Kapitel 2 - Der König der Diebe
Für einen schreckverzerrten Augenblick konnte Marian nur auf den Pfeilschaft und das daran befestigte Seil starren, welcher sich unweit von ihr in das Holz eines Deckenbalkens gebohrt und das zweite, geschlossene Fenster durchschlagen hatte. Just zu diesem Zeitpunkt fuhr der Steuereintreiber neben ihr aus dem Schlaf.
„Was zum-?", setzte er an, die Stimme dunkel und unheilvoll, aber immer noch trunken vom Wein. Der Stuhl, auf dem Roger gerade noch gesessen hatte, fiel durch den Schwung zu Boden und das Poltern dröhnte durch die Stille. Dann erfasste sein glasiger Blick den uneingeladenen Gast in der Kammer und seine Miene verhärtete sich.
Seine Hand schoss nach vorn, raue Finger schlossen sich schmerzhaft um ihr Handgelenk und drückten zu.
„Habe ich dich, du diebischer Mistkerl!"
Das Zwielicht in der Kammer ließ Rogers Züge noch finsterer erscheinen und die fettigen Strähnen des ungewaschenen Haares fielen wild in seine grimmigen Züge.
In diesem Moment spannte sich das Seil an dem Balken und instinktiv fuhren beide Blicke zu dem Ursprung des surrenden Geräusches. Ein größer werdender Schatten ging dem ohrenbetäubenden Klirren voraus, als das zweite Fenster von der Wucht eines Körpers zerbarst. Scherben rieselten von einem ledernen Mantel und glitzerten eine Sekunde im Kerzenlicht, wie schimmernder Regen. Flackernd erstarb das Flämmchen der Kerzen, welches von der hereinziehenden Windböe erstickt wurde.
Finsternis senkte sich über die Kammer, während der unerwartete neue Gast sich auf dem Boden abrollte. Geschickt kam er wieder auf die Beine und Scherben rieselten klirrend auf die Dielen. Der Neuankömmling hatte seine Kapuze weit in sein Gesicht gezogen und eben jenes mit einem blutroten Tuch verhüllt. Doch auch ohne die breiten Schultern und den unnötig übertriebenen Auftritt, der alle ihre Pläne zunichtemachte, hätte Marian sofort erkannt, um wen es sich hierbei handelte. Immerhin zierte sein Abbild unzählige vergilbte Steckbriefe an den Hauswänden Nottinghams: Robin Hood.
„Diebe!", stieß Roger aus, der sich aus seiner Schreckstarre gelöst zu haben schien.
„Lass los, du Mistkerl!", zischte Marian mit rauer Stimme und zerrte an ihrem Arm. Aber selbst betrunken besaß der raffgierige Steuereintreiber noch immer mehr Kraft als sie.
„Dir setz' ich ein Ende, dreckiger Dieb!"
Marians Herz stolperte, als das fahle Mondlicht über eine von seinem Gürtel gezogene Klinge huschte. Ihre Augen weiteten sich, als die Spitze auf sie zuschoss, bereit, das Leben der unglückseligen Diebin zu beenden. Ihr Atem stockte und in dieser einen Sekunde schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf, ohne dass einer an Substanz gewann. Erstarrt erwartete sie den tödlichen Stoß.
Da zog ein fauchendes Zischen knapp an ihr vorüber und riss den Körper des Steuereintreibers einen Schritt nach hinten. Blinzelnd taumelte auch Marian einen Schritt rückwärts. Den nächsten Pfeil sah sie kommen. Die Federn glänzten kurz auf, als er an ihr vorbeischoss und Roger knapp über der Schulter an seinem Wams an den Pfeiler pinnte. Ein dumpfes >>Plock<< erklang und eine weitere Pfeilspitze grub sich knapp neben dessen Gesicht direkt in den Mörtel der Mauer. Seine Augen waren von Schreck weit aufgerissen, während er den dunklen Silhouetten der Eindringlinge entgegenstarrte. Schnell jedoch wandelte sich sein Schock in eine verzerrte Fratze blanken Zornes.
„Sie werden euch hängen!", fuhr Roger ihnen entgegen und setzte lauter nach, „Diebe! Alarm! Wachen!"
Da richtete sich der verhüllte Bogenschütze auf, stemmte verwegen eine Hand in die Hüfte und wirkte beinahe empört.
„Bitte? Ich bin nicht irgendein heruntergekommener, kleiner Dieb! Ich bin-" setzte er großspurig an, kam jedoch nicht weiter.
„DIEBE!", setzte Roger stattdessen lauter nach und unterbrach ihn unbeeindruckt. „WACHEN! Diebe! Diebe im Schloss! WACH-"
Panisch griff Marian nach dem Erstbesten, das sie zu fassen bekam. Lautes Klirren des auf seinem Schädel zerschmetterten Kruges unterbrachen das laute Brüllen des Zählmeisters. Sein Kopf fiel mit einem gurgelnden Geräusch nach vorn, während der klägliche Rest Wein sich plätschernd auf den Boden ergoss und dann für einen Moment gespenstische Stille eintrat.
