6. Kapitel - Rudeldynamik

Emira hatte ein ungutes Gefühl.

Zielstrebig gingen sie an den vollgeladenen Tischen der Händler vorbei. Der Geruch, der von den bunten Häufchen eines Gewürzstandes ausging, stach ihr in der Nase, daneben sirrte ein kleiner, kupferglänzender Vogel mit seinen mechanischen Flügeln, das Geräusch klang unangenehm laut in ihren Ohren.

Aber das war es alles nicht.

Arianas schritt forsch voran, die Menschen machten ihr sofort Platz und Emira lächelte sie im Vorbeigehen entschuldigend an.

Gleich wären sie in der Boutique, einem der Läden, die am Ende der Gewölbe ins Gestein gehauen worden waren. Ein Hafen der Ruhe nach diesem ganzen Gewusel. Cara würde ihren gut zahlenden Kundinnen leckere Erfrischungen und die professionelle Stille bieten, die die Werwölfe den Menschen voraushatten. Normalerweise würde sich Emira mit kühlem Orangensaft zufriedengeben, aber heute würde sie die zwei bis drei Gläschen Sekt in Anspruch nehmen, bis sich ihr Geist aus dem Zwang befreit hatte. Vielleicht würde dann sogar die beißende Unruhe in ihrem Nacken verschwinden.

Selbst hier unten klangen die lauten Blechbläser der Straßenkünstler von oben nach. Die Musik klang dumpf, aber Ariana schwang nichts desto trotz ihre Hüfte und nickte im Takt. Sie schien vollkommen abgelenkt.

„Hast du das gehört?", fragte Emira misstrauisch. Sie sah sich nach den bunten Pfeilern um. Irgendwas hallte von den Gewölben wider. Etwas Merkwürdiges. Etwas was hier nicht hingehörte.

„Hä?" Ariana hatte selbstverständlich nichts gehört.

Die Jüngere war stehengeblieben und sah durch die Masse der Menschen, an den Marktständen vorbei und wieder zurück zu ihrer Schwester. Etwas war da, noch unter den Tönen der Musik. Ein nervöser Schauer nach dem anderen jagte über ihren Rücken und tief in ihr wusste sie, dass sie ganz schnell von hier wegmussten.

„Da ist..."

Der schrille Schrei ging Emira durch Mark und Bein. Entsetzt sah sie zu ihrer großen Schwester, die ihren schockierten Blick erwiderte.

Dann brach der Tumult los.

Plötzlich befand sich Emira in einem stürmischen Meer aus Leibern. Immer mehr Schreie gellten durch die Arkaden. Menschen drückten sich gegen sie und schnürten ihr die Luft ab. Sie konnte nicht atmen. Panik schlug in Wellen über ihr zusammen, als sie versuchte sich zu befreien. Sie konnte ihre Schwester nicht mehr sehen.

„Ariana?"

Ihre Stimme klang dünn. Sie war ganz allein, verloren und schwach, konnte sich nicht befreien.

„Emira?"

Etwas in ihr regte sich. Sie klammerte sich an einen der Pfeiler, stemmte ihre Beine fest in den Boden, nichts konnte sie umwerfen. Ein Berg im Sturm.

„Hier!"

Vor ihr flackerte etwas Rotes auf und kurz darauf stand Ariana vor ihr. Ihre schwarzen Haare standen ab, der Strom pulsierte um sie und ihre Augen huschten angriffslustig umher, einem Mann der gegen sie stolperte rammte sie ihren Ellenbogen in den Magen.

Emira packte die Hand ihrer Schwester.

„Ari!" Als sie ihren Spitznamen hörte, fuhr sie herum und gab kurz ihre Kampfhaltung auf, lange genug damit Emira sie mit sich unter den Tisch eines Gemüsehändlers ziehen konnte. Besorgt sah sie in das Gewirr rennender Beine direkt vor ihrer Nase. Etwas Schlimmes ging da draußen vor sich. Schreie hallten durch die Gänge, menschlich und tierisch und...

Ein Schatten huschte in ihr Blickfeld. Er wütete durch die Menschen, zu dunkel und zu schnell, um zu sagen was es war. Ein Mann fiel bei der Flucht und verschwand unter dem Gewirr der Füße, ein kleines Kind weinte, sein Kreischen mischte sich mit der Panik der Menschen.

