5. Kapitel - Werbung


Zielstrebig stolzierte Ariana vom Lyceum davon. Ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache waren so klar abweisend, dass alle Menschen, die ihren Weg kreuzten, respektvoll zurückwichen.

„Warte!"

Aufmerksam drehte Emira sich nach der Stimme um.

„Warte!"

Sie sah zu ihrer großen Schwester. Die Wut in ihrem Gesicht wich nicht und es schien als würde sie nichts hören können.

„Jetzt warte doch, Ariana." Emira blieb stehen, ihre Schwester rannte weiter. Anders als bei Maximilan, verstärkte sich jedoch nicht der Griff um ihr Handgelenk. Sie glitt einfach so in die Freiheit und drehte sich zu der Stimme herum.

Kaden kam keuchend neben ihr zum Halten. Er musste gerannt sein um sie einzuholen.

Noch bevor Emira ihn berühren konnte, stand Ariana wieder neben ihr und sah voll Abscheu auf ihn hinab.

„Was?", schnappte sie wütend.

„Ihr seid einfach wegge..."

„Halt dein Maul", unterbrach sie ihn.

Emira sah zu ihrer Schwester und die beiden blickten sich kurz an. Arianas dunkelgrüne Augen funkelten vor Verachtung und das in einer solchen Intensität, dass es sie fast zurückweichen ließ. Sie wusste nicht warum, aber Kaden war gerade in Arianas Ansehen noch unter ‚langweilig' gesunken. Der junge Mann zuckte zusammen, als hätte sie gerade ihn und nicht Maximilan getreten.

„Was... Hast du gerade gesehen, was du getan hast?"

„Halt dein Maul. Zwing mich nicht, dass ich dich dazu bringen muss." Ihre Stimme war beunruhigend leise geworden.

Vorsichtig wich Kaden einen halben Schritt zurück.

„Ari." Als sie ihren Spitznamen hörte, drehte sie sich mitleidig zu ihrer Schwester.

„Dieser dämliche Kerl war schon immer so. Schon als ich da zur Schule gegangen bin. Frauen hatten nichts zu sagen, er musste immer Recht haben und natürlich konnten Mädchen in seinen Augen nichts. Tut dir etwas weh?"

Wenn sie so sprach, klang Ariana wie eine vollkommen andere Person, die Verachtung in ihren Augen war Anteilnahme gewichen, sobald sie ihre kleine Schwester ansah und Emira fühlte sich kurz etwas ruhiger.

Vorsichtig bewegte sie ihr Handgelenk. „Der Schmerz ist dumpf. Es geht."

Kaden atmete hörbar aus. „Das ist nicht dein verdienst!", meinte er heftig. Ariana zog ihre Stirn kraus, als wäre er ein kleiner Straßenhund, der sie ankläffte.

„Warum schockst du auch diesen Kerl, wenn er noch Emira festhält? Es muss doch klar sein, dass wenn er krampft er ihr nur noch mehr weh tut!"

Nun ließ sich Emiras Schwester doch zu einer Gefühlsregung hinreißen. Sie verdrehte genervt die Augen. Nervös blickte Emira zwischen den beiden hin und her. Das hier war mehr als die normalen Streitereien, die sie miteinander hatten, das wusste sie. Das ungute Gefühl, dass alles in jedem Moment außer Kontrolle geraten konnte, nagte an ihren bereits blank liegenden Nerven.

„Es ist schon gut Kaden", sagte Emira dann und schenkte ihm ein um Beschwichtigung bemühtes Lächeln.

„Ja, Kaden!", fauchte Ariana. „Und das ist nicht dein Verdienst! Du lächerlicher Feigling hast genau gesehen was passiert ist! Und hast du dich vielleicht einen Millimeter bewegt? Nein, du feiger Hundesohn. Du bist stehengeblieben! Wärst sicher sogar abgehauen, um ja keinen Ärger zu kriegen, mh?"

Empört starrte er sie an. „Das ist nicht wahr! Das ist eine Lüge!", versprach er dann in Emiras Richtung.