Marian hörte ihren eigenen Herzschlag wild pochen, ehe sie den Kopf hob und den schattenhaften Mann fixierte, der dort noch immer mit einer in die Hüfte gestützten Hand dastand. Sie musste das Grinsen in seinen dämlichen Zügen nicht sehen, um zu wissen, dass es da war. Es war diese Art feixendes Lächeln, welches man praktisch aus der Luft pflücken konnte.
„Wenn du hier bist, um mich zu beeindrucken, Bursche-", ertönte die samtige Stimme des Schützen in selbstgefälliger Arroganz und sie... wollte ihm in Gesicht springen.
„Verdammter Mist, weißt du, was du angerichtet hast?", zischte sie stattdessen feindselig und hätte ihm am liebsten ebenso einen Krug an den Kopf geworfen. Der Dieb jedoch, schien sich nicht um ihren Zorn zu kümmern, während er nonchalant nach den schweren Beuteln mit des Königs Siegel griff. Münzen rasselten darin und nun blitzte ein Paar grüner Augen amüsiert unter dem Schatten der Kapuze in ihre Richtung.
„Ich würde behaupten, ich habe dein Leben gerettet?", gab er frech zurück und Marian holte bereits Luft, als laute Alarmschreie außerhalb des Zimmers die Stille durchbrachen.
„Oh nein", keuchte sie und eilte sich, um zur Tür zu sprinten. Hastig verriegelten ihre Finger einen dicken Eisenriegel und drehten hastig den Schlüssel im Schloss. „Sie müssen ihn gehört haben!"
Da lachte der Dieb herzhaft. „Oh, nein, ich glaube, das ist es nicht."
Das Klirren von Kettenhemden und Stiefeln in den Gängen war jetzt deutlich zu hören.
„Aber was sollte sonst..." Ein leidiges Keuchen entwich Marians Brust. „Was hast du getan?"
Hood zuckte mit den Schultern und stieß erneut ein leises Lachen aus, als er mit großen Schritten an sie herantrat. Wie ein frecher Knabe, der sich blendend über seinen eigenen Streich amüsierte. „Möglicherweise haben sie entdeckt, dass ich das Seil der Wachglocke durchtrennt und die Torwachen außer Gefecht gesetzt habe", sinnierte Robin ganz offenkundig reuelos. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da krachte es laut, als der erste Wächter sich gegen die Pforte aus hartem Holz schmiss. Die Tür erzitterte unter der Wucht, der eiserne Riegel und das Schloss stöhnten.
„Wir bekommen Besuch", fuhr Robin offensichtlich amüsiert fort und drückte ihr ohne Vorwarnung die schweren Säcke mit Münzen in die Arme, sodass sie unter dem Gewicht kurz ächzte. „Hier, halt das mal!"
Marians Gedanken überschlugen sich regelrecht. Dann schob sie sich die verdammten Beutel eher aus Reflex, als darüber nachzudenken in ihre Tasche, die vom Gewicht nun deutlich an ihren Schultern zehrte. Es hätte sie kaum gewundert, würden die Nähte des Leders von der Last reißen.
„Was hast du vor?"
Erneut ertönte ein lautes Krachen. Vor der Tür brüllten Stimmen durcheinander. Fäuste trommelten gegen die Pforte und forderten harsch sofortigen Einlass. Marians Blick flog umher und fand endlich, was sie gesucht hatte - den Dolch, mit dem Roger sie kurz zuvor bedroht hatte! Eilig sammelte sie ihn vom Boden auf und doch vermochte die kleine Klinge ihr kaum Beruhigung zu verschaffen. In diesem Moment ertönte ein markerschütterndes Knallen. Holz barst, als die alten Nägel des Riegels der Wucht nicht mehr standhielten. Splitter streuten sich, die Bretter barsten und brachen, dann flog die Tür auf und schlug mit Schwung gegen die Wand dahinter.
Und darauf hatte Hood scheinbar nur gewartet. Das Holz seines Bogens knarzte, als er die Sehne nur einen Hauch weiter zurückzog. Dann ließ er los. Der Pfeil glitt von der Sehne und traf den ersten Soldaten direkt in der Schulter. Er schrie auf, taumelte zurück und Marian sah zu, wie der geschickte Dieb in einer atemberaubenden Geschwindigkeit den nächsten Pfeil anlegte und dem Mann dahinter die gleiche Behandlung zukommen ließ.
Die Männer taumelten zurück, stolperten dabei halb übereinander und versperrten in dem Knäuel den nachfolgenden Soldaten den Gang - wertvolle Sekunden, welche Hood nicht verschwenden wollte!
„Los jetzt! Worauf wartest du!", gab er zurück und griff harsch nach ihrem Oberarm, um sie mit sich zu zerren. „Zeit zu fliehen!"
