Kapitel 58 - Vogelfrei
„Robin!", keuchte Marian und Robin zog sie kurz aber herzlich an seine Brust. Sie fielen sich einfach in die Arme und beide hätten sich gewünscht, dieser Moment könnte länger andauern. Doch umgeben von Feinden, die sie in Kerker und am Galgen sehen wollten, war nicht der rechte Augenblick für Versöhnungen oder Aussprachen.
„Für deinen hoffentlich sehr ausschweifenden Dank haben wir später jede Menge Zeit!", meinte Robin, „Doch nun müssen wir fort von hier!", dabei hob er die Finger an die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus. Unten im Burghof und auf den Wehrgängen, zwischen den Bürgern und Bauern, verstanden alle das Signal zum Rückzug.
Plötzlich lichteten sich die Reihen, die Soldaten gewannen schnell und zunehmend die Oberhand. Genug Blut war vergossen worden. Das Durcheinander hatte getan, was es sollte - nun flohen die Aufwiegler zwischen den Bürgern aus dem Burghof. Die Soldaten waren ihnen dicht auf den Fersen.
„Erinnerst Du Dich an unsere erste gemeinsame Flucht, Mylady?", fragte Robin mit einem schelmischen Klang in der Stimme.
Marian verstand sofort, auf was er hinaus wollte und ein wissendes Lächeln schlich sich auf die roten Lippen der jungen Frau. Dennoch schüttelte sie zunächst den Kopf. „Sie würden uns folgen!", meinte Marian und diesmal war Robin es, der sie fragend ansah.
Sie jedoch griff nach seinem Köcher, um sich frech einen der Pfeile daraus zu stehlen. Ihre Zunge glitt über die Befiederung und Robins Brauen hoben sich bei diesem Anblick. Nicht nur, weil die rosige Spitze ihrer Zunge ihn einen Moment ablenkte - sondern weil er diese Technik noch nie anderswo gesehen hatte.
Marians Aufmerksamkeit galt allein ihrem Ziel. Sie hatte nur eine der schwarzen Federn befeuchtet, dadurch würde der Pfeil einen leichten Drall erhalten. Aber genau das wollte sie. Marian legte an, zielte und ließ los. Der Pfeil durchschnitt die Luft, zischte davon und traf sein Ziel genau. Das Seil zerriss, dann gab es unter der Last nach und mit einem ohrenbetäubenden Klattern fiel das erst vor wenigen Wochen wieder erneuerte Gegengewicht der Zugbrücke in die Tiefe. Männer sprangen hinfort, um nicht erschlagen zu werden. Der große Steinbrocken schlug auf den Boden auf, Stahl ächzte und Stein splitterte.
„Hood!" , brüllte es im Burghof und Marian schnaubte daraufhin beleidigt.
„Es sieht aus, als würde wieder mal nur Dir allein aller Ruhm zukommen, Robin", meinte sie empört und Robin lachte leichtherzig.
„Ehre, wem Ehre gebührt, meine Liebe. Und immerhin hast du meinen Pfeil benutzt!" Mit einem Sprung war er auf der Wehrmauer und reichte Marian die Hand, um sie mit einem kräftigen Zug zu sich heraufzuziehen. Marian warf einen Blick über die Schulter zurück, hin zu dem Leben, dass sie nun hinter sich ließ.
Im Stillen erhoffte sie sich vielleicht einen letzten Blick auf Guy. Sie hatte ihn die ganze Zeit nicht gesehen und Unruhe wuchs in ihrem Herzen, als sie ihn erneut nicht erblickte.
Robin konnte ihre Gedanken erahnen. „Es geht ihm gut. Er schläft ein wenig, damit er uns nicht aufhält", meinte er und erwähnte dabei nicht, dass Guy sie verraten hatte. Bei Gott, sie hatte heute genug leiden müssen.