Ariana zischte nur missbilligend. „Ach ja? Und warum hast du dann nichts gemacht? Was hättest du getan, wenn ich nicht da gewesen wäre?"

Er schluckte kurz, sein Adamsapfel sprang auf und ab. Emira sah ihn mit schief gelegtem Kopf an und er erwiderte ihren Blick.

„Ich hätte natürlich etwas gemacht", sagte er an seine Freundin gewandt und sie glaubte ihm.

Arianas Lachen war laut und grausam. „Erzähl mir keine Scheiße! Du dreckiger, kleiner Feigling."

„Hör auf mich so zu nennen." Kadens Stimme war nun auch ruhig. Seine Hände geballt. Seine Entzündungsherde glühten rot und er zitterte vor Wut.

Emira trat zwischen die beiden. Ihre Schwester zum Aufbrausen zu bringen, war keine Kunst, aber Kaden wütend zu machen brauchte eine ganze Menge.

„Es ist genug." Ihr Herz raste vor Aufregung, als sie zwischen diese beiden geliebten Menschen ging und sie zu trennen.

„Nein, ist es nicht." – „Ja, du hast Recht."

Ariana funkelte Kaden wütend an.

Emira drehte sich nun vollkommen zu ihrer Schwester und versuchte ihren Blickkontakt zu ihrem Freund zu brechen, indem sie sich vor ihn stellte.

„Sieh mich an!", befahl Emira bestimmt. Ariana kam dem nur widerwillig nach und starrte dann stumm hinab zu ihrer kleinen Schwester.

„Lass uns einfach in die Stadt gehen, bitte."

Unschlüssig starrte die Beschwörerin sie an. Schließlich nickte sie widerwillig.

„Fein."

Emira seufzte befreit und sah sich dann nach Kaden um.

„Wir sehen uns später, Kaden."

Seine Gesichtszüge verspannten sich. Er sah ihr wie ein geprügelter Hund entgegen, nickte dann jedoch gequält. Er murmelte ein ‚Auf Wiedersehen', als er sich umdrehte und davontrottete. Es brach ihr fast das Herz ihn so zu sehen und sie hatte das Bedürfnis ihm zu folgen und sich ausgiebig von ihm zu verabschieden. Aber das wäre die falsche Lösung. Nein, sie musste Ariana und ihn unbedingt voneinander trennen. Und das so schnell wie möglich.

Als sich Emira wieder zu ihrer Schwester drehen wollte, sah sie wie sie Luft holte um ihm etwas hinterherzubrüllen. „Bitte. Lass ihn einfach in Ruhe." Es kostetet sie all ihre restliche Kraft so viel Überzeugung in ihre Worte zu legen, aber Ariana sah sie zumindest an.

„In Ruhe? Er ist ein genauso rückgratloser Schlappschwanz wie sein Dozent und Mentor. Genau wie Tommaso!" Das letzte Wort rief sie nun doch etwas lauter.

Emira wusste nicht ob Kaden das gehört hatte, sie sah nicht zurück, nahm einfach ihre große Schwester und ging bestimmt Richtung Innenstadt.

„Es ist..."

„Es ist nicht genug! Es ist nicht ‚nichts'. Es ist keine Kleinigkeit!"

Ariana hielt an, griff nach dem Gesicht ihrer kleinen Schwester und schien sie untersuchen zu wollen. Erneut war die Härte aus ihren Augen gewichen, als sie sie ansah.

„Deine Gesichtsfarbe ist richtig kränklich, dein Puls ist viel zu schnell und dein Handgelenk ist ganz rot!"

Emira drehte ihren Kopf aus ihrem Griff und sah dann hinab zu ihrem Arm. Sie hatte schon viel schlimmere Verletzungen als blaue Flecken gehabt. Tiefe, stark blutende Bisswunden, von denen immer noch kleine, silbrige Narben auf ihrer dunklen Haut zu sehen waren, waren das Schlimmste was sie bis zum heutigen Tag gezeichnet hatten. Dieser rote Fleck war gar nichts. Nicht mal die Schmerzen waren besonders stark.

