17.1 Kapitel - Eine Geschichte über Blut und Wasser
Das Heulen war überall, die Menschen waren nur noch eine wogende, fliehende Masse und Ariana Sol'Artaire wusste, dass sie nie im Leben lebendiger gewesen war. Kaden hechelte hinter ihr, sein Atem würde ihn nicht mehr lange tragen.
„Durchhalten!", wies sie ihn an. Ihre Stimme war nicht mal halbwegs angestrengt, sie konnte noch ewig weiterlaufen.
„Wohin?", brachte er nur erschöpft hervor.
Ein Mann rammte sie, als sie ihn passieren wollte und er bekam dafür eine gehörige Ladung Strom durch den Körper gejagt. Strauchelnd ging er zu Boden. Kaden sprang mit großen Augen über ihn hinweg und wäre fast stehengeblieben, hätte sie ihn nicht weitergezerrt. Das war nicht ihre Schuld. Mussten diese Dummköpfe auch immer in sie hineinrennen.
Kaden sah bestürzt aus, aber sie konnte auf solche Empfindlichkeiten keine Rücksicht nehmen.
„Weg hier!" Ihre Antwort war nicht mal für sie befriedigend, aber zu mehr Planung war sie gerade nicht fähig.
Ariana führte sie die riesige Hauptstraße entlang. Wo kamen sie am besten aus der Stadt raus? Wo waren nochmal die meisten Wachposten? Fünf Werwölfe kamen ihnen entgegen. Kaden zischte schmerzerfüllt als sie sein Handgelenk packte und ihn in eine Gasse zog. Panisch erstarrte er.
„H-hier geht es nicht weiter!"
Ariana verdrehte die Augen, sprang locker auf einige Mülleimer, von ihnen auf das kleine Vordach einer Tür und von dort auf die großen Abluftröhren, die sich um die angrenzenden Gebäude schlängelten.
Wie zur Salzsäule erstarrt, stand er da und sah sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.
„Komm schon Kaden! Das ist unglaublich einfach!" Sie hockte sich sogar hin und streckte ihre Hand aus. „Ich helfe dir auch!"
Panisch huschte sein Blick den scheinbar unüberwindbaren Aufstieg hoch und runter und ganz kurz dachte Ariana er würde umdrehen und einfach verschwinden.
Das Heulen war hoch und so laut, dass sie das Knistern ihrer aufgeladenen Haare nicht mehr hören konnte. Der Chemiker zuckte zusammen und begann ungeschickt ihre Kletterroute nachzuahmen.
Seine Hände schwitzten, als sie ihn endlich zu sich zerrte und seinem Gesichtsausdruck zu urteilen hatte er Höhenangst. Ariana stöhnte. Drei Meter waren nicht einmal viel.
Während sie sich aufrichtete und voranschritt wie eine Katze, klammerte Kaden sich zitternd am Metall fest. So würde das nie was werden.
Sie hockte sich erneut vor ihn.
„Kaden. Du musst ganz ruhig bleiben, hörst du? Wir kommen hier heraus. Ich werde auf dich aufpassen und ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht kriegen, nicht solange ich noch atme! Aber dafür musst du mir vertrauen!"
„Ich... ich will das alles nicht. Ich hab doch nur.... Ich wollte nicht... ich will nur nach Hause."
Was für ein Jammerlappen.
„Du kannst dich selbst bemitleiden, wenn wir die Stadtgrenze von Enrhym überwunden haben. Komm jetzt!"
Arianas Mitgefühl war nicht besonders ausgeprägt und sie wusste ganz genau, dass wenn man Menschen wie ihm in diesem Zustand weiterhin gut zuredete, sie nur noch tiefer im Jammern versinken würden. Sie hatte ihm ihre Unterstützung zugesichert, laufen musste er allein. Sie stand auf und schritt unerschrocken voran, während Kaden sich schluchzend aufrichtete und ihr vorsichtig folgte.
