Entsetzen
Seufzend steht Leyla vor ihrem neusten Werk. Es hat Zeit in Anspruch genommen, mehrere Tage sass sie daran, bis sie es fertiggebracht hat, eine perfekte Harmonie und Frieden zu kreieren. Doch wirkliche Zufriedenheit stellt sich nicht in ihr ein. Das Bild zeigt etwas, was ihr völlig fremd ist. Ihre Gedanken kreisen und sie fragt sich, wie eine Welt perfekt sein soll, in der so schlimme Dinge geschehen. Eine Welt, die ihr den Menschen nimmt, von dem sie bedingungslos geliebt wurde. Als sie in Tristesse zu versinken droht, zieht es sie nach draussen. Dabei ist sie, in ihrer Wahrnehmung wie immer, nicht allein unterwegs.
Draussen atmet sie die frische Frühlingsluft ein. Ihre Kleidung steht in starkem Kontrast zum schönen Frühlingstag. Die schwarze und schlichte Jeans geht in ein völlig unscheinbares, grosses, sowie schwarzes T-Shirt über. Der einzige Farbtupfer bildet das breite Schultertuch. In einem schönen, natürlichen Rosa passt es wunderbar zu ihren dunkelbraunen Haaren und den hellblauen Augen. Es ist jedoch so, dass sie dieses Schultertuch niemals selbst gekauft hätte. Es war ein Geschenk ihrer Grossmutter und seitdem diese sie verlassen hat, trägt sie es jeden Tag. Da sie sonst mehrheitlich Schwarz trägt, passt es insofern zu allem. Über den Stil liesse sich allerdings streiten. Doch so nahe liess sie nach langjähriger Erfahrung kaum noch jemanden an sich heran. Würden andere den Schatten ebenfalls sehen können, fiele ihnen wahrscheinlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden auf.
So gehen also an diesem schönen Frühlingstag zwei düstere Gestalten über den Fussgängerstreifen hinüber zum Park. Dort folgen Leyla und ihr Schatten einer langen Promenade, die durch die gepflegte Natur, hin zu einem genauso gepflegten Teich führt. An einer dicht bewachsenen Stelle verlassen die Beiden den wohlgeformten Weg. Äste, Blätter und kleine Dornen machen es Leyla schwer, den schmalen dahinter verborgenen Pfad zu betreten. Genau deshalb entdecken auch nur wenige, was sich an dessen Ende befindet. Leise und auf die vielen Zweige achtgebend, bahnt sich Leyla ihren Weg. Da hat es ihr Schatten deutlich einfacher, ohne Widerstand gleiten die Hindernisse durch ihn hindurch.
Mit ein paar Blättern in den Haaren und kleinen Zweigen am Schultertuch, erreicht Leyla die überschaubare Wiese. Darauf achtgebend, dass sie die zahlreichen und bunten Blumen nicht zerdrückt, setzt sie sich in das noch feuchte Gras. Mitten in diesem Fleckchen echter Natur, umgeben von Vogelgezwitscher und Wassergurgeln, lässt sie sich ihr Gesicht von der Sonne liebkosen. Als sie die Augen schliesst, fühlt sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Ihre Grossmutter nahm einen frisch gebackenen Zitronenkuchen aus dem Ofen und stellte ihn vor ihr auf den Tisch. Sie sog den Duft richtig ein und ihre Grossmutter strich ihr dabei liebevoll über die Wange.
Aus dieser Erinnerung an ferne Tage wird sie von einem äusserst eigenartigen Summen geholt. Dieses Geräusch hat sie noch nie gehört. Hastig blickt sie sich nach dessen Quelle um, kann jedoch nichts erkennen. Natürlich, neben ihr sieht sie ihren Begleiter, doch der macht keine derartigen Geräusche. Meistens flüstertet er ihr einfach unverständlich ins Ohr oder schweigt vollständig. Aber verstehen konnte sie ihn nie. Als er ihr im Traum sagte «Lauf», war es das erste verständliche Wort von ihm. Manchmal beschleicht sie allerdings das Gefühl, dass sie ihn als Kleinkind verstanden haben könnte und sogar in seiner Sprache mit ihm kommunizierte. Das war dann wohl die Zeit, in der sie neugierig auf ihn zuging. Bald darauf kamen jedoch die Träume und auch dort war er dabei. Als er sie darin jedes einzelne Mal im Stich liess, begann sie sich vor ihm zu fürchten.
Das Geräusch und dessen unbekannte Ursache lässt ihr indes keine Ruhe. Also erhebt sie sich und macht sich auf den Weg zurück. Unterwegs hält sie Augen und Ohren offen. Ruckartig sieht sie sich um, immer auf der Suche nach dem Ursprung. Eine nervöse Unruhe ergreift sie und lässt ihre Schritte immer schneller werden. Leyla ist schon beinahe bei der Strasse, nach deren Überquerung sie zu Hause wäre, als sie etwas sieht.
Es ist nicht die Ursache für das Geräusch, dennoch lässt es ihr Herz beinahe stehen. Ein kleiner Junge spielt am Strassenrand, als er die Kontrolle über seinen roten Ball verliert und diesem auf die Strasse folgt. Leyla hat keine Zeit sich Gedanken darüber zu machen, wie grobfahrlässig es ist, einen Jungen an einer so befahrenen Strasse allein spielen zu lassen. Von Entsetzen durchdrungen stürzt sie los. Das Geräusch wird dabei immer lauter und höher, bis es beinahe ein Pfeifen ist. Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals, so schnell gerannt, ist sie schon lange nicht mehr. Unter normalen Umständen wäre es ihr wohl auch unmöglich gewesen. Der Junge greift indes nichtsahnend, mitten auf der Strasse stehend, nach seinem roten Ball. Währenddessen nähert sich von Links rasend schnell ein Auto. Was auch immer mit dem Fahrer nicht in Ordnung ist, er wird nicht langsamer und hält dabei direkt auf den Jungen zu.
Tränen mischen sich mit dem Schweiss auf Leylas Gesicht. Sie hat die Strasse erreicht, schnappt sich den Jungen und hechtet hin zum rettenden Gehweg auf der anderen Seite. Das Auto hat die beiden nur um Haaresbreite verfehlt. Keuchend setzt sie sich mit dem Jungen auf den Fussweg und drückt ihn fest an sich.
«Du darfst nie wieder einfach so auf die Strasse rennen. Hast du verstanden?», ihre Stimme ist von Anstrengung, Angst und Erleichterung gekennzeichnet. Der Junge sieht sie mit seinen hellen blauen Augen an, als eine Stimme an ihr Ohr dringt.
«Entschuldigen Sie, junge Dame, geht es Ihnen nicht gut?» Die Stimme gehört zu einer älteren Frau, die Leyla vom Sehen aus dem Quartier kennt. «Haben Sie das nicht gesehen? Der Junge hier wäre beinahe von einem Auto überfahren worden.»
«Welcher Junge denn? Ich habe gesehen, wie sie beinahe vor ein Auto gerannt sind und dann sprechen Sie noch mit sich selbst. Sind Sie sicher, dass ihnen nichts fehlt?»
Entsetzt sieht Leyla zu dem Jungen, doch ihr Arm ist leer. Niemand ist da. Ihr wird übel. «Entschuldigen Sie bitte, ich habe wohl zu wenig geschlafen.» Damit flüchtet sie sich in ihre Wohnung. Das Pfeifen ist verschwunden.
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