Kapitel 32 - Schnee & Freundschaft

Vor etwas mehr als einem Jahr


Keine Vögel zwitscherten und dennoch besaß der Winterhauch seinen ganz besonderen Zauber. Marian war acht, sie spielte, rannte und genoss die Schönheit der Welt im Sonnenschein. Sonnenlicht glänzte auf dem weißen Schnee wie Diamanten. Er bedeckte die Landschaft von Nottingham wie Puderzucker. Dann, ein unheilvolles Knacken. Der Boden unter ihr gab einfach nach. Marian erinnerte sich an die garstige Kälte. An das Stechen zehntausender, brennender Nadeln, das Wasser und die Dunkelheit.

Das nächste, was sie sah, war das verschwommene Gesicht eines Mädchens. Nasse Strähnen blondem Haares klebten in ihrem Gesicht und sie zitterte unkontrolliert. Gillian. Sie war niemand Wichtiges oder bedeutsames. Zumindest nicht in den Augen der Adligen oder der Gesellschaft. Sie war einfach nur ein Mädchen, die Tochter einer Bäuerin. Aber sie war ihr hinterher gesprungen, ohne zu zögern. Sie hatte sie aus dem Wasser gezogen und beide stapften sie durch den Schnee, aneinander geklammert, um sich Wärme zu spenden. Ihre Mutter hüllte sie in Decken - geflickte, selbst gestrickte Laken, die nicht aus teuren Stoffen gefertigt waren. Sie rochen nach Schaf und Stroh und Kamille.

Sie kannten sich nicht. Marian war die Tochter eines Earls und Gillian eine Bauerntochter. Gesinde. Marian war gewöhnt, von ihnen umgeben zu sein, doch eigentlich trennte sie stets ein unsichtbarer Vorhang. Aber nicht an diesem Tag. An diesem Wintertag saßen sie dort, umarmten und hielten einander fest, als kannten sie sich von klein auf. Als die Männer ihres Vaters kamen, um sie abzuholen, war sie fest davon überzeugt, ihre Retterin nicht mehr wiederzusehen.

Aber sie irrte sich. Ihr Vater ließ die Rettung seiner Tochter nicht unbelohnt und Gillian wurde zu ihrer persönlichen Kammerzofe. Die Tochter einer Bäuerin kam in die Burg, an ihre Seite. Ihre Mutter erhielt eine Stellung in der Küche. Kleidung, Essen, ein warmes Dach zu jeder Jahreszeit. Gillian kämmte ihr das Haar, sie half ihr in die Kleider. Das Mädchen brachte sie zum Lachen und hielt Marian im Arm, als sie Tränen wegen Robin von Locksley und auch, als sie jene wegen des Todes ihrer über alles geliebten Mutter vergoss.

„Mylady! Steht endlich auf. Ihr könnt nicht den ganzen Tag im Bett liegen", mit einem resoluten Schwung wurde die Decke von ihr gerissen und grelles Sonnenlicht brannte in Marians schlaftrunkenen Augen. Sie befreiten Marian aus den letzten, trägen Fäden eines frostigen Traumes und brachte sie unverwandt in das goldgelbe Licht eines frischen Herbstmorgens. Müde brummend, angelte Marian nach der Decke, um sie wieder höher zu ziehen. „Komm schon, Marian", versuchte Gillian es nun ein wenig persönlicher. „Du musst ein wenig an die frische Luft", drängte Gillian mit sanfter Strenge und scheuchte Marian mit ihrer frohgemuten Art und Weise aus den Federn. Sie bearbeitete Marian so lange, bis sie einwilligte, wenigstens einen kleinen Ausflug zu machen. „Es wird dir guttun. Ein wenig ausreiten. Vielleicht solltest du mal wieder in der Kapelle vorbeisehen? Pater Franziskus wäre sicher zufrieden. Du warst lange nicht mehr dort."

Sie schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Blonde Strähnen fielen ihr unter der weißen Haube ins Gesicht und passten zu den zahlreichen, bezaubernden Sommersprossen auf ihre schmalen Wangen. Gillian zog die Schublade des Schminktisches auf und holte ein Schmuckkästchen aus Silber aus dem Schrank. Ringe lagen dort neben silbernen Armbändern, feines gedrehtes Gold von Broschen und Ketten. „Wie wäre es mit der silbernen Kette?", schlug Gillian vor, doch Marian schüttelte lachend den Kopf.