Trotzdem konnte sie kaum hinab zu ihrem Arm sehen ohne, dass ihre Knie weich wurden, ohne, dass ihr Magen rebellierte und eine unangenehme Hitzewelle sie erfasste.

„Ich...es...ich wollte das auch nicht. Er hat mich einfach so...gegriffen." Unwillkürlich begann sie zu zittern. „Es...ich habe gesagt, dass er mich loslassen soll. Wirklich. Aber er hat einfach weitergemacht." Beschämt sah sie zu Boden, „Vielleicht hätte ich..."

„Nein", unterbrach Ariana sie heftig. Nicht auf die Art wie sie Männer anschrie oder mit Emiras Freundinnen sprach. „Du bist daran nicht schuld! Niemand hat Schuld, außer diesem Köter und seinen verschissenen Eltern, weil sie ihm kein Respekt vor dem Wort ‚Nein' gelehrt haben."

‚Haben unsere Eltern dir Respekt gelehrt?' fragte sich Emira unwillkürlich. Aber dieser Gedanke war abwegig. Ariana war zwar vorlaut, aber sie würde niemals jemanden so bedrängen wie Maximilan es getan hatte.

Bedrängt...

Eigentlich war dieser ganze Vorfall doch dumm gewesen. Eine Lappalie. Vielleicht hätte sie etwas anderes sagen sollen. Besser auf ihre Worte achten müssen. Hatte Ariana wirklich richtig gehandelt?

„Musstest du ihn gleich so angehen?"

„Kaden? Der braucht das", knurrte sie geringschätzig und setzte sich dann wieder in Bewegung.

Emira seufzte, raffte sich aber dazu auf doch noch ihre Schwester zu berichtigen.

„Ich meine die Sache auf dem Schulhof. Du hättest einfach was sagen können."

Ariana stöhnte genervt. „Oh beim Sonnengott! Um ihn auf mich aufmerksam zu machen? Warum hätte ich das tun sollen? Die Viecher sind schon so, so gut wie unverwundbar!"

„Aber du hast total übertrieben." ‚Wie immer', überlegte sie.

Ariana stimmte ihr zu. „Tss ‚total übertrieben' wäre die Überschrift des Buches über mein Leben!"

„Du machst dir nie Gedanken über irgendwelche Konsequenzen."

Langsam verließen sie das Viertel in dem sie waren und näherten sich der verwinkelten Innenstadt. Im tiefsten Stadtkern waren die Straßen zu schmal um dort noch die Schienen für die Bahnen zu legen. Jede Gasse war verwinkelt und winzig. Ein ganz eigenes Labyrinth aus Läden, bunten Häusern, kleinen Bars und Restaurants, nur entspannt von den großen Plazas die ihre Vorfahren schon damals weise unbebaut gelassen hatten.

„Was denn? Meinst du der Werschosshund rennt zur Wache und petzt?"

Ariana grinste sie an. Emira sah ihrer Schwester nur wütend über ihre fehlende Ernsthaftigkeit entgegen, was diese mit einem theatralischen Seufzer quittierte.

„Jaaaa gut. Es gibt ein paar Zeugen und so, aber Kerle wie der können nicht losrennen und zugeben, dass eine Frau sie verprügelt hat. Schon gar nicht ein niederer Beschwörer, denen sie ja so sehr überlegen sind." Sie verdrehte erneut die Augen.

„Er könnte versuchen sich an dir zu rächen."

Ariana stutzte kurz und runzelte die Stirn. Überlegend sah sie auf in den Himmel.

„Wenn er versucht dir weh zu tun, brech' ich seine Finger."

Emira, erschrocken von der Unerschütterlichkeit in der Stimme ihrer Schwester, starrte die Beschwörerin entgeistert an.

„Was?"

„Ja – das würde nichts bringen. Sie wachsen wieder zusammen. Ich muss das dann wohl sehr häufig machen. Sooft bis er es kapiert hat." Sie sagte das so als würde sie überlegen ob man ein Rezept besser einmal mit Basilikum oder doch lieber mit Rosmarin variieren solle.