Ein Brocken fiel Marian vom Herzen - doch der größte blieb. Ihr Blick flog dahin, über Soldaten und den Galgen hinweg, bis hin zu dem steinernen Balkon. Und dort, über all das Chaos hinweg, begegnete ihr Blick so zielgenau, wie ihre Pfeile stets ins Schwarze trafen, dem ihres Vaters. Marian hatte mit viel gerechnet. Angst, Vorwurf, Enttäuschung, Schock. Aber was sie sah, war ein Mann, der für sein einziges Kind nichts als Liebe übrighatte. Seine Lippen formten keine Vorwürfe. Nichts davon stand in seinen Zügen. 'Flieh', formten stattdessen die Lippen des Earls lautlos und ein sachtes Nicken war es, was das letzte Zögern mit der Leichtigkeit fortwischte, wie ein Wind trockene Blätter hinfort trug. Ein gehauchter Kuss traf sie mitten ins Herz.
Marian schluckte schwer, gleichzeitig fühlte sie sich so leicht wie nie zuvor. Lady Marian De Burgh war am Galgen gestorben - aber jedes Ende war zugleich ein neuer Anfang.
Ein paar der Banditen sprangen bereits wie die Fische aus einem Fischerboot in den Burggraben. Auch John flog wie ein Felsen und das Platschen seines massigen Körpers ließ die Wellen ein Stück auf die grüne Wiese schwappen. Hinter einem umgefallenen Heuwagen stand bereits Samuel, und an den Zügeln tänzelten Rösser nervös, während Pfeile von der Mauer in die Richtung der Fliehenden flogen. Das Surren klang wie ein Bienenschwarm. Das Wasser platschte und die wütenden Rufe des Sheriffs mischten sich zu dem Rasseln nahender Kettenhemden. Inzwischen prallten die ersten Bolzen gegen das Gemäuer um sie herum und das Zischen der Pfeile mahnte zur Eile.
Robin lenkte seinen Blick wieder auf Marian und nie hatte er sich nach einem Raubzug zufriedener gefühlt.
„Sei nicht traurig, Marian", meinte Robin sanft und zog ihre Finger zu seinen Lippen, wo er einen Kuss auf ihren Handrücken setzte. „Ab jetzt wirst du für mich und für alle anderen Geächteten im Sherwood Forest die einzig wahre und geliebte Königin von Pfeil und Bogen sein!", verkündete der Dieb und lächelte ihr entgegen. „Und nun wird es Zeit, nach Hause zu gehen."
Marians Wangen kribbelten vor Hitze, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Diesmal aber erwehrte sie sich dem Gefühl nicht. Marian hatte ihre Wahl schon lange vor dem heutigen Tag getroffen und sie war sich sicher, dass Gillian und ihre Mutter in diesem Moment auf sie herab lächelten. Als wollte der Himmel ihre Gedanken bestärken, brachen in diesem Moment die Wolken über ihnen auf und einzelne Strahlen goldenen Sonnenscheins warfen sein Licht herunter auf Castle De Burgh.
„Und wo soll dieses Zuhause sein?", fragte Marian dann, umgeben von zischenden Pfeilen und begleitet von ihrem wild pochendem Herzen.
„Dahin, wohin der Wind uns trägt!", antwortete Robin und griff Marians Hand fester. Dann neigte er sich ein wenig näher. „Aber fürs erste, dachte ich an eine große, alte Eiche...", raunte er ihr dann zu wie ein Geheimnis und zwinkerte ihr zu.
Gemeinsam sprangen Maid Marian und Robin Hood, wie sie es in der Nacht getan hatten, als das Schicksal ihre Wege unzertrennlich miteinander verwoben hatte.
Fortan waren der König der Diebe und die Königin von Pfeil und Bogen so frei wie die Vögel, denen der Wind ein Lied von Freiheit und neuen Abenteuern zuflüsterte.
Doch dies ist nicht das Ende dieser Geschichte.
Es ist der Anfang vieler Legenden.
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