„Du möchtest, dass ich mit Silber behangen in die Kapelle gehe?", fragte Marian amüsiert, „Da könnte ich mich auch in Brokat kleiden."

Jetzt lächelte auch Gillian verlegen. Sie legte die Kette zurück und räumte das Kästchen fort. „Verzeih, das ist natürlich wahr. Wie schade, ich hätte gerne den Blick der Mutter Oberin gesehen." Dabei zeigte sie ein freches, schalkhaftes Lächeln. „Und weißt du, was ich heute Morgen von Nicholas gehört habe? Copper ist trächtig! Sie wird ohne jeden Zweifel ein bezauberndes Fohlen werfen. Ich kann es kaum erwarten." Gillian neigte zum Plaudern. Sie hörte gar nicht auf damit und tratschte fröhlich den ganzen Tag über Dienstboten, das Wetter, Mode, welchen Burschen sie in dieser Woche adrett fand, über das Essen und über vieles mehr. Marian mochte das an ihr. Gillian verdrängte die Stille, in der sie sich sonst so alleingelassen fühlen würde.

„Versprich mir, dass du auf dem Rückweg etwas Honig von Mr. Potter mitbringst", bat Gillian, während Marian das Pferd wendete. „Ich bringe dir gleich drei Töpfe davon", versprach Marian und der dicke Lodenumhang hüllte sie in angenehme Wärme, während das Klappern der Hufe sie aus dem Burghof begleitete.

Der Sherwood Forest war in leuchtende Farben gehüllt. Von Orange bis zu wunderschönem, feurigem Rot. Manche Tannen streuten ein saftiges Grün dazwischen und das Gelb verlieh allem einen goldenen Schein. Es roch nach Erde und Regen.

Gillian hatte recht: Es tat ihr gut. Auf dem Rücken eines Pferdes fühlte sie sich freier und leichter. Sie verbrachte ein paar Stunden in der Kapelle und beichtete bei Pater Franziskus ihre wenigen Sünden. Sie besuchte das Grab ihrer Mutter und hinterließ einen Strauß selbst gepflückter Dahlien. Anschließend hielt sie ihr Versprechen und besorgte gleich vier Töpfe des duftenden Honigs, von Mr. Potters Bienen. Wenn ihr Vater in einigen Wochen von seiner Reise zurückkehrtet, würde er den Honig ebenso genießen.

Auf ihrem Rückweg zogen sich Wolken am Himmel zusammen. Der Wind trieb wirbelnd die Blätter über den Boden und ließ sie wütend rauschen. Ein Regenguss begann, kaum da sie in den Hof eingeritten war. Wie aus Eimern entlud sich die schwere Last der dunklen Wolken. Während Marian in den äußeren Burghof einritt, hätte sie merken sollen, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte es von dem Moment an, als sie das große Tor durchritt. Es war ein flaues Gefühl, das sie sich einfach nicht erklären konnte. Wenn sie später darüber nachdachte, würde es ihr wie Schuppen von den Augen fallen: Diener, die ihrem Blick auswichen, förmlich davonsprangen und plötzlich so geschäftig waren. Doch Marian war durchnässt und so schritt sie auf direktem Wege auf ihre Kammer zu.

Als sie die Tür zu ihrem Gemach öffnete, stand gerade eine andere Magd an ihrem Bett und schlug die Decke zurück. Als Marian eintrat, zuckte sie zusammen und machte wie eine erschrockene Maus einen Sprung zurück. Marian war zunächst irritiert, schob es aber einfach auf den Schreck. „Das ist nicht nötig. Ich bin nass, lasst Gillian rufen. Ich möchte aus den nassen Sachen und der Mantel muss getrocknet werden." Der Lodenmantel war schwer und zog eine Spur aus Tropfen über den Boden.
„E-Es tut mir leid Mylady", stammelte die Magd und behielt den Blick starr auf den Boden, „Aber ich bin jetzt Eure Kammerzofe. Ich werde mich um alles kümmern."
„Was?" Marian starrte das Mädchen an und stieß ein kurzes, verständnisloses Lachen aus, da sie es für einen misslungenen Scherz hielt. „Das muss ein Irrtum sein. Wo ist Gillian? Holt sie."

Noch immer sah das Mädchen nicht auf. „Verzeihung Mylady. Aber das geht nicht."

„Warum nicht?"

Die Magd presste ihre Lippen so fest zusammen, dass sie eine schmale, bleiche Linie bildeten. Dann wrang sie die Hände umeinander. Sie waren bleich und sicherlich kalt.