Es war sowieso zu spät um noch irgendetwas an Arianas Wesen zu ändern, also beließ es Emira einfach bei einem resignierten Kopfschütteln. Sie umklammerte ihr Handgelenk, es tat nicht mehr weh, aber es fühlte sich richtig an es festzuhalten.

‚Es ist doch gar nichts passiert.' In Gedanken wiederholte sie immer und immer wieder diesen Satz. Ja, es war nichts passiert.

Wenn sie einfach immer weiterging, nicht zusammenzuckte und sich nichts anmerken ließ, würde dieses eklige Gefühl, das, seitdem sie den Hof verlassen hatten, an ihr haftete, auch wieder verschwinden, sagte sie sich.

Die Häuser wichen dem weiten Platz vor der Kathedrale. Dies war der schnellste Weg, wenn man zu Fuß in die Stadt unterwegs war, doch anders als sonst machte sie heute die überwältigend dunkle Präsenz des Gebäudes unglaublich nervös. Neben all den farbenfrohen Wohnhäusern in Enrhym wirkte die Kathedrale der Stillen Gnade geradezu lebensverneinend. Die riesigen Steinblöcke aus denen sie gefertigt war, waren schwarz, jedoch nicht auf die Weise schwarz, wie der verdreckte Backstein in den Arbeitervierteln. Nein, es war ein dominantes, gewolltes Schwarz.

Das Gebäude war riesig, mit hohen, dunklen Türmen, die vor der mittleren Kuppel thronten, wie zur Verteidigung. Die runden, beinahe schon verspielten Buntglasfenster, stellten einen harten Kontrast zum sonstigen Bollwerk dar, aber Emira wusste, dass sie nicht viel dazu beitrugen, um Licht oder Wärme in das Gebäude zu lassen.

Dieses beinahe schon archaische Bauwerk, wollte so gar nicht hineinpassen in diese fröhliche Stadt. Für Recherchezwecke hatte sie einmal die Kathedrale betreten und das ungute Gefühl dort nicht erwünscht zu sein, hatte sie die ganze Zeit verfolgt. Im Inneren beteten die Werwölfe zu ihrer Mondgöttin, doch sie waren es nicht, die die Kathedrale bewohnten oder die Messen hielten. Nein. Die Wölfe waren auch niemals jene, die die Menschen durch bloße Präsenz dazu bewegten schnell wieder zu gehen.

Die lichtdurchfluteten, kleinen Tempel zu Ehren des Sonnengottes waren ihr da eindeutig lieber gewesen, aber selbst diese hatte sie nur für ein Projekt besucht.

Enrhym war keine sonderlich religiöse Stadt, vor allem nicht, seit der technische und gesellschaftliche Fortschritt, der sich in Straßenbahnen, elektrischem Licht, guten Schulen und der Universität widerspiegelte, sich ausgebreitet hatte wie ein Flächenbrand.

Emira war froh die Kathedrale hinter sich zu lassen und wieder abzutauchen im Gewirr der Straßen. Sie passierten einen der vielen, wunderschönen Springbrunnen Enrhyms. Werwolf- und Menschenkinder planschten quietschend im kühlen Nass und bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, alles beobachtet von einer gutmütig lächelnden Steinfrau um die die Fontänen in die Höhe schossen.

Sie sah gerade zu den spielenden Kindern und versuchte wieder zu ihrer gewohnten inneren Ruhe zurückzufinden, als Ariana, „Wirst du dich von ihm trennen?", fragte.

Emira biss die Zähne zusammen. Sie wusste nicht ob sie noch genug Wut übrighatte. Insgesamt hatte sie der ganze Tag vollkommen ermüdet. Und obwohl sie sich einredete, dass dieser Zwischenfall mit Max nur eine Nichtigkeit war, schlug ihr Herz immer wieder schneller vor Angst, Scham und Wut, wenn sie daran dachte.

„Können wir nicht einfach einkaufen und dann nach Hause gehen?"

„Aber er hat..."

„Wirklich. Ich will nicht mehr."

Ariana atmete wütend aus, aber sie verstand ein ‚Nein', genau wie ihre Schwester es gedacht hatte.

