Kapitel 56 - Marians Men

Robins gesamter Körper und jeder Muskel darin spannten sich an, als er sah, wie sich die Luke unter Marians Füßen öffnete - bereit, ihr mit einem Ruck das Genick zu brechen.

'Konzentriere dich. Deine Gefühle dürfen dir nicht im Weg stehen!', mahnte er sich, doch diesmal wollte es ihm nicht ganz gelingen. Seine Finger an der Sehne zuckten, dann ließ er den Pfeil fliegen. Er schoss davon, über die Köpfe der Leute hinweg, von denen viele indessen erstarrt und geschockt zu dem Galgen starrten. Die Grausamkeit des Moments lähmte ihre Geister sowie Körper gleichermaßen in kaltem Schock.

Ein donnernder Glockenklang zog über den Burghof, als Robins Pfeil die Alarmglocke traf. Hunderte Köpfe zucken vor Schreck zusammen, wandten sich in panisch alle Richtungen, um auszumachen, was das Geläut zu bedeuten hatte. Dann bohrte sich plötzlich ein Pfeil, keinen Fingerbreit vor den Stiefel des Sheriffs tief in das Schafott.

„ROBIN HOOD! Findet ihn! Sofort!", brüllte der Sheriff, vollkommen außer sich.

„Nicht nötig, Sheriff!" erhob sich Robins Stimme laut über die Köpfe der Anwesenden wie ein gewaltiger Schwarm Vögel. Robin Hood warf den Umhang von seinen Schultern und der Wind trug den zerschlissenen Stoff wie die Fahne einer Kriegserklärung hinfort.

„Da! Da ist Robin Hood!", rief ein Kind und zeigte mit großen Augen auf den König der Diebe. Sofort lenkte sich alle Aufmerksamkeit auf den Mann, der auf dem Wehrgang zwischen zwei leblosen Wachen stand, deren Oberkörper wie Banner über der Mauer hingen.

„Sheriff von Nottingham!", rief Robin laut, „Ihr schröpft uns alle im Namen eines Usurpators, der in London sitzt und sich einen Kehricht um das Leid seines Volkes schert!" Robin ließ den Blick schweifen, „Aber das hat jetzt ein Ende! Von nun an gibt es einen Ort im Sherwood, der denen Zuflucht bietet, die sich gegen Euch und die Tyrannei des Prinzen erheben! Und wir werden jeden Baron und jeden Earl um das erleichtern, das uns unrechtmäßig genommen wurde, solange er sein tückisches Knie vor dem falschen Regenten dieses glorreichen Landes beugt!"

Damit deutete Robin direkt auf den Galgen.

„Und heute fangen wir damit an, indem wir den größten Schatz Nottinghams stehlen! Lady Marian steht von heute an unter dem Schutze von Robin Hood und Marian's Men!"

„Habt ihr das gehört?"

Raunen ging durch die Umstehenden und sofort verbreitete sich das Murmeln, Raunen und Rufen unter den Leuten und Soldaten wie ein Lauffeuer.

„Marians Men?"

„Wer?"

„Nein, ich glaube, er sagte 'Merry Men'?"

Was hatte er gesagt?

Die Maid stehlen?

Es dauerte einige Momente, bis den Menschen gewahr wurde, was Robin Hood da gerade proklamiert hatte. Und erst jetzt wurde ihnen allen klar, dass er ihre Aufmerksamkeit von der Hingerichteten abgelenkt hatte. Der Sheriff und der Blick aller wandte sich sofort zum Galgen. Doch die Lady war verschwunden.

Marians Schrei war erstickt, als das Seil sich um ihre Kehle zog. Würde sie noch etwas mitbekommen, oder wurde einfach alles Schwarz werden? Sie spürte den rauen, gedrehten Hanf, welcher ihre Haut aufrieb und erwartete das Knacken ihres Genicks.

Doch das erwartete Knacken kam nicht.

Das Seil scharrte um ihren Hals, brannte und schmerzte, doch der Knoten gab plötzlich nach und rutschte aus der Lasche! Marian stürzte in die Tiefe und ihr Herz setzte für einen Moment aus. Dann, ganz unvermittelt, endete ihr Fall.

Die junge Frau blinzelte verständnislos und war in den ersten Sekunden vollkommen überfordert. Ihr Verstand schien wie auf glattem Eis ausgerutscht und brauchte erst einmal ein paar Momente, um sich wieder zu fangen. Marian war nicht fähig zu begreifen oder einen klaren Gedanken zu fassen. Erst dann wurde sie sich gewahr, dass ein großer Mann in Mönchsroben sie aufgefangen hatte.

„Maid Marian", erklang eine wohlbekannte Stimme und unter der weiten Kutte lächelte ihr ein vertrautes Gesicht entgegen:

„Mein lieber, lieber little John!", keuchte Marian, die blauen Augen so groß wie Untertassen.