Werwölfe verfügten selbst in Menschengestalt über einen ausgeprägten Geruchssinn und in einer Nacht ohne Regen und bei absoluter Windstille würde man sie mit Leichtigkeit finden. Sie konnten weglaufen, aber sie konnten sich nicht verstecken.
Der Glialt zog sich durch Enrhym wie eine große, blaue Lebensader, und wurde von vielen, kleinen Nebenflüssen gespeist. Wenn sie es bis zu einer dieser Brücken schaffen würden, könnten die Werwölfe ihre Fährte verlieren. Gute Idee.
Sie kletterten über die Rohre, von ihnen über Dächer und kleine Balkone.
Unter ihnen stromerten immer mehr hellhäutige Menschen in dunkelgrünen Uniformen herum. Sie rissen ihre Köpfe hoch und versuchten eine Fährte auszumachen. Eine kleine Gruppe Menschen kreuzte ihren Weg. Sie hatten es wohl noch nicht geschafft in ihre Häuser zu fliehen.
„Was machen sie denn da?" Kadens Stimme war so leise, dass sie ihn über den Tumult fast nicht verstand.
Ariana antwortete nicht, sondern sah nur fragend dabei zu wie die Werwölfe begannen sich mit den Menschen zu streiten. Und dann zogen sie plötzlich ihre Schwerter. Das boshafte Knurren war noch mehrere Häuserblocks weit zu hören, aber die Menschen wollten nicht weichen und protestierten heftig.
Keine vollkommen ungewöhnliche Szenerie in Enrhym. Doch ihr lief ein heißer Schauer über den Rücken, als einer der Wächter einen Revolver zog und damit in die Luft schoss. Kaden unterdrückte mühsam einen Schrei, die Menschen wichen ängstlich zurück.
„Komm! Weg hier!"
Ariana drehte sich um und kletterte über das relativ flache Dach zur gegenüberliegenden Häuserwand. Wenn sie sich recht erinnerte, kamen sie hier ganz entspannt in eine dunkle Seitenstraße, die sie bis zum Glialt bringen würde.
Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie nervös war. Die Wächter von Enrhym gaben sicher schon mal Warnschüsse ab, aber doch nur wenn ihr Gegenüber ebenfalls bewaffnet war und nicht wegen eines kleinen, verbalen Streits. Das war gar nicht gut. Sie sprang leichtfüßig zurück auf die Straße, Kaden hangelte sich ungeschickt zu ihr herab.
„Die Abkürzung über die Dächer hat sie verwirrt, aber wir müssen trotzdem zusehen, dass wir vorankommen!"
Ariana führte Kaden weiter, immer in den Schatten der Straßen entlang. Die einstmals bunten, fröhlichen Häuser Enrhyms wirkten nun wie boshafte Kreaturen aus Stein, die einfach nur existierten, um sie einzusperren und ihnen die Flucht zu vereiteln. Aber es gab Wege in der Stadt, Abkürzungen, die sie gut kannte. Einige waren zu waghalsig für jemanden wie Kaden, andere wiederrum konnten sie gut nehmen, um einen unschlagbaren Vorteil zu haben. Eine Flucht über die Dächer der Stadt. Sie grinste gewinnend und lobte sich selbst für ihre unglaubliche Klugheit.
Sie hastete um eine Ecke und rannte prompt in jemanden hinein. Fluchend wich die Person zurück und Ariana sammelte die Energie in ihrem Inneren, um einen Elektroschock abzugeben. Sie war leichtsinnig gewesen keine Magie beschworen zu haben, eigentlich hätte ihr Gegenüber jetzt zu Boden gehen sollen. Aber das Mädchen war kein Werwolf. Ihre Haut war so dunkel wie gegerbtes Leder, ihre braunen Haare wellten sich um ihr schmales Gesicht und ihre billigen Ohrringe hatte sie schon einmal gesehen. Verdammt! Irgendwoher kannte sie sie. Ja, richtig!
Mit einem unwilligen Schnaufen wich Ariana zurück und tat einen großen Ausfallschritt um, um sie herumzukommen. Das letzte was sie brauchte, war ein Intermezzo mit Emiras verblendeter Schulfreundin, der Werwolf-liebenden, großen Schwester von Stella, deren Namen sie einfach immer wieder vergaß.