„Nachdem was heute passiert ist, würde Mama es sicher verstehen, wenn du keine Lust auf das Einkaufen hast. Wir können es auch morgen machen."

Emira hielt inne. Das klang so verlockend. Nicht heute. Morgen.

Sie betraten einen weitläufigen Platz, der Boden verziert mit einem riesigen Mosaik, das die Stadt Enrhym zeigte. Gesäumt wurde der Markt auf einer Seite von hohen Palmen, in denen bunte Papageien fast so fröhlich quatschten, wie die Menschen zu ihren Füßen, und auf der anderen von hüfthohen Erdwälle, verziert mit kleinen weißen Mosaiksteinchen. Die Barrikade sollte unvorsichtige Besucher davor bewahren auf die nächsttiefere Ebene zu stürzen, denn direkt unter ihnen, in großen, bunten Gewölben setzte sich der Markt fort und dort, in den Stein gehauen, befand sich auch ihr Ziel, Caras Boutique.

Ein weiter Weg gefüllt mit einer riesigen Menschenmenge. Emira stöhnte und war kurzzeitig wirklich versucht umzudrehen und einfach nach Hause zu gehen, aber wenn sie jetzt immerhin schon einmal in diesem Alptraum war, würde sie es auch hinter sich bringen.

„Gehen wir", sagte sie schicksalsergeben.

Ariana zuckte nur mit den Schultern und ging dann zielstrebig voran. Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen, denn einige Musiker nutzten das schöne Wetter und spielten zusammen eine feurige Melodie, zu der einige Leute neben ihnen Outara tanzten, den schnellen Partnertanz, der sich bei den Menschen ungeheurer Beliebtheit erfreute.

Emira folgte ihrer Schwester die bunte Treppe hinab zu den Gewölben des Marktes, vorbei an der großen Statue eines Feuervogels aus roten Mosaiksteinen.

Der Schutzpatron Enrhyms spuckte fröhlich Wasser aus seinem Schnabel und versprach jedem der zu Vollmond einen Bet in seinen Brunnen warf, etwas, was er wirklich begehrte.

Emira und Ariana tauchten ein in die überdachten, bunten Gewölbe des Marktes. Die Musik klang selbst hier unten nach, laut und lebendig, als wolle sie die Schwestern zum Tanzen auffordern.

Sie passierten Stände voll mit Obst, Gemüse, Wolle und Tieren. Einige Leute boten kleine magische Artefakte an, andere hausgemachten Käse.

Die Masse an Menschen wogte wie das Meer. Sie waren überall, atmeten, sprachen, brüllten und feilschten. Hausfrauen, Köche, Diener, Arbeiter, Taschendiebe und in all dem, sie beide.

Eine Schneise gab es nur wenn die Wächter durch die Menge schritten. Als würden sie die Menschen wie die gleichen Pole eines Magneten abstoßen, war zwischen ihnen und allem mindestens eine Armlänge Abstand.

Und das nicht ohne Grund. Die meisten Wächter waren Werwölfe.

Beschenkt mit einem guten Gehör und bewaffnet mit Kurzschwertern und Revolvern, dem Nachfolger der Perkussionspistolen, fiel man diesen Leuten besser nicht unangenehm auf. Und wenn dann hoffte man, dass sie einem als Mensch gegenübertraten.

Selbst die Marktschreier wurden etwas leiser, wenn die Traube der Wachen in Sicht kam. Nur keine unangenehme Aufmerksamkeit auf sich ziehen.


Unbeeindruckt allen Trubels und der steten Präsenz der Werwolfwächter, saß eine Frau hinter einem kleinen, unscheinbaren Stand. Ariana lief an ihr vorbei, Emira blieb fragend stehen. Sie war fremdartig und anmutig, während sie eine stete Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte, genau die richtige Mischung, um die Werwölfe dazu zu bringen, sie nicht zu beachten. Emira begann sie zu mustern, versuchte zu ergründen, was sie so anders machte.

Die Frau bot merkwürdige, kleine Blätter feil, doch wenn sie weiter nur dasaß und nicht begann ihre Waren anzupreisen, würde sie gar nichts loswerden. Sie schien nicht erfahren mit dem Verkaufen zu sein.

