft von mir weg.
»Seitdem versuche ich erneut aufzuhören, aber es klappt nicht wirklich«, gebe ich zu. »Wahrscheinlich rieche ich jetzt auch nach Rauch.«
Wieder legt sie ihre Hand auf meine Schulter und ist mir plötzlich genauso nah wie vor einem Monat, als sie mich in Handschellen vorgefunden hat und wir uns fast geküsst hätten. Ich halte mir Audens Gesicht vor Augen, um jetzt bloß nicht meine Selbstbeherrschung zu verlieren. Auch wenn es dafür bereits zu spät ist.
»Mich stört der Geruch nicht«, flüstert Maya leise und mit gerunzelter Stirn. »Mich stört es nur, dass es dir damit schlecht geht.«
Ich kann nicht glauben, dass wir hier sitzen und sie nicht wütend ist, obwohl es dafür ungefähr eine Million Gründe gibt. Ich habe ihr über Monate hinweg Dinge verschwiegen, ich hatte gerade quasi vor ihren Augen ein Date mit Brittany ― jedenfalls muss es für sie so ausgesehen haben ― und ich weiß ganz genau, dass Auden gerade einen seiner schlimmsten Momente im Leben erfährt und ich hier mit Maya sitze, als wüsste ich nicht, dass er sich längst in sie verliebt hat.
»Maya ...« Ich weiß nicht einmal, was ich sagen will, deshalb lasse ich ihren wunderschönen Namen in der Luft hängen.
Sie nimmt die Hand von meiner Schulter, als wüsste sie genau, was ich sagen wollte. »Ich weiß. Es ist schon okay.«
»Es ist nicht okay, dass ich ständig lüge. Ich hätte dir von Roamer und dem Umzug erzählen sollen.«
»Ja, das hättest du«, gibt sie zu. »Aber wenn wir ehrlich zueinander und zu uns selbst sind, dann sind das unsere geringeren Probleme. Auden, du und ich ... wir sind ... zwischen uns allen hat sich ein riesiges Problem zusammengebraut, nicht wahr?«
Leugnen ist wohl ab jetzt zwecklos.
Und die Wahrheit ist, dass mein bester Freund, der bereits viel zu viel Ungerechtigkeit erfahren hat und dem ich im Leben nie wehtun will, und ich uns beide in dasselbe Mädchen verliebt haben.
Wegen eines dummen Spiels.
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