Die Straße gabelte sich in einem großen Y. Sie wollte nach links hechten, aber das laute Heulen aus dieser Richtung ließ sie anhalten. So ein Mist. Aber sie konnten auch nach rechts und dort...am Ende der Straße sah sie breitschultrige Gestalten patrouillieren. Ariana blieb stehen und sah sich um. Neben ihnen befand sich ein großer Gemüseladen mit einer Menge Kisten, Markisen und zertretenen Tomaten. In der Hektik des Jagdrufs, hatte das Geschäft geschlossen und lag dunkel und verwaist da. Den Tüten in den Händen des Mädchens nach zu urteilen, war sie eben noch dort einkaufen gewesen. Ariana zerrte Kaden hinter die leeren Kisten. Die Werwölfe kamen aus der anderen Richtung. Vielleicht würden sie verwirrt ihrem Geruch den falschen Weg entlang folgen.
Kaden zitterte neben ihr. Die Werwolf-Wachen rannten die Straße entlang und trafen dann bei der Weggabelung aufeinander. Sie wurden langsamer. Es sah grotesk aus wie sie in ihrer Menschengestalt versuchte eine Witterung aufzunehmen. Fünf von ihnen.
Ariana wurde kalt, aber sie spannte nur ihre Muskeln an. Ihre Magie war eine wilde Gewitterwolke in ihrer Brust. Blitze zuckten daraus hervor, gefährlich und ungezähmt. Sie konnte vielleicht zwei von ihnen damit zu Boden bringen. Drei wenn sie einen in den anderen warf. Die anderen musste sie irgendwie...
„Geht weiter. Bitte, geht weiter", wimmerte Kaden neben ihr. Sein Jammern kümmerte sie nicht. Sie musste sich konzentrieren. Sie hatte gerade erst einen Schwächeanfall und konnte sich deswegen keine weiteren Fehler mehr erlauben. Warum war sie heute nur so unbedacht mit ihren Kräften umgegangen? Die Muskeln in ihrer Hand begannen zu zucken und sie sah zufrieden auf die kleinen Blitze hinab.
Die Werwölfe gingen langsam weiter. Einer von ihnen drehte sich zu den Häusern, sein Blick blieb beim Gemüseladen hängen.
Aufgeregt sprang Emiras Freundin in Arianas Sichtfeld. Sie hüpfte direkt vor die Wachen, wie ein kleines Kind, das seiner Mutter unbedingt von einer ganz wichtigen Sache erzählen musste. Ein heißer Schauer der Wut jagte Arianas Rücken herab und sie stellte sich auf das Schlimmste ein.
„Ich hab sie genau gesehen!" Ihre Stimme war so unglaublich laut und unangenehm. Die Zähne der Beschwörerin schmerzten davon, dass sie sie aufeinanderbiss. Emiras Freundin hob ihren Arm und zeigte, mit dem ganzen Selbstbewusstsein eines Menschen, der etwas wusste, was die anderen nicht wussten, die Straße hinab, die sie gekommen waren. „Sie sind da lang gelaufen!"
Ohne etwas zu sagen, ohne es überhaupt in Frage zu stellen, hetzten die Wachen weiter. Ihr Heulen erfüllte die Nacht.
Emiras Freundin lächelte, als wäre sie äußerst zufrieden, fasste ihre Einkaufstüte etwas fester, drehte sich um und ging einfach davon.
Verwirrt starrte Ariana zur leeren Straße und versuchte herauszufinden, was gerade passiert war.
„Was?", fragte die Beschwörerin ins Nichts hinein und sah Stellas Schwester hinterher, die den rechten Weg entlang spazierte und schon bald in der Dunkelheit verschwunden war.
Kaden blickte zu ihr. Seine Augenbrauen hochgezogen, als könnte er nicht glauben, dass sie so etwas aus der Fassung brachte.