„Wir dachten uns, eine Schönheit wie Euch ziert kein Galgenstrick. Also würden wir Euch gerne davon zu befreien", meinte der Hüne und Marian spürte das Herz in ihrer Brust einen Salto schlagen. Welche Freude sie in diesem Moment überrollte, hätte kein Gefäß dieser Welt zu fassen vermocht! Eben noch hatten sie Todesangst und die frostige Kälte der Gewissheit geplagt, dass ihr Leben nun hier und jetzt ein Ende nehmen würde. So wie das von Gillian und der einzige tröstende Gedanke, war ihr gewesen, dass ihre Freundin und ihre Mutter sicherlich auf sie warten würden.

Doch jetzt fiel all diese Last von ihr ab. Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen und Marian unterdrückte gerade noch ein Aufschluchzen. Dann fiel sie dem gutmütigen Riesen um den Hals und John stieß ein leises Lachen aus.

„Wir müssen fort, Mylady!", meinte John sogleich und ließ Marian sicher auf die Beine kommen. Er hielt sie noch einen Augenblick - nur um sicherzugehen, dass sie nicht vielleicht zusammensank.

„Maid Marian!", drang eine helle Stimme an ihr Ohr und im Schatten, den John warf, zeigte sich ein weites Grinsen.

„Samuel", erkannte Marian und die letzte, frostige Beklemmung schmolz in ihrem Herzen durch die warme Dankbarkeit für ihre tapferen Retter. Gleichzeitig jedoch wuchs auch die Sorge um den Jungen, den der Sheriff hätte erkennen können und den erneut der Kerker und der Galgen erwarten würde, wenn man sie schnappte!

„John, warum ist Samuel hier?", fragte sie deshalb. „Ihr könnt doch kein Kind hierher bringen!"

Es war amüsant anzusehen, wie der große Mann unter Marians rügendem Blick die Hand hob und sich schuldbewusst den Nacken rieb. „Der Mönch, der mit uns die Schlingen sabotiert hatte, meinte, dass er ihn ja wohl schlecht alleine in der Kapelle zurücklassen konnte. Er hat sich nicht davon abhalten lassen, als er erfahren hat, wen wir retten wollen", verteidigte sich der Mann, groß wie ein Bär, vor der verärgerten Frau.

„Ich habe einen Bogen für dich!", verkündete der Knabe indessen stolz und streckte Marian einen Kurzbogen und in der anderen Hand ein zusammengebundenes Bündel Pfeile entgegen.

„Wo bleibt ihr denn?", zischte ein weiterer Mann in Mönchskutte unweit des Galgens.

John machte bereits die ersten Schritte, als Marians Finger ihn aufhielten, weil sie sich an seinen Arm verirrten. „Die anderen!" Marian deutete nach oben, wo noch zwei weitere Banditen der Bande ebenfalls gehängt werden sollten.

John schüttelte den Kopf: „Um die kümmern sich die anderen. Keine Sorge... wir lassen sie nicht zurück! Dein Verschwinden wird für genug Ablenkung sorgen, damit sie entkommen."

„Herr gib mir Kraft! Was macht ihr noch hier? Fort mit euch! Ihr habt nicht viel Zeit! Robin treibt den Sheriff gerade zur Weißglut." John nickt, griff mit der freien Hand nach Samuels Arm und zog ihn problemlos hinter sich her. Als sie vom Galgen hinfort flohen, sah Marian kurz zurück und erkannte jenen Mann wieder, der sich schon beim Turnier als Bruder Tuck vorgestellt hatte. Er lächelte fröhlich, griff nach der Karaffe des Henkers und gönnte sich einen Becher Wein.

Einer der Männer in den silber-schwarzen Wappenfarben des Sheriffs stürzte indessen John, Samuel und Marian nach. Mit gezogener Klinge hetzte er an dem Galgenaufbau vorüber - plötzlich jedoch stürzte er und fiel mit dem Gesicht voraus in den Dreck.

„Ob bei Gottes Gnade, verzeiht einem unachtsamen Mönch!", entschuldigte sich Tuck und zog den Holzstab zurück, über den der Wachter gestolpert war. Er schaffte es tatsächlich, dabei höchst schuldbewusst auszusehen. Grob stieß der Soldat ihn beiseite und setzte den Fliehenden nach, doch er hatte viel zu viel Geschwindigkeit eingebüßt und verlor sie im Gewirr der Menschen.

John floh mit der Maid indessen in die Menge der Schaulustigen, während der Sheriff einen Zornesschrei ausstieß. „Schnappt sie euch! Verfolgt sie, verdammt!", donnerte sein Befehl über den Hof hinweg. Menschen und Soldaten zogen die Köpfe ein, als fürchteten sie, der Zorn des Sheriffs könnte sich wie Blitzschläge über ihnen entladen.

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