Wahrheit
«Ich...wieso hat der Schatten 'ich' gesagt?», dieser Gedanke hält Leyla seit Tagen auf Trab. Sie hatte am Tag der Entdeckung des Albums keine Kraft mehr, ihre Mutter damit zu konfrontieren. Also schnappte sie sich das dicke Buch und den roten Ball und schlich aus dem Haus. Keiner nahm Notiz von ihr. Da sie von dem vielen Grübeln vollkommen übermüdet ist, legt sie sich hin, in der Hoffnung etwas Schlaf zu finden.
Mitten in der Nacht schreckt sie hoch. Diesmal allerdings nicht wegen eines schlimmen Traumes, sondern weil sie das 'ich' endlich verstanden hat. Hastig sieht sie zum Schatten. «Du bist Enis.» Als sie das sagt, hört sie wieder diesen lauten Pfeifton, nur dass er sich diesmal verändert. Sie lauscht, während ihr Körper von einer Gänsehaut überzogen wird, wie sie sie noch nie erlebt hat. Sie zittert am ganzen Körper. Tränen arbeiten sich hoch, ohne, dass sie diese kontrollieren könnte. Ihre Lunge schmerzt und ihr ganzer Bauch verkrampft sich. Am liebsten würde sie laut schreien. Doch sie bringt die Kraft für diese Art der Entladung ihrer Gefühle nicht auf. Alle Emotionen rollen über sie hinweg und durch sie hindurch, alle angestauten Ängste, all die Ablehnung und Einsamkeit. Bis am frühen Morgen liegt sie in diesem Zustand zusammengekrümmt auf ihrem Bett. Erst als die Sonne aufgeht und ihr Licht spendet, kommt Leyla etwas zur Ruhe.
Eigentlich hätte sie sich zu Tode fürchten müssen, nach allem was sie die letzten Stunden durchgemacht hat. Doch das tut sie erstaunlicherweise nicht. Als sie es schafft, sich aufzusetzen, spürt sie die unendliche Erschöpfung in ihrem Körper. Zeitgleich ist da jedoch eine nie zuvor dagewesene Leichtigkeit. Tief und schwer atmend steht sie auf und holt sich Wasser. Damit setzt sie sich auf ihr grünes Sofa. Das Licht im Raum fällt dabei auf ihre Bilder, die immer noch aufgereiht an der Wand stehen. Ihr Blick folgt dem Licht und dabei trifft sie eine Erkenntnis. Der Schatten ist weg. Sofort überkommt sie eine Unruhe. Hektisch sieht sie sich überall um. Dann erregt eine Bewegung am Rande ihres Sichtfeldes ihre Aufmerksamkeit. Schnell fährt Leyla mit ihrem Kopf herum, zurück zu den Bildern und da steht er.
Nicht der Schatten, sondern ein grossgewachsener junger Mann, ein paar Jahre älter als sie, aber dennoch jung geblieben. Seine hellen blauen Augen, die sie friedlich und liebevoll beobachten, lassen sie augenblicklich verstehen. «Enis...», flüstert sie leise. Er nickt und lächelt sie an. Dabei scheint die Sonne direkt in ihrem Wohnzimmer aufzugehen. «Ich war es immer.»
Erneut arbeiten sich Tränen in ihr hoch. «Und ich habe dich so schlecht behandelt und dich nicht erkannt», antwortet Leyla mit einer Stimme, die durch ihre Tränen beinahe zu ersticken droht. «Wie solltest du auch, du wusstest nichts von mir», antwortet Enis mitfühlend.
«Aber wieso warst du immer dieser düstere Schatten? Wieso hast du dich nicht anders gezeigt?»
«Mein Engelchen, ich war immer derselbe, du konntest mich nicht anders wahrnehmen. Wegen all der Geheimnisse und der Trauer in der Familie. Ausserdem hattest du Grossmutter, die für dich da war. Seitdem sie hinüber gegangen ist, bist du augenscheinlich allein. Das hat den Druck so sehr erhöht, dass du nun bereit bist, dich mit allem auseinanderzusetzen.»
Als sie die volle Tragweite seiner Worte zu begreifen beginnt, sackt Leyla in sich zusammen. Ganz klein sitzt sie auf ihrem grünen Sofa und starrt ins Leere. Enis hatte denselben Kosenamen verwendet, wie ihre Grossmutter, das fiel Leyla gleich auf. Es brachte sie dazu, eine aus ihrer Sicht kindliche Frage zu stellen. «Ist Grossmutter bei dir? Geht es ihr gut?»
Enis lächelt ein wunderbar helles Lachen und antwortet: «Sicher ist sie hier, meinst du wirklich sie verschwindet einfach so und lässt dich allein? Nur weil du jemanden nicht mehr sehen und anfassen kannst, heisst das nicht, dass derjenige nicht mehr existiert. Wir sind immer da, wenn du es zulässt.» Leyla nickt. «Ich muss mich jetzt etwas hinlegen», sagt sie dann sanft.
Im Bett schläft sie sofort ein. Von Schüttelfrost und Fieber wird sie später wieder wach. Ein kräftiger Husten plagt sie zusätzlich. Ängstlich sieht sie sich um. «Enis, was passiert nur mit mir?», ihre Stimme ist sehr schwach. «Mach dir keine Sorgen, du hast Fieber, dein Körper heilt jetzt. Schlaf einfach und während du träumst, erzähle ich dir alles.»
«Als ich geboren wurde, war ich alles für Mama und Papa. Sie hatten sich nichts sehnlicher gewünscht, als einen Sohn und nun war ich da, ihr grösstes Geschenk. Sie gaben mir all ihre Liebe und Aufmerksamkeit. Nie hat es mir an etwas gefehlt. Ich war sehr glücklich, doch tief in mir spürte ich, dass da etwas auf mich zukommen wird. Am 24. April 1993 war dieser Tag gekommen. Ich spielte an der Strasse, Mama, war mir auf den Fersen, denn sie mochte das nicht. In dem Moment rollte mein Ball auf die Strasse und im Vertrauen, dass Mama da ist, lief ich ihm hinterher. Das Auto erfasste mich so schnell, niemand hätte es verhindern können. Ich war sofort weg. Danach verfiel Mama in eine tiefe Depression, die sich nach Jahren erfolgloser Therapie zu einer Art besessenen Vorstellung wandelte. Sie wollte ein weiteres Kind bekommen, in der fixen Überzeugung, dass wenn sie dieses Kind an einem 10. Dezember bekommt, es wieder ich sein werde. Deshalb sorgte sie mit allen Mitteln dafür, dass sie die Geburt auf den Tag legen konnte. Papa hat sie immer unterstützt, so sehr fürchtete er sich davor, was geschehen würde, wenn sie dieses Kind nicht bekäme. Als du dann zur Welt kamst, versuchte sie mich jahrelang in dir zu erkennen. Irgendwann wandelte sich ihre Enttäuschung in Abneigung und Wut. Weisst du Leyla, ich glaube, sie hasst sich selbst am meisten dafür, dir keine liebende Mutter gewesen zu sein. Sie hasst dich nicht, aber du erinnerst sie an alles, was sie verloren hat und sie kann nach wie vor nicht erkennen, was sie alles bekommen hat. Nämlich einen loyalen und hingebungsvollen Mann und dich.»
Ein paar Tage später ist Leyla wieder gesund. Mithilfe von Tee und Brühe kam sie schnell wieder zu Kräften. «Vielleicht kannst du Mama helfen, ihren Schmerz zu überwinden», dringt Enis Stimme zu ihr durch.
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