Und in all diesem Chaos ging eine einzelne Frau zielstrebig gegen die fliehende Masse an. Sie war ein ungewöhnlicher Pol tödlicher Ruhe und Bestimmtheit. Der rote Vogel auf dem Wappen ihrer Uniform – ein unnützes Detail, das sich Emira in diesem Moment ins Gehirn brannte. Ihr Atem stockte, als sie die hellhäutige Frau beobachtete und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, bei dem Gedanken, was nun geschehen würde.

Die Wächterin zog ihre Lippen zurück und das war das letzte was menschlich an ihr war. Mit einem Ruck warf sie ihren Kopf in den Nacken und jaulte ihren Schmerz und ihre Aggression den Mosaikwänden der Arkaden entgegen. Ihre Haut spannte sich als würde sie reißen, ihre Knochen verschoben sich gegeneinander, zu schnell als dass es natürlich wäre. Das widerwärtige Knacken ließ Emira einen kalten Schauer den Rücken hinablaufen und sie drückte sich näher an den warmen Körper ihrer Schwester. Dieses Geräusch würde sie noch bis in ihre Alpträume verfolgen. Die Frau krümmte sich zusammen, das Gesicht vor Schmerzen verzogen, die sich Emira nicht einmal vorzustellen traute. Sie meinte noch das Echo ihres grausamen Schreis hören zu können, doch die Frau war nicht mehr da.

Die Kreatur war riesig. Klauen lang wie Finger und scharf wie Dolche hingen hinab von Läufen aus grauem Fell. Die groteske Stellung der Hinterläufe und der aufrechte Gang erinnerten noch halbwegs an den Menschen, der dort einst gestanden hatte.

Die Bestie warf ihren Kopf zurück und heulte auf, diesmal ganz der Wolf, der sie war.

Emira hatte riesige Hunde in der Praxis ihrer Mutter gesehen, sie hatte Wölfe in den Wäldern von Enrhym gesehen, aber sie war noch nie in ihrem Leben einem verwandelten Werwolf so nahe gewesen; der perfekten Komposition aus Wolf, Mensch und Tod.

Der Hall in den Arkaden war ein ganz anderer, jetzt wo so gut wie alle Menschen geflohen waren.

Nur noch sie waren da. Sie und dieser Werwolf. Er ließ sich knurrend auf alle Viere hinabfallen, die Lefzen drohend zurückgezogen, die Fangzähne entblößt. Der massige, keilförmige Kopf der Bestie zuckte suchend umher, als er sich vorwärtsbewegte. Es wirkte grotesk wie sich seine langen Vorderläufe bewegten.

Neben ihrem Versteck hörte Emira ein Jaulen und der Atem von weiteren Kreaturen näherte sich. Noch mehr der Wachen hatten sich verwandelt. Sie rotteten sich zusammen, die Augen auf das Zwielicht gerichtet.

Das ungute Gefühl, dass sie jetzt verschwinden sollten, wurde übermächtig, aber weder sie noch Ariana konnten sich bewegen.

Ein Werwolf knurrte und es kam Bewegung in sie.

Nicht weit von ihnen entfernt befand sich ein Stand, der lebendes Geflügel und diverses Fleisch angeboten hatte, ehe die Panik losgebrochen war. Emira hätte ihn nicht gesehen, diesen Schatten, der dort auf dem Tisch kauerte und die Waren plünderte, hätten die Werwölfe nicht begonnen ihn einzukreisen.

Geduckt schlichen sie sich an, die steinharten Muskeln spielten unter ihrem Fell, ihre Augen glühten wie Kohlen.

Trotz ihrer Angst, trotz ihres Herzklopfens, das sie noch in ihrem Hals spürte, und dem Schweiß, der ihre Hände benetzte, beobachtete sie gespannt ihre Rudeldynamik. Sie waren ein perfekt eingespieltes Team. Jeder hatte seinen Platz, jeder seine Aufgabe.

Drei der Werwölfe preschten vor, griffen den Schatten direkt an.

Die Kreatur floh, die Bestien auf den Fersen.

Emira drückte sich weiter unter den Stand. Sie wollte etwas sagen. Irgendetwas um die Anspannung aus sich herauszubekommen, aber selbst zu dieser Bewegung schien sie unfähig.