„Du hast doch ihre kleine Schwester gerettet", erklärte er ihr, als könnte sie das je vergessen. „Ich...müssen wir nicht weiter?"
Die Straßen hier waren viel zu hell, also kürzte Ariana immer wieder durch dunkle Nebenstraßen ab, durch die Kaden, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nie im Leben freiwillig gegangen wäre.
„Es ist so leer", wisperte er schließlich.
Sie hing noch immer den Gedanken um Emiras Freundin nach. Sie hatte mal ihren Namen gewusst. Ganz sicher.
„Natürlich ist es leer! Die Wachen haben zur Jagd gerufen. Jeder, der bei Verstand ist, verschanzt sich zu Hause und lässt niemanden rein, den er nicht kennt. Und nicht mal die. Alle Werwölfe und bestimmt auch einige der Speichellecker des Rates rennen jetzt durch Enrhym und suchen uns."
Kadens ungesunde Hautfarbe wurde wenn möglich noch etwas ungesunder. Er zog seinen Kopf tiefer zwischen seine Schultern.
Das Heulen hinter ihnen ließ sie zusammenzucken. Ariana rannte los. Kaden folgte ihr schnaufend.
Sie hetzten durch die Stadt, hinter ihnen das Jaulen der Wächter, vor ihnen die gespenstisch leeren Straßen. Ariana wurde kein bisschen unruhig, aber Kaden winselte vor Angst. Enrhyms Innenstadt war ein Labyrinth aus Gängen, bunten Steinen und Gassen.
Der Chemiker packte sie unvermittelt und sie wurden gerade noch so langsamer bevor ein großer Mann ihnen in den Weg trat. Kaden quietschte auf. Sie bogen ab und quetschten sich durch einen winzigen Spalt zwischen zwei Wänden. Rechts von ihnen hörten sie schwere Schritte. Sie rannten weiter.
Sackgasse.
Sie rannten zurück. Das Jaulen der Werwölfe.
Ariana machte sich für den Kampf bereit.
„Da lang!"
Kaden rannte plötzlich los. Sie erschrak und folgte ihm.
Er schlug ein zerfetztes Tuch zur Seite und die Beschwörerin trat verwundert in einen kleinen, engen Hinterhof. Müll stand in den Ecken, ein kleiner, verkrüppelter Baum wuchs aus der unebenen Erde und die Fenster im Erdgeschoss waren mit Stahlgittern verbarrikadiert. Das schwache Licht einer angrenzenden Straßenlaterne tauchte den winzigen Platz in einen orangenen Schein.
„Das ist ja eine Sackgasse! Kaden!" Ariana sah fassungslos die steilen Häuserwände hinauf. Da hochzuklettern wäre selbst für sie schwierig und für Kaden damit so gut wie unmöglich.
„Hier...hier war ein...roter Hund."
Entrüstet sah sie zu ihm. „Ein roter Hund? Bist du denn..."
Das Knurren ließ sie herumfahren. Ein großer, hellhäutiger Mann stand direkt hinter ihnen und versperrte damit den einzigen Ausgang. Er trug nicht einmal die Uniform der Stadtwachen, sondern ganz normale, schwarze Sachen. Ariana stellte sich in Kampfposition, Kaden drückte sich zitternd hinter sie. Strom knisterte in ihren Haaren. Mit einem wurde sie fertig, ganz sicher. Sie holte zitternd Luft und spürte wie ihr schwindelig wurde. Schwarze Punkte zerrten an den Rändern ihres Blickfeldes, aber sie würde sich nichts anmerken lassen.
Unvermittelt stürzte sich ein schwarzer Schatten von den Dächern auf den fremden Mann und riss ihn brutal zu Boden. Ariana sprang zurück, die Arme ausgebreitet. Sie zuckte zusammen, als das Phantom den Schädel des Werwolfs packte und ihn brutal auf die Erde schlug.