Ihre Haare waren kurzgeschoren, schimmerten nur noch als dunkelbrauner Flaum auf ihrer Kopfhaut. In ihrem Gesicht thronte eine Brille mit dickem, rechteckigen Gestell, welches ihr unglaublich gut stand.

Unter ihrem linken Auge schimmerten die zwei Perlen eines oberflächlichen Piercings, das Metall war sauber gestochen worden, keine Entzündungen, keine Spannungen in der Haut.

Ebenso sauber war der Schmuck in ihrer unteren Lippe und ihrem Nasenseptum.

„Wen starrst du denn da an?" Emira sah sich um und schon stand ihre Schwester wieder neben ihr. Verlegen versuchte sie eine Erklärung zu finden, die nicht vollkommen dämlich klang. „Sie ähm...sie ist so..."

„Unerfahren." Ariana nickte und ging dann absolut furchtlos und forsch auf die Fremde zu. Emira war kurz davor sie aufzuhalten, bekam sie aber nicht rechtzeitig zu packen.

„Die Sonne zum Gruße!" Ariana warf ihre Hände in die Luft und winkte der Fremden zu, um auch wirklich ihre Aufmerksamkeit zu haben. Heimlich bewunderte Emira ja schon die Extrovertiertheit ihrer Schwester, aber eigentlich hoffte sie nur, dass sie sich nicht prügelte.

Die Frau setzte sich gerade hin und Emira wurde erst jetzt klar, dass sie unglaublich groß sein musste. Sie verzog ihre dunkel geschminkten, vollen Lippen zu einem freundlichen, ehrlichen Lächeln und fokussierte die Schwestern.

„Grüße", erwiderte sie mit einer Spur Amüsement in der Stimme.

„Was verkauft ihr, gute Frau?" Ariana sah etwas skeptisch auf die Ansammlung von Blättern vor ihr.

Die Angesprochene machte eine ausladende Geste auf ihren Stand, Emira kam nicht umhin ihre grazilen Finger zu bewundern, an denen filigrane, silbrige Ringe schimmerten. Sie fragte sich aus welchem Metall sie waren, denn echtes Silber war auf dem ganzen Kontinent verboten und wurde streng unter Verschluss gehalten. Emira kam nicht umhin sie zu bewundern, sie selbst besaß Schmuck, nur empfand sie ihn meist als so lästig, dass sie ihn nur zu speziellen Anlässen trug, während diese Frau sogar damit arbeiten konnte.

„Das", sagte die Händlerin, „sind Kokablätter, direkt aus Xyroja."

Ariana und Emira runzelten zugleich die Stirn.

„Wo ist das denn?", fragte Ari schon fast ungeniert ungläubig.

Emira stupste sie warnend an und die fremde Frau lächelte sie geheimnisvoll an. Sie hatte ein schönes Lächeln.

Die Kleidung die sie trug bestand ausschließlich aus grauem Stoff, der locker über ihrer braunen Haut flatterte, darunter konnte Emira kunstvoll verschlungene Tätowierungen erkennen. Ihr linkes Ohr war gespickt mit kleinen Stecken, die gesamte Helix entlang, während an ihrem rechten Ohr nur eine einzelne Kette, welche in einer achtstrahligen Sonne endete, baumelte. Egal wo sie herkam, es war unglaublich weit weg.

„Und was machen Eure Blätter?", meldete sich nun zum ersten Mal Emira zu Wort.

Die Fremde sah sie aufmerksam an, schien sie genauso sorgfältig zu taxieren, wie sie sie. Das Mädchen fragte sich was die Fremde wohl in ihr sah und ob es ihr gefiel oder nicht. Ob ihr ihre gerade Haltung, ihre ruhige Stimme und ihre unbändigen, langen, schwarzen Locken etwas zeigten, was sie morgens nicht im Spiegel sah.

„Diese Blätter sind wahre Wunderwerke. Sie enthalten sehr viel Kalzium, kaut man sie zusammen mit Asche bilden sie eine Substanz die einen belebt und beflügelt. Sie halten wach und machen einen stark und ausdauernd."