Die Werwölfe trieben den Schatten auf ihre Kameraden zu. Er floh auf zwei Beinen, war dafür aber unglaublich schnell. Ein Werwolf sprang in seinen Weg, bereit die Beute zu stellen. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, dann war die Kreatur in der Luft und segelte über den Werwolf hinweg, als wäre dieser nicht um die zwei Meter groß. Wütend jaulten die Wachen auf.

Ein zweiter Wolf schoss hinter ein paar umgestürzten Tischen hervor, bereit den Fliehenden zu stellen, doch dieser sprang flink die Mosaiksäulen hinauf zur Decke.

Als würde er keine Schwerkraft kennen, setzte sich der Schatten verkehrt herum hin, seine dunkelrote, nackte Brust hob und senkte sich atemlos und seine gelben Augen sahen aus einem menschenähnlichen Gesicht hinab zu den Werwölfen, als wäre er von ihrer Existenz verwirrt. Er öffnete den Mund, um den immer noch Blut klebte, und gab ein leises Murren von sich, kaum hörbar unter dem Kreischen und Heulen der Werwölfe.

„Was ist das?" Arianas Flüstern war so leise wie ein Quellbach in den Bergen, trotzdem schien es viel zu laut in dieser Szenerie. Ihre kleine Schwester starrte nur mit großen Augen zu den Monstern vor ihr und schüttelte lautlos den Kopf.

Die Wölfe richteten sich zu ihrer ganzen, beeindruckenden Größe auf und begannen erfolglos nach der Kreatur zu schlagen. Wütend und frustriert begannen die Werwölfe Kreise um das Wesen zu laufen.

Es öffnete sein Maul und wimmerte, ein heller, klagender Laut in den leeren Markthallen, der Emira schaudern ließ. Erst lösten sich die Hände der Kreatur von der Decke. Ihre gelben Augen blickten ängstlich hinunter zu den Wölfen. Das Blut lief von ihrem Mund hinunter zu ihren Wangen. Das Wesen jammerte erneut, leise und verloren, dann lösten sich seine Füße und es fiel hinab wie ein Stein.

Sofort waren die Werwolfwachen zur Stelle. Ihr bedrohliches Knurren ging in einem ohrenbetäubenden Kreischen unter. Die Kreatur begann hektisch um sich zu schlagen, und die Wölfe griffen sofort gnadenlos an.

Sie verwickelten sich in einem Knäul aus graubraunem Fell und dunkelroter Haut, kreischten und brüllten bestialisch und der metallische Geruch von Blut breitete sich in den Markthallen aus. Voll Schreck konnte Emira nur zusehen wie dieses Wesen unter der gnadenlosen Jagdpräzision eines Rudels fiel.

Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter und Ariana drehte sie bestimmt zu sich. „Komm, wir verschwinden von hier!", flüsterte sie eindringlich.

Das fremde Wesen kreischte vor Schmerzen, aber dieses Mal widerstand Emira dem Drang hinzusehen. Sie ließ ihre Augen fest auf ihre große Schwester gerichtet und nickte. Die Beschwörerin drehte sich zur abgewandten Seite des Geschehens und schlug einen Knoblauchzopf zur Seite um sich und Emira den Weg freizumachen. Sie folgte ihr hastig, immer darauf bedacht nicht zurückzusehen und so schnell aus dem Gewirr der leeren Hallen zu entkommen wie nur möglich.



Das Tageslicht war eine Erlösung.

Eine riesige Traube schaulustiger Menschen hatte sich vor den Arkaden versammelt, einige nur um zu Gaffen, andere verwirrt und ängstlich. Als sie aus dem Zwielicht hinaustraten, prasselte eine Vielzahl an Fragen auf sie ein.

„Was macht ihr Mädchen denn allein da drin?"

„Habt ihr gesehen was passiert ist?"

„Seid ihr verletzt?"

Ariana schob sie alle beiseite. Ein riesiger Mann tauchte vor den Schwestern auf und half ihnen, aus dem Becken fragender Menschen zu entkommen. Emira musste ziemlich mitgenommen aussehen, denn der Mann fragte sie ständig, ob sie sich setzen wollte und eine alte Frau reichte ihr einen Tonbecher mit Zitronenwasser, als sie etwas abseits zum Stehen kamen.

„Ist schon gut. Danke", meinte sie nur und nahm das Getränk, auf einen Blick ihrer Schwester hin, an.