Der Mann blieb reglos liegen und die Gestalt erhob sich. Sie war riesig und entgegen aller Erwartungen war es gar kein Monster, sondern ein...Mensch. Ariana musste ihren Kopf in den Nacken legen um der Person ins Gesicht sehen zu können und irgendwoher kannte sie sie. Irgendwo hatte sie schonmal ihre ganzen Piercings, diese kurzrasierten Haare und ihre dicke Brille gesehen.
Ja, genau! Das war diese Händlerin, mit der sich ihre kleine Schwester angefreundet hatte. Sie hatte ihr nun aber wirklich nicht ihren Namen gesagt, oder?
„Was...warum?" Die Fragen waren eigentlich egal und stotternd hörte sie sich an wie Kaden und das konnte sie gar nicht gebrauchen, also hob sie nur besonders bedrohlich ihre vor Elektrizität knisternden Hände.
„Ich habe gesehen, dass ihr Ärger habt", sagte die große Frau und horchte dann aufmerksam auf das Heulen der Werwölfe in der Ferne. „Ich kann es gar nicht fassen, dass sie Kinder jagen."
„Ich bin einundzwanzig!"
Die Fremde ging um sie herum. Ariana drehte sich so, dass sie sie im Blick behielt. Misstrauisch sah sie dabei zu, wie sie sich hinabbeugte und begann an etwas herum zu werkeln.
„Mein Name ist Myathraxadeuteraz Citlalli. Wir haben uns schon ein paar Mal getroffen. Ihr müsst keine Angst haben. Ich habe gesehen wie die Werwölfe gegen die Menschen vorgehen und werde euch helfen." Sie schob einen großen, runden Gullideckel zur Seite. „Ihr wart unterwegs in Richtung des Flusses, um eure Fährte zu verwischen, aber das hier geht auch. Die Kanalisation endet jenseits der Stadt, sodass ihr die Werwölfe loswerden könnt. Außerdem überdeckt sie auch gut meinen Duft." Kaden und Ariana tauschten einen kurzen Blick. Sie sah in seinen Augen das gleiche Misstrauen, das sie auch spürte. Die große Frau richtete sich auf, ihr langer Ohrring in Form einer achtstrahligen Sonne glänzte. Die drei starrten sich an. „Ihr könnt mich auch Mya nennen." Ihre Schreckstarre war gelöst, als ein weiterer Schrei die Luft zerriss. Ariana sprang zum Rand des Schachtes. Tiefschwarze Dunkelheit stierte ihr entgegen, noch dichter als die beginnende Nacht hier draußen. Eine nicht-vertrauenswürdig aussehende, rostige Leiter begann direkt unter ihr, aber verschwand schon nach wenigen Sprossen in der Finsternis. „Entscheidet euch bevor er wieder aufwacht!" Die große Frau musterte den bewusstlos geschlagenen Werwolf-Mann.
Der widerwärtige Gestank der Kanalisation biss in ihrer Nase, aber das würde er auch in denen der Werwölfe. Ariana seufzte. Sie hatten wohl keine Wahl. Entschlossen kletterte die Beschwörerin voran, akzeptierte das klebrige Nichts, was sich an sie heftete. Der Grund fühlte sich schleimig unter ihren Füßen an, aber sie riss sich zusammen, anders als Kaden, der würgen musste, als er endlich neben ihr stand. Er klammerte sich an sie wie ein verlorenes Kind an seine Mutter. Ariana verdrehte die Augen. Sie hörte das Knarzen des Gullideckels und dann versiegte das letzte bisschen Licht. Mya ließ sich zu ihnen herunter.
Ariana versuchte sich auf ihre anderen Sinne zu konzentrieren, nun, da sie kaum etwas sehen konnte. Neben ihnen rauschte Wasser und auch das Fiepen und Huschen von Ratten war zu hören. Es fühlte sich so an, als würde sich der Gestank direkt in ihr Gehirn ätzen. Nach ein paar Herzschlägen hatte sie sich an die Schwärze gewöhnt und konnte Schemen ausmachen. Viele Margar-Steine waren zu unrein, um verarbeitet zu werden, weswegen aus ihnen die Lichtquellen hergestellt wurden, die den Weg vor ihnen erhellten.