„Ehrlich?" Aris Stimme troff vor Unglaube und einer Spur Verachtung, Emira stupste sie erneut an. Irgendwie hatte sie nicht das Gefühl, dass die Händlerin sie belog. Sie sah ihre jüngere Schwester aufgrund des Knuffs böse an, ehe sie sich wieder der Fremden zuwandte. „Und warum preist ihr dann Euer Wundermittel nicht lauthals an? So etwas wird sicher gut gekauft!" Ariana sah sich einmal theatralisch in den Gewölben der Arkaden um.

Emira schluckte. Falsche Werbung wurde weder gerne vom Rat noch von den Wachen gesehen, mit ihrer ruhigen Art hatte die Händlerin weder die Werwölfe noch irgendwelche Kunden auf sich aufmerksam machen können und vielleicht war das gut so gewesen.

Ariana holte Luft um weiterzusprechen, jedoch ließ Emira sie gar nicht zu Wort kommen.

„Was meine Schwester sagen wollte: Wenn Ihr wirklich noch etwas verkaufen wollt, dann müsst Ihr Euer Auftreten verbessern. Etwas mehr – Werben."

Die Fremde sah sich kurz zu den benachbarten Ständen um, an denen Menschen laut schreiend ihre Waren anpriesen.

„Sie werden leiser, wenn sich die Wachen nähern", murmelte sie zu sich selbst. „Schreien war nie so wirklich etwas was ich gern tat."

„Sollten Eure Blätter wirklich wirken, sollte Ihr sie anpreisen."

Überrascht sah die Fremde plötzlich auf. Emira hatte versucht so diplomatisch wie nur möglich zu klingen.

„Ihr denkt, dass ich lüge", stellte sie ruhig und sachlich fest.

„Nein." – „Ja."

Emira sah etwas geschockt über ihre Offenheit zu ihrer Schwester, Ariana zuckte nur mit ihren Schultern.

„Interessant", meinte die Fremde mit leuchtenden Augen.

„Ich habe von Kokablättern gelesen! Früher kamen sie vermehrt hierher. Jetzt gibt es sowas nicht mehr oft", meinte Emira schnell.

„Ach ehrlich?", fragte Ariana skeptisch.

„Ja, Ariana. Hinter der Wüste Noriestas gibt es..."

„Nichts durchquert dieses todbringende Ödland lebend!", schnaubte sie.

Ein lauter Knall ließ die Schwestern zusammenfahren. Die Fremde hatte ihre beringten Hände auf den Tisch knallen lassen, ein erfreutes, ehrliches Lächeln zierte erneut ihre dunklen Lippen. „Genau! Ich danke euch beiden für eure Anregungen!" Die Fremde sprang auf und sowohl Ariana als auch Emira sahen ehrfürchtig auf. Die Händlerin war riesig, sicher knapp über zwei Meter groß, mit einem schlanken, unaufregenden Körper. „Ich werde sie sogleich umsetzen!"

Ariana zog Emira ein paar Schritte zurück, als die Fremde mit einem Satz vom Boden auf den Tisch sprang.

„Meine Damen, Herren und Werwölfe!", rief sie über den gesamten Platz.

Dafür, dass sie nicht gerne Schrie konnte sie es verdammt gut. Aber gut, Ariana meinte auch immer, dass dafür, dass Emira nicht gerne mit fremden Menschen sprach, sie es auch ziemlich souverän schaffte.

„Kommt her und überzeugt euch selbst von der wiederbelebenden, erfrischenden Wirkung meiner Kokablätter!"

Die ersten Menschen sahen fragend auf und einige Leute begannen sich um sie zu scharren, auch die Werwolfwachen näherten sich. Anstatt jedoch, wie erwartet, warnend an ihre Schwertgriffe zu packen, schienen sie vorsichtig neugierig.

Ariana bahnte sich grob einen Weg aus der Traube an Menschen und Emira folgte ihr wie immer im Fahrwasser ihrer Extrovertiertheit.

„Die war ja mal merkwürdig", beschied sie.

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