„Fliehen?", wiederholte Marian und ihr Blick fiel hinaus in den Hof, wo aus den anliegenden Teilen der Burg und dem Wachhaus nun weitere Soldaten strömten. Immer mehr Lichter wurden entzündet und die eben noch stillen Flure geflutet mit dem Lärm gebrüllter Befehle.
Dachte er etwa, sie sei ein Narr? Natürlich mussten sie fliehen. Ihr war jedoch schleierhaft, wie sie das anstellen sollten? In wenigen Minuten würde es in der Festung nur so vor stink wütenden Wachen wimmeln. Sie saßen wie Mäuse in der Falle, umringt von hungrigen Katzen. Von hier konnte sie sehen, dass das große Fallgitter am Haupttor bereits heruntergelassen worden und eine Flucht auf diesem Wege damit unmöglich war. Bei jedem ihrer kleinen Diebstähle hatte sie stets alles durchdacht. Bisher war sie jedoch noch nie in eine solche prekäre Situation geraten. Erwischt zu werden und eine Burg voller alarmierter Wachen waren in ihren Plänen einfach nicht vorgesehen!
„Richtig: wir türmen!", bestätigte Hood indessen, der jetzt einen weiteren - sorgsam vorbereiteten - Pfeil mit Seil an seiner Hüfte löste. Mit einem schnellen Griff befestigte er das Seil um den nächsten Balken nahe dem Fenster und legte den Pfeil an. Grüne Federn schimmerten im fahlen Mondlicht, ehe der Pfeil von der Sehne zischte und kurz darauf sein Ziel traf - eine hölzerne Säule nahe der Stallungen, einige Meter steil in die Tiefe.
„Zeit zu verschwinden!", verkündete Robin. Er sprang auf eine flache, hölzerne Truhe und von dort auf den Fenstersims - und zog Marian dabei mit sich. Ein Windstoß traf auf ihre erhitzte Haut und zerrte wild an ihrer Kapuze.
„Aber... was hast du vor? Wohin willst du fliehen? Das Fallgatter ist-"
„Vertrau mir einfach!"
Das Letzte, was sie jetzt wollte, war einem Dieb wie Robin Hood zu vertrauen! Marians Blick glitt zurück - wo Wachen den Raum stürmten und der Erste seinen Kameraden anwies, ihnen durch das geöffnete Fenster zu folgen.
Die Schindeln rasselten unter Marians Stiefeln, als sie Robin hinterher über das Dach nach unten sprintete. Eine der Tonplatten löste sich, fiel in die Tiefe und zerbrach klirrend auf dem Pflasterstein. Ihr wurde schwindlig bei dem Gedanken, was mit ihr geschah, sollte sie fallen!
Mit einem Mal griff Hood nach ihr und Marian wusste kaum, wie ihr geschah, als sie den Boden unter den Füßen verlor! Robin nutzte seinen Gürtel, um ihn über das gespannte Seil zu werfen und eine Schlaufe zu bilden.
„Festhalten! Das könnte jetzt etwas holprig werden!"
Nach Luft schnappend, klammerte Marian sich an den Dieb und wünschte sich, dies alles wäre einfach nur ein schlimmer Traum. Dann stieß sich Hood vom Dach und unter dem sirrenden Laut des Seiles sausten sie dem Boden entgegen.
Die frische Nachtluft schlug ihr entgegen, wehte ihr beinahe die Kapuze vom Schopf und ließ ihre bereits angespannten Muskeln zusammenfahren. Ihre Hände kribbelten und brannten heiß von der Anstrengung, sich an die Schultern des Diebes zu krallen. Ihre Rutschpartie endete so rasch, wie sie began.
Nur knapp vor dem Holzbalken der Stallungen, welcher das Ende ihrer rasanten Fahrt bezeichnet hätte, ließ Robin los. Die Schwerkraft forderte ihren Tribut sofort und Marian blieb ein heiserer Schrei in der Kehle stecken, als sie das letzte Stück hinabfielen. Allein der Tatsache, dass Robin Hood sie wie in einem Schraubstock hielt, verdankte sie es, dass die Wucht sie nicht komplett zu Boden riss und ihr sämtliche Knochen brach.
Es war eine harte Landung, die ihr die Luft aus den Lungen presste. Marian keuchte, ihre Schulter schmerzte. Doch Zeit zur Erholung oder um durchzuatmen, hatten sie nicht.
Ihre Fassungslosigkeit über diese spektakuläre und halsbrecherische Flucht verflog zu schnell.
„Dort! Schnappt sie euch!", hallte es laut über den Hof und Marian erkannte Wachleute, die in ihre Richtung stürmten. Gezogene Klingen zeugten davon, dass keiner von ihnen vorhatte, den Dieben Gnade zu erweisen oder sie lebend gefangen zu nehmen.
Hood zerrte an ihr - keine Sekunde zu früh, denn mit einem lauten Schlag prallte ein Pfeil an der Stelle gegen die Steinmauer hinter ihr, wo sie eben noch gestanden hatte. Ein weiterer bohrte sich in den Boden knapp neben ihren Füßen.
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