Lauf!

Mitten in der Nacht steht Leyla schwer atmend am Waschbecken ihres kleinen Wohnateliers. Mit den Händen schöpft sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und sieht anschliessend in den Spiegel. Ihr Herz rast nach wie vor. Gerade eben lag sie noch im Bett und hatte seit langem wieder einen dieser schrecklichen Träume. Seit Jahren ist sie davon verschont geblieben, wenn auch nicht vor ihrem ständigen dunklen Begleiter. Mit ihm hat sie viele Phasen durchlebt. Anfangs war sie neugierig, dann hatte sie Angst vor ihm. Während der Schulzeit verursachte er ihr nur Termine beim Psychologen und anderen Ärzten. Irgendwann lernte sie, nicht mehr darüber zu sprechen, ihn zu leugnen und zu ignorieren. Heute, mit ihren 24 Jahren, begleitet er sie immer noch, dunkel und meistens ruhig, aber immer da. Hinter sich im Spiegel kann sie ihn sehen. Durch ihren Traum neben sich stehend, reagiert sie seit langem wieder auf ihn: «Verschwinde endlich!» Sie schreit die Worte beinahe. Doch der Schatten bewegt sich keinen Millimeter weg. «Wieso versuche ich es überhaupt?», denkt sie still für sich.

Vom Traum und der Müdigkeit geprägt tappt sie im Dunkeln zur kleinen Kochnische. Dort füllt sie Wasser in ein Glas und geht zu ihrem kleinen grünen Sofa. Aus alter Gewohnheit liegt auf dem Beistelltischchen ein Tagebuch, in welches sie ihren Traum notiert. Die kleine Lampe, die sie einschaltet, spendet ein warmes Licht. Während dem Aufschreiben läuft alles nochmals wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab.

Sie befindet sich am Rand einer äusserst steilen Klippe. Darunter toben Wellen und künden einen gewaltigen Sturm an. Der Wind zerrt von allen Seiten an ihr und sie fühlt sich in die Enge getrieben. Neben ihr lauert ihr ständiger Begleiter. In diesem Moment ist sie sogar beinahe dankbar für seine Anwesenheit, denn das Gefühl allein zu sein, ist hier an diesem rauen Ort, überwältigend.

In die Stimmen des Windes mischen sich jene ihrer Eltern und der vielen Lehrer, die mit ihr nicht zurechtkamen. «Du wirst ganz allein sein.» «Niemand kann dich so lieben.» «Aus dir wird nie was werden.» «Ha, Künstlerin, dass ich nicht lache. Aber an düsterer Fantasie scheint es dir zumindest nicht zu mangeln. Das wird nur niemanden interessieren.»

Anstatt die Stimmen zu widerlegen, ihnen zu beweisen, dass sie im Unrecht sind, bricht sie beinahe unter deren Last zusammen. Denn insgeheim sind die vielen Stimmen zu ihrer eigenen geworden. Niemand mag sie, ihre Kreationen und Gemälde wird nie jemand kaufen. Also kniet sie an dieser Klippe nieder und beginnt zu weinen. Der Sturm kommt in rasender Geschwindigkeit auf sie zu, er bringt Blitz und Donner mit sich. Sie weiss, was jetzt kommen wird, sie hat es schon viele Male durchlebt. Immer etwas anders, aber immer mit demselben Ergebnis. Der Sturm wird seine Klauen nach ihr ausstrecken und sie mit sich reissen. Hinaus auf das Meer geschleudert, wird sie im dunklen Wasser wie ein Stein versinken. Niemand wird sich an sie erinnern. In dem Moment, als sie bereits kapituliert hat, schlägt ein heller Blitz neben ihr ein, begleitet von einem gewaltigen Donnergrollen. Erschrocken sieht sie an die Stelle, dort liegt sie, die dunkle Gestalt. Ihre Blicke treffen sich und zum ersten Mal erkennt sie, dass die Augen der Gestalt von einem friedlichen Blau sind. «Lauf!», weist sie Leyla mit verzerrter Stimme an. Warum sie gehorcht, weiss sie selbst nicht genau, schliesslich ist es das erste verständliche Wort der Gestalt. Doch sie erhebt sich und läuft davon, weg von der Klippe, weg von der Gestalt.

Selbst das Aufschreiben hilft ihr nicht dabei, zu verstehen, was diesmal anders war im Traum. Sie sieht sich um und versucht das Blau in den Augen ihres Begleiters zu erkennen. Doch sie ist beim besten Willen nicht dazu im Stande. Verzweifelt geht sie in ihrem Atelier auf und ab, als sie vor dem schmalen Regal stehen bleibt und das Foto ihrer Grossmutter betrachtet. Sie ist vor wenigen Wochen verstorben. Friedlich war sie eingeschlafen und nicht mehr erwacht. Sie war immer der Anker in Leylas Leben, der Mensch, von dem sie geliebt wurde.

Was wären wir ohne Liebe? Auch wenn sie augenscheinlich nur von einem einzigen Menschen kommt, niemand kann ohne sie leben. Über Leylas Gesicht fliessen Tränen, bei dem Gedanken an ihre Grossmutter und deren unerschütterlich fröhliches Wesen. Ihre Grossmutter hatte sie nie für verrückt erklärt und ihr immer zugehört. Manchmal meinte Leyla, dass sie ihr sogar wirklich glaubte und viel mehr zu wissen schien. Doch sie schwieg bis zum Schluss darüber. Ob sie wohl wusste, dass sie Leyla bald verlassen würde? Ein paar Tage vor ihrem Tod stand sie plötzlich und unangemeldet vor Leylas Tür, mit einem leckeren Zitronenkuchen im Korb und einer Thermoskanne selbst gebrühten Kaffees. Für eben diesen war sie berühmt. An dem Tag teilte sie ihr Geheimnis um den Kaffee mit Leyla und bläute ihr ein, dass sie unbedingt an ihrem Traum, von ihrer Kunst leben zu können, festhalten solle.

«Weisst du mein Engelchen,es gibt so viele Menschen da draussen, die sich unglaublich wichtig vorkommen.Doch sie rennen alle in ihrem Hamsterrad herum. Sieh nur in ihre Augen und duweisst, wer wirklich glücklich ist und sein Leben lebt. Du wirst auch dieerkennen, die nur so tun als ob. Hab Vertrauen, Engelchen, du wirst dieunendliche Schönheit und Harmonie in deinem Leben bald erkennen.» Leyla hattedamals nur gelacht und heute seufzt sie bitter darüber. Denn gerade hat sienicht das Gefühl, dass überhaupt etwas schön und harmonisch ist oder wird. Mitdem Foto in den Händen, geht sie zu ihrer Staffelei und blickt auf die leereLeinwand. Sie stellt das Bild neben die Staffelei und greift nach einem Pinsel.Plötzlich hat sie eine Szene vor sich, die sie gerne auf die Leinwand bringenmöchte. Es ist wie in ihrem Traum. Eine Klippe, das Meer und viel Grün, dochder Sturm fehlt und es wirkt alles äusserst friedlich. Wieder sieht sie dieblauen Augen vor sich. Während dem Malen fasst sie den festen Entschluss, denblauen Augen nachzugehen, sich nochmals mit dem Schatten auseinanderzusetzen. «Einletztes Mal», sagt sie sich, während sie tief durchatmet und ihrerGrossmutter in die Augen sieht.

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