In diesem Moment wurde Marian unruhig. Das Mädchen hatte offenbar Angst, zu antworten. Und das wiederum bereitete ihr Unbehagen.

„Was ist passiert? Wo ist Gillian?", forderte sie nun eindringlicher.

„D-der Sheriff... Mylady..."

Marian fühlte, wie sich ihr Magen umdrehte. Der Sheriff! Was hatte der Sheriff damit zu tun?

„Wo ist er jetzt gerade?", wollte sie sofort wissen.

Kurze Zeit später, eilte Marian durch die schummrigen Gänge, begleitet vom Donnergrollen außerhalb der Burg. Marian betrat den Raum des Sheriffs, ohne anzuklopfen.

Der Raum des Sheriffs war groß und ausladend. Große Kerzenlüster aus Eisen erhellten ihn und warfen ihr Licht an die kargen Wände. Marian kam an ein paar wenigen Regalen, gefüllt mit alten Büchern und Rollen aus Pergament vorbei und schritt über die ausgetretenen Teppiche hinweg, bis sie vor dem großen Eichentisch stand.

„Lady Marian", schlug der Sheriff mit dem gewohnt kühlen Tonfall an und deutete auf den Stuhl, der vor dem Tisch platziert war.

„Sheriff", Marian fühlte sich beklommen und unwohl, als sie sich auf das Lederpolster setzte. Lord Richmond von Gisborne war ein rechtschaffender Mann. Der ehemalige Junker war kaum ein paar Monate Sheriff von Nottingham, doch er war sehr tüchtig und über alle Maßen gesetzestreu. Gerade das jedoch lag ihr im Magen. Hatte er Gillian fortjagen oder gar verhaften lassen? „Man sagte mir, meine Kammerzofe sei auf Euren Befehl nicht mehr an ihrer Stellung. Hat Gillian etwas angestellt? Habt ihr sie deshalb entlassen?"

Der Sheriff atmete einmal schwer aus und wieder ein. Dann legte die Feder in seinen Händen zur Seite. „Ich habe Eure Zofe nicht entlassen, Mylady", antwortete er nüchtern und griff zur Seite. Eine Schublade scharrte, dann erhob er sich und legte etwas auf dem Schreibtisch ab, was wie ein Taschentuch aussah. Er klappte es auf und Gold blitzte im Licht der Kerzen. Eine Kette, zwei Ringe und ein goldener Armreif mit einer grazilen Blüte. „Eure Kammerzofe, Gillian", er sprach ihren Namen aus, als sprächen sie über eine Fremde, „wurde dabei aufgegriffen, wie sie Schmuck und Güter aus Castle De Burgh sowie aus dem Besitz von Lady und Earl De Burgh stahl. Sie versuchte, das Diebesgut zu tauschen und zu verkaufen." Der Sheriff nahm wieder Platz und Marian starrte auf das Geschmeide.

„Aber... warum sollte sie das tun?", raunte Marian. Sie konnte es nicht verstehen. Gillian wurde bezahlt. Sie und ihre Mutter bekamen Lohn, sie lebten gut im Schloss. Sie hatten genug zu essen, Kleidung... es ging ihnen doch gut. Oder nicht?

„Im Zuge unserer Befragungen zeigte sich, dass sie bereits vorher Schmuck und Gegenstände gestohlen und veräußert hatte." Der Sheriff schnaubte abfällig. „Sie hat behauptet, für ihr Heimatdorf zu stehlen. Für die Armen in den Straßen und dass sie das Geld nicht für sich behalten hätte."

'Für die Armen im Dorf?' Aber warum hatte sie nie etwas gesagt? Warum hatte sie nicht gefragt?

„Wo ist sie jetzt? Ist sie im Kerker? Ich-ich muss mit ihr sprechen. Ich will sie selbst fragen."

Der Sheriff sah sie einfach nur an. Dann faltete er die Hände vor sich auf dem Tisch.

„Mylady, diese Frau war eine Diebin. Sie hat von Earl De Burgh gestohlen und das mehrfach. Einen Lord zu bestehlen ist keine Lappalie, für die der Kerker ausreicht. Eine solche Tat grenzt an Verrat. Deshalb wurde sie auch wie eine Verräterin bestraft."

„Was soll das heißen?" Marians Herz schlug schneller. Sie verstand nicht. Vielleicht wollte sie nicht verstehen.

„Lady De Burgh. Verräter hängen."

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