Ariana selbst ging wohl als zu unerschrocken durch, jedenfalls nickte der große Kerl ihr nur solidarisch zu, ehe er wieder in der Menschenmenge verschwand. Vielleicht kannten sie sich ja auch.

Emira seufzte und trank zitternd einen Schluck. Sie hatte gar nicht bemerkt wie sehr ihre Hände bebten.

„Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?", wiederholte Ariana.

Als sie ihre Schwester so ansah, konnte sie sehen, dass auch sie zitterte. Beherrscht atmete Emira aus. „Ja, mir geht's gut!" Das Zittern ihrer Hand ebbte ab und sie trank einen großen Schluck Wasser, konzentrierte sich auf den leichten Geschmack der Säure, der angenehm auf ihrer Zunge zerging und endlich hörte ihr Herz auf zu rasen. „Was war das?", wiederholte sie Arianas Frage, mehr um ihre eigenen wirren Gedanken in Worte zu fassen, als wirklich eine Antwort zu erwarten. Ihre Stimme war leise und sie konnte die letzten Reste der Angst nicht daraus tilgen.

Ariana stellte sich gerade hin und versuchte hart und unerschrocken zu wirken, aber Emira sah einen ganz kurzen Anflug von Furcht in ihren Augen, ehe sie es schaffte dieses Gefühl unter ihrer unglaublichen Selbstsicherheit zu verstecken.

„Keine Ahnung. Was immer es war, die Werwölfe haben es zu Hackfleisch verarbeitet."

Hackfleisch

Allein bei diesem Wort zog sich ihr Magen und all ihre Muskeln zusammen und sie sah es auch ihrer Schwester an, ein ganz kurzes Gefühl von Unbehagen.

„Was machen wir jetzt?"

Ihre große Schwester schien selbst nicht so wirklich sicher, was jetzt zu tun war. Dabei wusste sie das doch immer.

„Emira! Ariana!"

Ihr Herz tat einen Sprung, um danach in einen gleichmäßigen, steten Rhythmus zu verfallen, der ihren ganzen Brustkorb mit einer vertrauten Wärme füllte.

Erleichtert drehte sie sich um und wurde auch schon zusammen mit Ariana in eine innige Umarmung gezogen. Sie schmiegte sich an die Person zog ihren tröstlichen Geruch ein und fühlte sich einen Moment so unglaublich geborgen und sicher, dass sie fast geweint hätte.

„Meine Babys, euch geht es gut!"

Beatrice vergrub ihr Gesicht in den Haaren ihrer Töchter und hielt sie noch einen Moment lang fest in der innigen Umarmung, ehe sie sich von ihnen löste.

Ihre grünen Augen flogen über ihre Kinder.

„Du siehst so erschrocken aus", sagte sie besorgt in Emiras Richtung.

Wie zum Beweis, dass es ihr schon viel besser ging hielt sie den Tonbecher etwas höher. „Es geht mir schon viel besser."

„Und du siehst überhaupt nicht erschrocken aus!" Wandte sie sich dann an Ariana.

Diese nickte nur mit einem selbstsicheren Lächeln.

„Natürlich ni...Mama!" Beatrice zog sie erneut an sich heran und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Arianas deutliche Verlegenheit war richtig niedlich und Emira unterdrückte mühsam ein Kichern. Ihre große Schwester warf ihr einen hilfesuchenden Blick zu. Sie war einen halben Kopf größer als ihre Mutter, trotzdem wirkte sie neben der erwachsenen Frau wieder wie ein kleines Kind.

Emira leerte ihr Getränk und stellte den Becher auf den Stand der Frau zurück, um dann erneut von ihrer Mutter in eine Umarmung gezogen zu werden.

„Ist euch etwas zugestoßen?", fragte sie besorgt.

Beide Schwestern schüttelten nur mit dem Kopf.

Ein erneuter Tumult ging durch die Menschenmenge vor ihnen und das Gefühl von Sicherheit verblasste, als Emira zu ihnen sah. Dieses Mal waren es jedoch nur Menschen, die Platz machten für weitere Leute in Uniformen. Die roten Sachen der Sanitäter hätte sie überall erkannt, mit Tragen und Taschen voller klimpernder Phiolen liefen sie durch den Pulk direkt in die Arkaden hinein.

Beatrice sah ihnen besorgt hinterher, ehe sie sich wieder an ihre Kinder wandte. „Kommt. Wir verschwinden von hier."

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