„Folgt mir!" Mya schritt wie selbstverständlich am Wasser entlang. Ariana spürte Kadens unsicheren Blick, aber sie nickte ihm nur aufmunternd zu. Sie konnte es nicht genau benennen, aber irgendwie vertraute sie der Fremden.
Die Kanalisation war aus riesigen Steinquadern gebaut, die jedoch mit einem widerlichen grün-braunen Schleim überzogen waren. Eine Ratte, fast so groß wie eine Katze, quietschte sie böse an, als sie aus Versehen auf sie trat und am liebsten hätte sie Blitze auf das Ungeziefer geworfen. Aber nein, sie musste ihre Kräfte sparen. Wenn sie wirklich durch die Abwasserkanäle der Stadt abhauen konnten, musste sie sich erstmal keine Gedanken mehr über Verfolger machen. Und dann...Craycarasz lag am anderen Ende des Landes und damit am anderen Ende des Kontinents. Sie fragte sich ob sie auf einen Zug aufspringen konnten. Ja, das musste gehen und dann...
Kaden stieß sie unsanft in die Rippen und riss Ariana damit aus ihrer Planung. Zitternd war er stehengeblieben und verwirrt tat sie es ihm nach. Seine Augen waren aufgerissen, sein Gesicht hatte alle Farbe verloren und sein Mund stand offen, als er fassungslos seinen Arm hob, um vor sich zu deuten. Die ganze Nacht verlief wohl stressiger, als alles was er je in seinem Leben durchgemacht hatte, aber so komplett aufgelöst hatte er noch nie ausgesehen. Mit einem unguten Gefühl drehte sie sich in die Richtung seines Fingerzeigs.
Sie sah zuerst gar nicht was ihn so aus der Fassung brachte. Vor ihnen war nur dieser mies erleuchtete Gang, neben ihnen das plätschernde Wasser und überall nur ziemlich ranzige Ratten. Er deutete auf die fremde Händlerin und dann sah sie es im Schimmer der Margar-Steine. Das Zucken der spitzen Ohren, die aus ihrem Schädel wuchsen.
„Ach verdammte Scheiße!" Ariana sprang vor Kaden. Hätte sie doch bloß den verdammten Werwolf alleine fertig gemacht. Der war wenigstens nicht zwei Meter groß. Mya blieb überrascht stehen und drehte sich zu ihnen herum, als wüsste sie nicht, was los war. „Was bist du?"
„Sie ist ein Werwolf!", schrie Kaden panisch. „Ich dachte du kennst sie!"
Die Beschwörerin traute sich nicht ihre Augen von der Fremden zu nehmen. „Ich? Warum soll ich sie denn kennen? Ich dachte sie gehört zum Widerstand!"
„Du kennst doch immer alle! Und nun ist sie ein Werwolf!" Kaden hob den Metallstab, den er immer noch mit sich schleppte. Seine Hände bebten.
Mya blinzelte ruhig. „Ich gehöre zu keinem Widerstand. Ich will euch nur helfen." Ihre Stimme war ein sanftes Summen, vollkommen fehl am Platze hier unten. Sie blieb ganz locker stehen und machte auch keine Anstalten näher zu kommen. Ariana traute dem Frieden nicht. „Und ich bin auch kein Werwolf."
„Und was ist...was ist das dann?"
Myas spitze Ohren zuckten. Erst jetzt sah Ariana, dass ihre ganzen Stecker und auch der lange Ohrring immer noch in ihrem Fell glänzten. Das war ungewöhnlich, normalerweise verschwand Schmuck. Normalerweise verschwand aber auch der ganze Rest des Menschen.
„Werwölfe können nicht nur Teile von sich verwandeln. Sie werden gnadenlos in ihre Bestienform gezwungen. Ich bin eine Grenzgängerin. Ein Mähnenwolf."
„Ein Mähnenwerwolf?", wiederholte Ariana unsicher.
„Ich bin kein Werwolf."
„Sondern? Warum solltest du uns helfen wollen?"
„Weil ich eine Sonnenverehrerin bin."
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